Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindeswohl vor Kindeswille. Sorgerechtsregelung: Übertragung der Alleinsorge für ein knapp acht Jahre altes Kind auf den in Frankreich lebenden Vater

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Leben die ganz oder in Teilbereichen gemeinsam sorgeberechtigten Eltern nicht nur vorübergehend getrennt, ist gemäß § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB auf Antrag – auch ohne die Zustimmung des anderen Elternteils – einem Elternteil die elterliche Sorge allein zu übertragen, wenn dies dem Kindeswohl am besten entspricht.

2. Bei einem knapp acht Jahre alten Kind ist langfristigen Kindeswohlinteressen dem aktuellen, ggf. auch verfestigten Kindeswillen gegenüber auch dann der Vorrang einzuräumen, wenn der bisher hauptsächlich betreuende Elternteil, bei dem das Kind bleiben will, nicht erziehungsungeeignet ist.

 

Normenkette

BGB § 1671

 

Verfahrensgang

AG Potsdam (Beschluss vom 04.06.2010)

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 16.03.2011; Aktenzeichen XII ZB 407/10)

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Vaters wird der Beschluss des AG - Familiengerichts - Potsdam vom 4.6.2010 abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Das Sorgerecht für das Kind J. C., geb. am ... Oktober 2002, wird unter Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge auf den Vater übertragen.

Die Mutter hat das Kind bis zum 29.8.2010 um 12:00 Uhr an den Vater herauszugeben.

Die Entscheidung ist sofort vollziehbar.

Für den Fall der Zuwiderhandlung kann gegen die Mutter ein Ordnungsgeld bis zu 25.000 EUR, ersatzweise Ordnungshaft festgesetzt werden. Die Anordnung unmittelbaren Zwangs durch einen gesonderten Beschluss bleibt vorbehalten.

Die Rechtsbeschwerde zum BGH wird zugelassen.

Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.

 

Gründe

I. Die jetzt 7 Jahre alte J. wurde als Kind der nicht miteinander verheirateten Eltern, der Vater französischer und die Mutter deutscher Nationalität, in Frankreich geboren. Die Eltern trennten sich alsbald nach der Geburt. In der Folgezeit stritten sie in Frankreich darum, ob das Kind beim Vater in Frankreich verbleiben und dort aufwachsen solle oder ob die Mutter, die nach der Trennung nach Deutschland in die Nähe ihrer Herkunftsfamilie in ... bei B. zurückkehren wollte, das Kind mitnehmen dürfe. Die mit der Sache befassten französischen Gerichte entschieden diese Frage im Sinne der Mutter; zugleich ordneten sie die gemeinsame Ausübung der elterlichen Sorge sowie ein umfassendes Umgangsrecht des Vaters mit dem Kind (regelmäßige Besuche des Vaters am Aufenthaltsort des Kindes in Deutschland; großzügiger Ferienumgang in Frankreich) an.

Dem Senat sind die Eltern (aus dem Verfahren 15 UF 53/05) seit 2005 bekannt. In jenem Verfahren ging es um die Anerkennung insbesondere der Entscheidung der französischen Gerichte zum Umgangsrecht nach dem Europäischen Übereinkommen vom 20.5.1980 (Europäisches Sorgerechtsübereinkommen). Hintergrund des Verfahrens war, dass die Mutter im Dezember 2003, unmittelbar nach ihrer Rückkehr nach Deutschland, beim AG Potsdam - 41 F 381/03 - eine weitgehende Beschränkung des Umgangs beantragt hatte, weil der von den französischen Gerichten angeordnete Umgang wegen der mit ihm verbundenen relativ häufigen Reisen des Kindes nach Frankreich dem Kindeswohl nicht entspreche, und in der Folgezeit Umgang tatsächlich nur sehr eingeschränkt stattgefunden hatte. Das Verfahren endete im Senatstermin vom 6.6.2005 nach mehrstündiger Verhandlung mit einer umfassenden Vereinbarung der Eltern zum Sorge- und Umgangsrecht, die der Senat durch am Schluss der Sitzung verkündeten Beschluss bestätigt und damit im Verhältnis zwischen den Eltern rechtsverbindlich gemacht hat. Die Vereinbarung hat in ihren Kernpunkten den folgenden Wortlaut:

1. Wir sind uns darüber einig, dass wir gemeinsam das Sorgerecht für unsere Tochter J. behalten und es weiterhin gemeinsam ausüben. Wir sind uns insbesondere darüber einig, dass die vom Berufungsgericht Versailles am 23.10.2003 - Az. 03/02996 - unter Ziff. 1 getroffene Entscheidung zwischen uns in vollem Umfange Gültigkeit hat.

2. Wir sind uns weiter darüber einig, dass wir gemeinsam das Aufenthaltsbestimmungsrecht haben. Wir üben es gemeinsam dahingehend aus, dass der gewöhnliche Aufenthalt von J. bei der Kindesmutter ist.

3. Wir sind uns darüber einig, dass J. wenn irgend möglich bereits im Kindergarten und/oder in der Schule zweisprachig, das heißt deutsch/französisch erzogen werden soll. Die Kindesmutter wird alle Möglichkeiten, die in ihrem Wohnbereich im engeren und im weiteren bestehen, hierzu eruieren und sich hierüber mit dem Vater abstimmen.

Es folgt eine umfangreiche Umgangsregelung, die im Wesentlichen zum Gegenstand hat, dass J. ab Oktober 2005 bis zu ihrer Einschulung monatlich 10 Tage beim Vater in Frankreich verbringen sollte (dies ist - soweit ersichtlich - bis zur Einschulung im Jahre 2008 auch so praktiziert worden). Für die Zeit danach enthält die Vereinbarung die folgende Erklärung:

Die vorstehenden Regelungen zum Umgang sind fest vereinbart, bis J. eingeschult wird. Sie sollen danach sinngemäß unter Berücks...

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