Leitsatz (amtlich)

Greifen bei einer nicht zugelassenen Revision die erhobenen Verfahrensrügen nicht durch, so kann das Revisionsgericht nicht prüfen, ob durch die vom Revisionskläger einseitig abgegebene Erledigungserklärung die Hauptsache erledigt ist; die Revision muß vielmehr als unzulässig verworfen werden (Anschluß an BVerwG vom 1969-10-30 - VIII C 219/67 = NJW 1970, 722).

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 11. Juni 1969 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger hat im Erörterungstermin vom 25. Juli 1969 vor dem Landessozialgericht (LSG) die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) Freiburg vom 29. Oktober 1968 zurückgenommen, durch das seine Klage als unzulässig abgewiesen worden ist, weil der Rechtsstreit durch den gerichtlichen Vergleich vom 25. Juni 1968 erledigt worden sei.

Das LSG hat daraufhin mit Urteil vom 20. November 1969 entschieden: "Der Rechtsstreit ist durch die Zurücknahme der Berufung erledigt."

Gegen dieses, dem Kläger am 25. Dezember 1969 zugestellte Urteil hat der Kläger durch einen beim Bundessozialgericht (BSG) zur Vertretung zugelassenen Prozeßbevollmächtigten am 21. Januar 1970 Revision eingelegt und gleichzeitig beantragt, ihm für die Durchführung des Revisionsverfahrens das Armenrecht zu bewilligen und seinen Prozeßbevollmächtigten als Armenanwalt beizuordnen. Der Kläger hat die form- und fristgerecht eingelegte Revision auch rechtzeitig begründet (§§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Nach § 167 SGG i. V. m. § 114 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) kann einem Beteiligten das Armenrecht bewilligt werden, wenn er außerstande ist, ohne Beeinträchtigung des für ihn und seine Familie notwendigen Unterhalts die Kosten des Prozesses zu bestreiten, und die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Es kann dahinstehen, ob der Kläger nach dem von ihm vorgelegten Zeugnis zur Erlangung des Armenrechts ohne Beeinträchtigung seines und seiner Familie notwendigen Unterhalts in der Lage ist, die Kosten des vorliegenden Rechtsstreits zu bestreiten. Jedenfalls bietet die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Das LSG hat die Revision nicht gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen. Sie ist deshalb nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder einer Berufskrankheit das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG; BSG 1, 254).

Der Kläger rügt: Das LSG habe den Sachverhalt ungenügend aufgeklärt (§ 103 SGG). Es sei zu Unrecht davon ausgegangen, daß bei ihm zur Zeit der Abgabe seiner Erklärung, er nehme die Berufung zurück, keine Störung der Geistestätigkeit vorgelegen habe, die ihn gehindert habe, eine rechtswirksame Erklärung abzugeben. Er habe zwei fachärztliche Atteste des Dr. Boetticher vom 15. Oktober 1968 und 6. Dezember 1968 vorgelegt, nach denen er nicht einmal in der Lage sei, einem Gedankengang längere Zeit zu folgen. Erst recht hätte ein Sachverständigengutachten den Beweis dafür erbracht, daß er auch beim Vergleichsabschluß vom 25. Juni 1968 keine wirksame Erklärung abgegeben habe. Beim Vorliegen der genannten Voraussetzungen sei er auch nicht in der Lage gewesen, das Prozeßgeschehen mit der notwendigen Aufmerksamkeit zu verfolgen, die Vorgänge deutlich zu erkennen und richtige Schlüsse daraus zu ziehen. Das LSG habe somit auch gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) verstoßen.

Bei diesen Rügen übersieht der Kläger, daß das Urteil des SG dadurch rechtskräftig geworden ist, daß er im Erörterungstermin vom 25. Juli 1969 die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung zurückgenommen hat. Diese Zurücknahme der Berufung bewirkt gemäß § 156 Abs. 2 SGG den Verlust des Rechtsmittels schlechthin (BSG in SozR Nr. 4, 5 zu § 156 SGG). Die Behauptung des Klägers in seiner Revisionsbegründung, er sei bei der Zurücknahme der Berufung und auch schon im früheren Stadium des Prozeßverfahrens prozeßunfähig gewesen, ändert nichts daran, daß das Urteil des SG Rechtskraft erlangt hat. Das zu Ungunsten des Klägers ergangene Urteil des SG ist, wenn er bei Rücknahme der Berufung prozeßunfähig war, in gleicher Weise rechtskräftig geworden, wie wenn er prozeßfähig war. War der Kläger bei Rücknahme der Berufung gegen das Urteil des SG prozeßunfähig, wie er jetzt behauptet, so bleibt ihm für die gerichtliche Verfolgung seiner Rechte nur die Möglichkeit der Nichtigkeitsklage gemäß § 179 Abs. 1 SGG i. V. m. § 579 Abs. 1 Nr. 4 ZPO (hierzu BVerwG, NJW 1964, 1819; BGH in Lindenmaier/Möhring, Nr. 3 zu § 52 ZPO; Nr. 9 zu § 586 ZPO; Baumbach/Lauterbach, Zivilprozeßordnung § 52 Anm. 1, B). Dieser im Zivilprozeß und im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbarkeit allgemein anerkannte Grundsatz gilt auch für das Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit (§ 202 SGG). Dem steht nicht entgegen, daß die Wirkung der Berufungsrücknahme, wie in der bereits angeführten Entscheidung des BSG, SozR Nr. 4 zu § 156 SGG, dargelegt wurde, in § 156 Abs. 2 SGG teilweise anders ausgestaltet worden ist als in § 515 Abs. 3 ZPO und in § 126 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung.

Ob das dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfahren an einem wesentlichen Mangel leiden würde, wenn das LSG bei Entgegennahme der Berufungsrücknahme oder im nachfolgenden Verfahren gegen seine Verpflichtung, die Prozeßfähigkeit des Klägers von Amts wegen zu prüfen (§ 71 Abs. 6 SGG i. V. m. § 56 Abs. 1 ZPO) verstoßen, insbesondere es unterlassen hätte, ein ärztliches Gutachten einzuholen, obwohl dies geboten gewesen wäre, bedarf nicht der Entscheidung. Die Revision hat nicht ausreichend deutlich gemacht (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG), inwiefern sich das LSG auf Grund der Atteste des Dr. B hätte gedrängt fühlen müssen, an der Prozeßfähigkeit des im Erörterungstermin vom 25. Juli 1969 ihm "zu keiner Zeit desorientiert" erschienenen Klägers zu zweifeln und dieserhalb einen Arzt als Sachverständigen zu hören. Das LSG ist daher zu Recht, ohne gegen Vorschriften des Verfahrensrechts verstoßen zu haben, zu dem Ergebnis gelangt, daß der Rechtsstreit durch die vom Kläger erklärte Zurücknahme der Berufung erledigt ist.

Soweit der Kläger vorträgt, seine Klage sei auch sachlich begründet, wendet er sich nicht gegen das Verfahren des LSG. Dieses Vorbringen kann schon deshalb die Revision aus § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht statthaft machen.

Nach alledem ist die Revision nicht statthaft. Deshalb muß das beantragte Armenrecht versagt werden. Die Revision ist nach § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668975

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