Leitsatz (amtlich)

Die Vorschriften des SGG § 62, SGG § 107 und SGG § 128 Abs 2 betreffen nur das gerichtliche Verfahren. Ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des SGG § 162 Abs 1 Nr 2 liegt daher nicht vor, wenn ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit sein Urteil auf ein im Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung erhobenes Gutachten stützt, das einem Beteiligten nicht zur Kenntnis gebracht worden ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Das Vorbringen des Klägers, das Berufungsgericht hätte einem Gutachten das ein Parteigutachten sei, keine entscheidende Bedeutung beimessen dürfen, ist nicht geeignet, eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung darzutun.

Die Gerichte sind nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, die ihnen im Rahmen des Vorbringens der Beteiligten vorgelegten Gutachten zu Würdigen; denn sie haben sich ihre richterliche Überzeugung nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu bilden.

 

Normenkette

SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 107 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 11. Oktober 1957 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger hat gegen das vorbezeichnete, am 29. November 1957 zugestellte Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG.) frist- und formgerecht Revision eingelegt; als Rechtsanwalt kann er vor dem Bundessozialgericht (BSG.) auch in eigener Sache rechtswirksam Prozeßhandlungen vornehmen (BSG. 5 S. 13 = SozR. SGG § 166 Bl. Da 4 Nr. 13). Das LSG. hat in dem angefochtenen Urteil die Revision nicht zugelassen. Sie findet daher nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) und auch vorliegt (BSG. 1 S. 150), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG). Der Kläger rügt eine Verletzung der §§ 62, 107, 128 SGG.

Nach § 62 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren. § 107 SGG schreibt vor, daß den Beteiligten entweder eine Abschrift der Niederschrift der Beweisaufnahme oder deren Inhalt mitzuteilen ist. Bei den §§ 62, 107 SGG handelt es sich um Vorschriften, die lediglich das gerichtliche Verfahren betreffen. Dies ergibt sich eindeutig aus ihrer Stellung im Sozialgerichtsgesetz. Auch ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann nur ein Mangel des gerichtlichen Verfahrens sein (BSG. in SozR. SGG § 162 Bl. Da 8 Nr. 41). Der Kläger rügt, das Berufungsgericht habe gegen die Vorschriften der §§ 62, 107 SGG verstoßen, weil es ihm keine Kenntnis von dem Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. S... vom 23. Oktober 1953 gegeben habe, auf das es im wesentlichen seine Entscheidung gestützt habe. Bei der Datumsangabe - in bezug auf das in Frage stehende Gutachten - in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils handelt es sich jedoch offensichtlich um einen Schreibfehler, da Dr. S... dieses Gutachten schon am 23. Oktober 1951 erstattet hat. Das Berufungsgericht war deshalb nach den §§ 62, 107, 128 Abs. 2 SGG nicht verpflichtet, dem Kläger ein nicht im gerichtlichen, sondern im Verwaltungsverfahren erhobenes Gutachten zur Kenntnis zu bringen. Insoweit stand es dem Kläger frei, durch Einsichtnahme in die Versorgungsakten sich Kenntnis von deren Inhalt zu verschaffen. Daß der Kläger dies hätte tun können, mußte ihm als Rechtsanwalt auch bekannt sein. Jedenfalls kann er insoweit nicht eine Versagung des rechtlichen Gehörs durch das Berufungsgericht rügen, da die Vorschriften der §§ 62, 107 SGG auf ein im Verwaltungsverfahren erstattetes Gutachten keine Anwendung finden können. Eine Verletzung dieser Vorschriften liegt somit nicht vor.

Der Kläger macht ferner dem Sinne nach geltend, daß das LSG. den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) verletzt habe. Die Rüge einer unrichtigen oder nicht erschöpfenden Beweiswürdigung betrifft jedoch nicht den Gang des Verfahrens, sondern den Inhalt der getroffenen Entscheidung. Eine fehlerhafte Beweiswürdigung stellt daher keinen Verfahrensmangel, sondern einen Mangel in der Urteilsfindung dar. Ein Mangel des Verfahrens ist bei einer aus § 128 SGG hergeleiteten Rüge nur dann gegeben, wenn das Berufungsgericht die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten hat. Insoweit kommt insbesondere ein Verstoß gegen die Erfahrungssätze des täglichen Lebens oder gegen die Denkgesetze in Betracht. Ein solcher Verstoß ist jedoch im vorliegenden Falle nicht erkennbar. Insbesondere ist das Vorbringen des Klägers, das Berufungsgericht hätte dem Gutachten des Dr. Stenger, das ein Parteigutachten sei, keine entscheidende Bedeutung beimessen dürfen, nicht geeignet, eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung darzutun. Die Gerichte sind nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, die ihnen im Rahmen des Vorbringens der Beteiligten vorgelegten Gutachten zu würdigen; denn sie haben sich ihre richterliche Überzeugung nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens zu bilden (§ 128 Abs. 1 SGG). Die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts ist somit auch nicht unter dem Gesichtspunkt zu beanstanden, daß es seine Entscheidung im wesentlichen auf die Gutachten des Dr. S... vom 23. Oktober 1951 gestützt hat (vgl. hierzu auch BSG. in SozR. SGG § 118 Bl. Da 1 Nr. 3). Eine Verletzung des § 128 Abs. 2 SGG liegt - wie bereits oben ausgeführt - deswegen nicht vor, weil das LSG. das im Verwaltungsverfahren erstattete Gutachten des Dr. S... dem Kläger, der Einsicht in die Versorgungsakten hätte nehmen können, nicht besonders zur Kenntnis geben mußte. Die Statthaftigkeit der Revision kann daher nicht aus einer Verletzung des § 128 SGG hergeleitet werden.

Da somit ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht vorliegt und der Kläger eine Gesetzesverletzung bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG nicht gerügt hat, war die Revision nach § 169 Satz 2 SGG als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2314111

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