Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen für die Zulassung einer Sprungrevision

 

Leitsatz (redaktionell)

Ist eine - nach dem Jahre 1976 - vom Kammervorsitzenden des SG nachträglich ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter beschlossene Zulassung der Sprungrevision für das BSG bindend?

 

Normenkette

SGG § 161 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-07-30

 

Tenor

Es wird dem Großen Senat des Bundessozialgerichts gemäß § 42 Sozialgerichtsgesetz folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

"Ist eine - nach dem Jahre 1976 - vom Kammervorsitzenden des Sozialgerichts nachträglich ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter beschlossene Zulassung der Sprungrevision für das Bundessozialgericht bindend?"

 

Gründe

I

1. Die Klägerin har im Februar 1975 nach der Abgabe ihres landwirtschaftlichen Unternehmens sich gem § 27 des Gesetzes über eine Altershilfe für Landwirte (GAL) zur Weiterentrichtung von Beiträgen verpflichtet. Im Dezember 1975 heiratete sie einen Landwirt, der für das von ihm betriebene landwirtschaftliche Unternehmen Beiträge zur landwirtschaftlichen Alterskasse zahlt. Die Beteiligten streiten darüber, ob die gem § 27 GAL begründete Beitragspflicht der Klägerin auch nach der Eheschließung fortbesteht.

Das Sozialgericht (SG) Bayreuth hat durch Urteil vom 12. April 1978 die eine Fortdauer der Beitragspflicht bejahenden Bescheide der Beklagten aufgehoben und festgestellt, die Beitragspflicht der Klägerin habe am 31. Dezember 1975 geendet. Nach den Entscheidungsgründen hielt die Kammer "nicht ohne erhebliche Bedenken die Klage für begründet". Die nach § 27 GAL abgegebene Willenserklärung sei nur unter den Voraussetzungen der §§ 119, 123 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) anfechtbar, die hier nicht vorlägen. Trotzdem sprächen verschiedene Gründe für die Auffassung der Kammer: Die Klägerin sei nicht auf die Unwiderruflichkeit ihrer Erklärung hingewiesen worden; ihr könne bei Weiterentrichtung von Beiträgen ein Schaden entstehen; der Wegfall der Beitragspflicht sei gerecht und billig, weil mit der Wiederheirat einer Witwe auch das Witwenaltersgeld entfalle.

Auf Antrag der Beklagten hat der Kammervorsitzende nachträglich durch Beschluß vom 18. Mai 1978 ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter gern § 161 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Revision - Sprungrevision - gegen das Urteil zugelassen.

Die Beklagte hat die Revision eingelegt; sie beantragt,

das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung materiellen Rechts.

Die Klägerin hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

2. Gemäß dem in der mündlichen Verhandlung vom 15. September 1978 gefaßten Beschluß hat der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) beim 3. und beim 12. Senat des BSG angefragt, ob sie an der in den Urteilen vom 14. Dezember 1976 - 3 RK 23/76 - und vom 1. März 1978 - 12 RK 14/77 - vertretenen Auffassung festhalten, daß eine allein vom Kammervorsitzenden des SG (ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter) ausgesprochene nachträgliche Zulassung der Revision nur für eine "Übergangszeit" von zwei Jahren - berechnet ab dem 1. Januar 1975, dem Tage des Inkrafttretens des SGG-Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974 - als wirksam angesehen werden könne. Der 12. Senat hat mit Beschluß vom 1. Februar 1979 seinen früheren Rechtsstandpunkt aufgegeben; der 3. Senat dagegen hat mit Beschluß vom 28. März 1979 an seiner Rechtsauffassung festgehalten.

Durchschriften der Anfrage und der Antworten sind als Anlagen 1 bis 3 diesem Vorlagebeschluß beigefügt; die Beteiligten des Rechtsstreits haben bereits Durchschriften erhalten.

II

1. Der 11. Senat legt mit diesem Beschluß nunmehr dem Großen Senat (GS) des BSG die im Tenor bezeichnete Rechtsfrage zur Entscheidung vor. Die Rechtsauffassung des 3. Senats besagt, daß eine nach dem Jahre 1976 vom Kammervorsitzenden, des SG ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter beschlossene Zulassung der Sprungrevision für das BSG nicht bindend (wirksam) ist. Der 11. Senat ist gegenteiliger Auffassung. Da er somit von der Entscheidung des 3. Senats vom 14. Dezember 1976 abweichen will, muß der GS gem § 42 SGG über die Rechtsfrage entscheiden.

Die Divergenz ist für den dem 11. Senat vorliegenden Rechtsstreit entscheidungserheblich. Von der Beantwortung der gestellten Rechtsfrage hängt die Entscheidung über die Zulässigkeit der von der Beklagten eingelegten Revision ab. Nur, wenn eine wirksame Zulassung vorliegt, ist die Revision der Beklagten zulässig und vom 11. Senat in der Sache zu entscheiden. Dabei ist noch darauf hinzuweisen, daß der 11. Senat mit Urteil vom 24. November 1978 in dem Verfahren 11 RLw 6/77 die Fortdauer einer nach § 27 GAL eingegangenen Beitragspflicht trotz späterer Eheschließung bejaht hat.

Der Anrufung des GS nach § 42 SGG steht nicht entgegen, daß sich die Divergenz zwischen dem 3. und dem 11. Senat bei der Entscheidung des 3. Senats vom 14. Dezember 1976 noch nicht auswirken konnte, weil in jenem Rechtsstreit der Zulassungsbeschluß noch in die "Übergangszeit" fiel. Sollte der GS des BSG jedoch hierin ein Hindernis für eine Vorlage nach § 42 SGG sehen, dann möchte der 11. Senat die Vorlage auf § 43 SGG stützen; die vorgelegte Rechtsfrage ist ohne Zweifel eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung; sie erfordert nach der Auffassung des 11. Senats zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des GS.

2. Die Entscheidung der vorgelegten Rechtsfrage setzt die Klärung voraus, in welcher Besetzung das SG über nachträgliche Zulassungsanträge zu entscheiden hat. Hierzu war es bis zur Antwort des 12. Senats vom 1. Februar 1979 einheitliche Rechtsprechung des BSG, daß die ehrenamtlichen Richter an diesen Beschlüssen mitwirken müssen. Demgegenüber hält nunmehr der 12. Senat allein den Kammervorsitzenden für zuständig. Der 11. Senat möchte jedoch weiterhin der früheren Rechtsprechung im Ergebnis folgen.

Dabei hält der 11. Senat allerdings für die Klärung der Besetzungsfrage die meisten hierzu bisher vorgetragenen Argumente kaum für aussagekräftig:

Der Wortlaut des § 161 SGG besagt über die Besetzung nichts. Das SGG kennt auch anders als die Verwaltungsgerichtsordnung (§ 5 Abs 3 Satz 1 VwGO) und das Arbeitsgerichtsgesetz (§ 53 Abs 1 Satz 1 ArbGG) keine allgemeine Vorschrift, daß bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung die ehrenamtlichen Richter nicht mitwirken. Daß in der Praxis der Verwaltungsgerichte der Vorsitzende über nachträgliche Zulassungsanträge allein entscheidet, muß daher nicht ebenso für die Sozialgerichte gelten, zumal noch nicht bekannt ist, welche Praxis die Arbeitsgerichte in der für sie neuen Zulassungsregelung entwickeln. Wenig überzeugend sind Analogie- oder Umkehrschlüsse aus Einzelvorschriften des SGG, nach deren Bestimmungen im einen Falle (§ 160a Abs 4 Satz 2 SGG) eine Beschlußfassung "unter Zuziehung der ehrenamtlichen Richter", ein anderes Mal (§ 169 Satz 3 SGG) "ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter" erfolgt; daraus läßt sich nach keiner Richtung eine Regel ableiten. Keine Bedeutung kann der 11. Senat der vom 5. Senat (SozR 1500 § 161 Nr 20) für erheblich erachteten Frage beimessen, ob der Zulassungsantrag eine "Sitzung" erfordert (zu diesem Begriff vergleiche §§ 110 Abs 2, 203a SGG).

Der 11. Senat vermag nicht dem 3. Senat darin zuzustimmen, daß die Entstehungsgeschichte eindeutig auf die Mitwirkung ehrenamtlicher Richter hinweise. Zwar hatte ein früherer Regierungsentwurf bestimmt, die Revision sei "vom Vorsitzenden" durch Beschluß zuzulassen. Das Weglassen dieser Worte im späteren, dem Änderungsgesetz von 1974 zugrunde liegenden Regierungsentwurf muß jedoch nicht besagen, der Gesetzgeber habe bei nachträglichen Zulassungsbeschlüssen des SG die Zuziehung der ehrenamtlichen Richter gewollt. Das Weglassen kann andere Gründe haben. Die beiden Regierungsentwürfe - nur um solche handelt es sich - lagen Jahre auseinander; der zweite Entwurf hat die Vorschrift über die Sprungrevision gegenüber dem ersten Entwurf mehrfach geändert; warum die Worte "vom Vorsitzenden" weggelassen wurden, ergeben sich Materialien nicht. Nach Meyer-Ladewig (§ 161 Anm 7), der im Bundesjustizministerium Referent für das Verfahrensrecht der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten ist, ist man davon ausgegangen, daß wie üblich bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung ehrenamtliche Richter nicht mitwirken. Soweit dem die Regelung des Änderungsgesetzes von 1974 über die Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter bei Entscheidungen des BSG über Nichtzulassungsbeschwerden (§ 160a Abs 4 Satz 2 SGG) entgegengehalten wird, kann auch daraus kaum ein zuverlässiger Schluß über den Willen des Gesetzgebers bei nachträglichen Zulassungsentscheidungen des SG gezogen werden, weil beide Beschlußarten zwar in den Zulassungsvoraussetzungen, nicht aber in den Wirkungen vergleichbar sind (vgl Meyer-Ladewig aaO).

Die Rechtsprechung des BSG hat indessen schon früh eine "Dreiphasentheorie" entwickelt (BSGE 1, 1 und 1, 36, 37), die weitgehend den Regelungen der §§ 5 Abs 3 Satz 1 VwGO, 53 Abs 1 Satz 1 ArbGG entspricht; danach wirken die ehrenamtlichen Richter an Beschlüssen mit, die innerhalb des eigentlichen Urteilsverfahrens gefaßt werden, nicht aber an Beschlüssen in den Verfahrensstadien zuvor und danach (hierbei ist BSGE 1, 1, 5 nicht so zu verstehen, als ob es sich bei den Beschlüssen im dritten Stadium stets nur um Beschlüsse zur Verwirklichung der getroffenen Entscheidung handeln dürfte). Die Frage ist somit, ob der nachträgliche Zulassungsbeschluß des SG noch dem eigentlichen Urteilsverfahren zuzurechnen ist. Der 11. Senat möchte das bejahen.

Auch insoweit hält er es freilich für bedenklich, aus den in § 140 SGG über die nachträgliche Ergänzung eines Urteils enthaltenen Bestimmungen Schlüsse zu ziehen, weil die nachträgliche Zulassung, zumindest im Regelfall, keine Ergänzung des ergangenen Urteils darstellt. Das SG muß sich schon bei seiner Urteilsfindung darüber schlüssig werden, ob es die Revision zuläßt oder nicht; diese Entscheiddung ist weder zeitlich noch inhaltlich in sein Ermessen gestellt. Wenn sich das SGr dabei gegen die Zulassung entscheidet, dann braucht es dies aber nicht in dem Urteil zu verlautbaren. Der Fall einer "übergangenen" Zulassungsentscheidung kann mithin nur ein Ausnahmefall sein.

Im Regelfall bedeutet ein nachträglicher Zulassungsbeschluß eine Änderung der im Urteil getroffenen Nichtzulassungsentscheidung. Das gilt ohne Rücksicht darauf, ob das Urteil einen Ausspruch über die Nichtzulassung der Revision enthält oder nicht. Die nachträgliche Revisionszulassung kann nämlich nicht auf die Fälle eines fehlenden Nichtzulassungsausspruchs beschränkt werden, weil sonst ohne einleuchtenden Grund nach einer gesetzlich nicht gebotenen, dem Gericht überlassenen Verfahrensweise differenziert würde. Zudem beruht das nachträgliche Zulassungsverfahren auf der Annahme, daß die Beteiligten möglicherweise erst aufgrund der schriftlichen Urteilsgründe Zulassungsgründe erkennen können; dieser Fall kann bei einem vorhandenen Nichtzulassungsausspruch im Urteil nicht minder wie bei einem fehlenden gegeben sein.

Bedeutet aber die nachträgliche Revisionszulassung somit im Regelfall die Korrektur einer bei der Urteilsfindung getroffenen Nichtzulassungsentscheidung, so muß dieser Gesichtspunkt für die Einordnung in das eigentliche Urteilsverfahren sprechen, zumal damit eine Entscheidung geändert wird, die unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter getroffen worden ist, selbst wenn es sich nur um eine Nebenentscheidung handelt. Daß gleichwohl in der Verwaltungsgerichtsbarkeit der Vorsitzende allein entscheidet, ließe sich damit rechtfertigen, daß in der Verwaltungsgerichtsbarkeit den ehrenamtlichen Richtern eine andere Stellung zukommt als in der Sozialgerichtsbarkeit (im Verhältnis zur Arbeitsgerichtsbarkeit wäre allerdings eine solche Rechtfertigung nicht mehr möglich).

3. Gleichwohl hält der 11. Senat entgegen der Auffassung des 3. Senats einen in falscher Besetzung allein durch den Vorsitzenden des SG gefaßten Zulassungsbeschluß nicht für unwirksam. Der 11. Senat nimmt insoweit Bezug auf die Begründung seiner Anfrage an den 3. und den 12. Senat. Er sieht auch nach der Antwort des 3. Senats keine Veranlassung, von der dort dargelegten Rechtsauffassung abzurücken.

Der 3. Senat hat sich zwar nun für eine Mittel- bzw Zwischenlösung ausgesprochen; danach soll das Revisionsgericht den Zulassungsbeschluß des Vorsitzenden aufheben und wohl das Revisionsverfahren bis zur erneuten Entscheidung des SG mit ehrenamtlichen Richtern über den Zulassungsantrag aussetzen; bei erneuter Zulassung wäre danach das Revisionsverfahren fortzusetzen, bei einer nunmehrigen Antragsablehnung dagegen offenbar einzustellen. Der 11. Senat möchte nicht auf die vielfältige Problematik eines solchen Verfahrens eingehen. Nach seiner Ansicht kann die in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung entwickelte Praxis bei einem nicht durchgeführten Widerspruchsverfahren hierfür kein Vorbild sein. Dort geht es darum, eine Abweisung der Klage als unzulässig zu vermeiden; der Kläger soll Gelegenheit erhalten, das Vorverfahren durchzuführen und den fehlenden Widerspruchsbescheid zu erlangen; auf den Inhalt dieses Widerspruchsbescheids kommt es nicht an; der Rechtsstreit wird unter Abschluß des Revisionsverfahrens an die Vorinstanz zurückverwiesen. Hier dagegen bliebe ein Revisionsverfahren in der Schwebe, das auf einem gerichtlichen Zulassungsbeschluß aufbaut; es würde ein schon vorhandener Zulassungsbeschluß aufgehoben, obwohl er nicht angefochten ist, weil sich die Sprungrevision nicht gegen ihn richtet.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665147

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