1. Aufrechnung, allgemein

 

Rn 1

Während die §§ 387 ff. BGB die gegenseitige Aufrechnung zwischen Gläubiger und Schuldner regeln, regeln die Vorschriften der §§ 94 ff. InsO nur die Aufrechnung aus Sicht des Insolvenzgläubigers.

Ist das Finanzamt Insolvenzgläubiger, so ist Hauptforderung die Verbindlichkeit des Finanzamts, also der Erstattungsanspruch des Schuldners, und Gegenforderung die Forderung des Finanzamts, also die Steuerschuld des Schuldners.

Die §§ 94 ff. InsO bewirken den Schutz der Insolvenzmasse, soweit sich Masseanspruch, auch Anfechtungsanspruch und Insolvenzforderung gegenüberstehen.

§ 95 InsO bestimmt dabei den Eintritt der Aufrechnungslage für die Gegenforderung.

§ 96 InsO bestimmt das Verbot der Aufrechnung in Bezug auf die Hauptforderung.

 

Rn 2

Mit den Grundsatzentscheidungen des BFH in den Jahren 2009 und 2010[1] hat dieser konkretisiert, dass Steuerforderungen insolvenzrechtlich erst dann begründet sind, wenn der Steuertatbestand vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen ist. Dies führt zu einer zeitlichen Verlagerung im Sinne einer späteren Begründetheit in Richtung nach Insolvenzeröffnung. Ist der Lebenssachverhalt, der einen Steuertatbestand auslöst, zwar vor Insolvenzeröffnung begonnen, aber der daraus folgende Steuertatbestand erst nach Insolvenzeröffnung vollständig verwirklicht und abgeschlossen, so löst die Steuerverbindlichkeit eine Masseschuld aus und ein Steuererstattungsanspruch wird erst nach Insolvenzeröffnung zur Insolvenzmasse geschuldet.

Dadurch entstehen im Vergleich zur früheren Rechtsprechung vermehrt Aufrechnungsverbote gem. §§ 95, 96 InsO.

2. § 95 Abs. 1 Satz 1 und 3 InsO: Zeitpunkt der Aufrechnungslage

 

Rn 3

Rechtlich unproblematisch sind in der Regel die Aufrechnungsverbote gem. § 95 Abs. 1 Satz 1 und 3 InsO, die nur den Zeitpunkt der Aufrechnungslage der gegenseitigen Forderungen verschieben.

Die Fälligkeit von Steuerforderungen ist den Steuergesetzen unschwer zu entnehmen und setzt eine üblicherweise zeitlich vorausgehende Begründetheit voraus.

 

Rn 4

Die Rechtsprechung, dass es sich in Berichtigungsfällen gem. § 17 Abs. 2 UStG um aufschiebend bedingte Steuertatbestände handelt, die mit der Leistungserbringung begründet sind, ist überholt[2], siehe Rn. 6.

 

Rn 5

In Aufrechnungsfällen ist stets zu berücksichtigen, dass sich ein umsatzsteuerlicher Erstattungsanspruch erst nach einer Zwangsverrechnung gem. § 16 Abs. 2 UStG ergeben kann. Die einzelnen Steuertatbestände aus positiver und beispielsweise in Fällen der Berichtigung negativer Umsatzsteuer sowie Vorsteuer sind lediglich unselbstständige Besteuerungsgrundlagen, also bloße Rechnungsposten, deren Saldierung zu einem Steueranspruch oder einer Steuererstattung führen. Eine Aufrechnung kann nur mit einem derartigen Saldo erfolgen.[3]

3. § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO: etwas zur Masse schuldig werden

 

Rn 6

Steuerforderungen werden der Masse nicht erst dann geschuldet, wenn sie entstanden oder gar fällig sind, sondern wenn sie begründet sind. Die Begründetheit einer Steuerforderung gem. § 38 InsO ist gleichbedeutend mit dem "schuldig werden" gem. § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO.[4]

Für die insolvenzrechtliche Begründung des Anspruchs genügte, dass die Forderung ihrem Kern nach bereits vor Insolvenzeröffnung begründet ist. Dies ist der Fall, wenn der Sachverhalt der zur Entstehung der Steuer führt, vor Insolvenzeröffnung begründet wurde.[5]

Bisher war der Berichtigungsanspruch gem. § 17 Abs 2 UStG wegen Uneinbringlichkeit bereits mit der Leistungserbringung aufschiebend bedingt begründet und führte wegen des negativen Umsatzsteuerbetrages zu einer Umsatzsteuerkürzung im Veranlagungszeitraum der Leistungserbringung, gegebenenfalls zu einem Erstattungsanspruch mit dem gem. § 95 Abs. 1 InsO aufgerechnet werden konnte. Diese Rechtsprechung stand jedoch im Widerspruch zur geänderten Rechtsprechung des BFH in den Jahren 2009 und 2010, wonach es nicht genügte, dass die Forderung ihrem Kern nach bereits begründet war, sondern dass der steuerliche Tatbestand vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen sein muss.

Um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu wahren, hat der BFH seine bisherige Rechtsansicht aufgegeben.

Tritt in Berichtigungsfällen gem. § 17 Abs. 2 UStG die Uneinbringlichkeit der Forderung nach Insolvenzeröffnung ein, so ist der Berichtigungsanspruch erst nach Insolvenzeröffnung zur Masse schuldig geworden und kann nicht Gegenstand der Aufrechnung sein.[6] Nunmehr ist in Übereinstimmung mit der sonstigen Insolvenzrechtsprechung des BFH der Tatbestand der Berichtigung erst mit Eintritt der Uneinbringlichkeit der Forderung vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen. Die Begründetheit der Forderung tritt erst mit Uneinbringlichkeit ein. Entscheidend ist, wann der materiellrechtliche Berichtigungstatbestand gem. § 17 Abs. 2 verwirklicht ist.[7] Erst zu diesem Zeitpunkt wird das Finanzamt die Forderung zu Masse schuldig. Die Änderung der Besteuerungsgrundlage, also die Umsatzsteuerkürzung, ist damit im Voranmeldungszeitraum d...

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