Verfahrensgang

OLG München

 

Tatbestand

Der Kläger macht wegen eines Verkehrsunfalls Ansprüche aus einem mit der Beklagten geschlossenen Unfallversicherungsvertrag geltend.

Am 12. September 1981 kam der Kläger gegen 2.45 Uhr mit seinem Personenkraftwagen auf der Bundesstraße zwischen T. und M. von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Baum. Er wurde hierbei schwer verletzt. Eine gegen 4.00 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine mittlere Blutalkoholkonzentration von 1,2 Promille. Der Kläger leidet noch heute an den Unfallfolgen; mit einem Dauerschaden ist zu rechnen.

Der Kläger begehrt die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung des bedingungsmäßigen Krankenhaustagegelds in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 9.000 DM. Er beantragt ferner die Feststellung, daß die Beklagte dem Kläger für den Unfall gemäß den Allgemeinen Bedingungen der abgeschlossenen Invaliditätsversicherung hafte und somit verpflichtet sei, an den Kläger die gemäß diesem Versicherungsvertrag auszubezahlende Invaliditätsentschädigung bzw. Entschädigung für Krankenhaustagegeld und Genesungsgeld zu zahlen, sobald der Grad der Invalidität festgestellt werde.

Der Kläger behauptet, ein entgegenkommendes Fahrzeug sei auf seine Fahrbahn geraten, so daß er seinen Wagen nach rechts habe reißen müssen, um einen Frontalzusammenstoß zu vermeiden.

Die Beklagte behauptet, der Unfall sei auf eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des Klägers zurückzuführen.

Die Vorinstanzen haben die Klage für unbegründet gehalten. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger seinen Zahlungs- und Feststellungsanspruch weiter.

 

Entscheidungsgründe

I. Nach § 3 Ziff. 4 AUB sind "Unfälle infolge von ... Bewußtseinsstörungen vom Versicherungsschutz ausgeschlossen".

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat diese Bestimmung dahin ausgelegt, daß bei einem Kraftfahrer dieser Ausschlußgrund bereits dann vorliegt, wenn er zwar noch bei Bewußtsein, infolge Alkoholgenusses aber nicht mehr fahrtüchtig ist (BGHZ 18, 311, 314; 66, 88, 89; BGH, Urteile vom 7. Januar 1972 - IV ZR 152/69 - VersR 1972, 292 und 3. April 1985 - IVa ZR 111/83 - VersR 1985, 779). Soweit die Blutalkoholkonzentration im Unfallzeitpunkt den Wert von 1,3 Promille erreicht, nimmt die Rechtsprechung stets ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Einzelfalles und ohne Zulassung des Gegenbeweises absolute Fahruntüchtigkeit des Verunglückten an. Sie geht in diesem Falle auch davon aus, daß der Beweis des ersten Anscheins für eine Ursächlichkeit des Alkolholgenusses spreche. Bei einem geringeren Alkoholisierungsgrad greift dagegen der Ausschlußgrund des § 3 Ziff. 4 AUB nur dann ein, wenn äußere Anzeichen für eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit vorliegen. An dieser Rechtsprechung hat der Senat auch nach der Einführung des § 24 a StVG festgehalten. Der Ansicht von Wussow (AUB 4. Aufl. § 3 Anm. 12; WI 1973, 140; 1981, 93, 1984, 154), nach der eine Bewußtseinsstörung jetzt bereits bei einer Blutalkoholkonzentration von 0,8 Promille anzunehmen sei, hat er sich nicht angeschlossen (vgl. Senatsurteil vom 3. April 1985 - IVa ZR 111/83 - VersR 1985, 779). § 24 a StVG verbietet zwar die Führung eines Kraftfahrzeuges durch einen Fahrer, der 0,8 Promille oder mehr Alkohol im Blut hat; er bestimmt jedoch nicht in einer für die Gerichte bindenden Weise, daß bei diesem Wert stets eine absolute Fahruntüchtigkeit anzunehmen sei. Wie sich aus der Begründung der Regierungsvorlage (Bundestagsdrucksache 7/133) ergibt, hat der Gesetzgeber einen Wert gewählt, der bei den meisten Kraftfahrern zu Leistungsminderungen führt (Begründung II, 2). Von einer absoluten Fahruntüchtigkeit kann man jedoch nur dann sprechen, wenn die Blutalkoholkonzentration einen Wert erreicht hat, bei der jeder Fahrer - ohne Rücksicht auf seine Konstitution und die besonderen Umstände des Einzelfalls - zur Führung von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist (vgl. BGH Urteil vom 22. April 1982 - 4 StR 43/83 - NJW 1982, 2612 = MDR 82, 683; ferner Dreher/Tröndle StGB 42. Aufl. § 316 Rdn. 6; Schönke/Cramer StGB 21. Aufl. § 316 Rdn. 4; OLG Köln OLGSt § 316 StGB Seite 100).

Bei einem Alkoholisierungsgrad von weniger als 1,3 Promille entfällt daher der Versicherungsschutz nur dann, wenn äußere Anzeichen für eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit vorliegen. Ergeben sich diese nicht aus sonstigen Ausfallerscheinungen (vgl. dazu BGH, Urt. vom 22. April 1982 - 4 StR 43/82 - NJW 1982, 2612 = MDR 1982, 683 a.E.), müssen Fahrfehler festgestellt werden, die typischerweise auf Alkoholgenuß zurückzuführen sind.

Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht richtig angewandt. Nach seinen tatsächlichen Feststellungen lag beim Kläger die Blutalkoholkonzentration mit 1,2 Promille unter dem in der versicherungsrechtlichen Rechtsprechung angenommenen Grenzwert. Eine Bewußtseinsstörung im Sinne der AUB durfte deshalb nur dann angenommen werden, wenn beim Kläger alkoholtypische Ausfallerscheinungen festzustellen waren. Davon ist das Landgericht ausgegangen. Es hat in dem "Abkommen" von der Fahrbahn eine solche alkoholbedingte Ausfallerscheinung gesehen. Das Berufungsgericht hat sich jedoch diese Erwägung nicht zu eigen gemacht, und zwar anscheinend deshalb, weil der vom Berufungsgericht für sachkundig und zuverlässig gehaltene Sachverständige ausdrücklich erklärt hatte, ein "Ausweichen" sei nicht alkoholtypisch. Das Berufungsgericht kommt daher zur Feststellung der Bewußtseinsstörung, ohne vorher das Fahrverhalten des Klägers und den Unfallhergang erörtert zu haben. Hierauf geht es erst in einem anderen Zusammenhang ein, nämlich bei der Prüfung der Frage, ob die bereits festgestellte Bewußtseinsstörung für den Unfall ursächlich war.

Für seine Ansicht, daß bei dem Kläger eine Bewußtseinsstörung im Sinne von § 3 Nr. 4 AUB vorgelegen habe, beruft sich das Oberlandesgericht auf die gutachterliche Äußerung des Sachverständigen Dr. L.. Dieser hat jedoch nicht davon gesprochen, daß bei dem Kläger eine Bewußtseinsstörung im Sinne von § 3 Nr. 4 AUB vorgelegen habe; er hat vielmehr lediglich den Kläger als im Unfallzeitpunkt "fahruntüchtig" bezeichnet. Selbst wenn er damit die absolute Fahruntüchtigkeit gemeint haben sollte und die Ausführungen des Berufungsgerichts dahin zu verstehen sein sollten, daß absolute Fahruntüchtigkeit schon unterhalb der Grenze von 1,3 Promille vorliegen könne, wäre das nicht richtig. Über die Frage, bei welchem Grenzwert absolute Fahruntüchtigkeit beginnt, können unter Sachverständigen unterschiedliche Auffassungen bestehen. Die Rechtsprechung hat es - sowohl auf straf- und straßenverkehrsrechtlichem als auch auf versicherungsrechtlichem Gebiet - im Interesse der Rechtseinheit für erforderlich gehalten, einen festen Grenzwert zu bestimmen (BGHSt 5, 168; 10, 265; 13, 83; 19, 243; BGHZ 18, 311, 314; 66, 88, 89; BGH Urteile vom 7. Januar 1972 - IV ZR 152/69 - VersR 1972, 292 Urteil vom 3. April 1985 - IVa ZR 111/83 - VersR 85, 779). Der Tatrichter hat deshalb in versicherungsrechtlichen Streitigkeiten die Grenze der absoluten Fahruntüchtigkeit auch dann bei 1,3 Promille anzunehmen, wenn sich ein von ihm gehörter Sachverständiger in überzeugender Weise für einen niedrigeren Wert ausgesprochen hat.

Tatsächlich hat jedoch der Sachverständige Dr. L. eine solche Ansicht nicht vertreten. Er spricht vielmehr (auf Seite 6 der Sitzungsniederschrift vom 11. November 1983 Bl. 86 d.A. letzter Satz) nur davon, daß bei einem Wert von 1,22 Promille eine Fahruntauglichkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne. Wenn er dennoch auf Seite 7 (Bl. 87 d.A. 3. Absatz 2. Satz) eine Fahruntüchtigkeit bejaht, so nur mit Rücksicht auf die besonderen Umstände des vorliegenden Falls, vor allem mit Rücksicht auf die von ihm angenommene Übermüdung des Klägers (S. 7 der Vernehmungsniederschrift Bl. 87 1. Absatz). Diesem Gedankengang hat sich das Berufungsgericht ersichtlich angeschlossen. Bei der Bestimmung des absoluten Grenzwertes dürfen aber die konkreten Umstände des Einzelfalls, auch eine Krankheit oder Ermüdung des Fahrers, nicht berücksichtigt werden (BGH Urteil vom 22. April 1982 - 4 StR 43/82 - NJW 1982, 2612 = MDR 1982, 683; Urteil vom 28. April 1967 - 4 StR 108/67 - VRS Bd. 33 S. 118; BayObLGSt 67, 169 = NJW 1968, 1200).

Dem Kläger wir der Versicherungsschutz daher nur dann versagt werden können, wenn sich bei ihm für den Unfallzeitpunkt alkoholtypische Ausfallerscheinungen feststellen lassen. Dazu ist eine Klärung der Verkehrssituation, in der sich der Kläger befand, erforderlich. Der Tatrichter wird daher zunächst zu prüfen haben, ob der Kläger, wie er behauptet, durch ein entgegenkommendes Fahrzeug von der Fahrbahn abgedrängt worden ist; die Beweislast trägt insoweit, da es sich um die Voraussetzungen für einen Versicherungsausschluß handelt, die Beklagte. Sollte sich in diesem Punkte die Sachdarstellung des Klägers widerlegen lassen, so wird sich das Berufungsgericht mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinanderzusetzen haben, nach denen ein Ausweichen - auch unter Verlassen der Fahrbahn - nicht als alkoholtypisch betrachtet werden kann.

II. 1. Auf die vom Berufungsgericht auf Seite 6 im 3. Absatz erörterte Frage, ob die von ihm angenommene Bewußtseinsstörung für den Unfall ursächlich war, wird es nur dann ankommen, wenn die gemäß Ziffer I vorzunehmende Prüfung zu einem für den Kläger ungünstigen Ergebnis führen sollte.

Dabei wird das Berufungsgericht zu beachten haben:

Nach feststehender Rechtsprechung spricht in den Fällen, in denen eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit festgestellt ist, der Beweis des ersten Anscheins für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Fahruntüchtigkeit und dem Unfall (BGHZ 18, 311; BGH Urteile vom 7. Januar 1972 - IV ZR 152/69 - VersR 1972, 292; vom 3. April 1985 - IVa ZR 111/83). Das bedeutet jedoch nicht, daß es in solchem Falle Sache des Versicherungsnehmers wäre, das Fehlen des Kausalzusammenhangs nachzuweisen. Der Beweis des ersten Anscheins bewirkt, wie allgemein anerkannt ist, keine Umkehr der Beweislast. Er ist demnach schon dann entkräftet, wenn der Gegner der beweisbelasteten Partei Umstände nachweist, aus denen sich die ernsthafte ("reale") Möglichkeit eines abweichenden Geschehensverlaufs ergibt (RGZ 134, 241; 159, 239; 159, 289; BGHZ 2, 1, 5; 6, 169; 8, 239, 240; 18, 311, 318; BGH Urteile vom 15. November 1968 - V ZR 49/65 - NJW 1969, 277; vom 20. Juni 1978 - VI ZR 15/77 - NJW 1978, 2032; vom 31. Mai 1978 - VIII ZR 263/76 - VersR 1978, 724 unter 2 a; Prölss/Martin VVG 23. Aufl. § 49 Anm. 3 b; § 3 AUB Anm. 4 C d). Es genügt allerdings nicht, daß lediglich die rein theoretische ("denkgesetzliche") Möglichkeit gegeben ist; eine solche Möglichkeit besteht in allen Fällen, in denen die beweisbelastete Partei den vollen Beweis für ihre Behauptung nicht erbringen kann und daher auf die Grundsätze des Anscheinsbeweises zurückgreifen muß (BGH Urteile vom 20. Juni 1978 - VI ZR 15/77 - NJW 1978, 2032; vom 8. Juli 1957 - II ZR 177/56 - unter 4 d, VersR 1957, 509, 510).

Das Berufungsgericht hat die Anforderungen an den Nachweis der realen Möglichkeit eines abweichenden Geschehensverlaufs überspannt. Bei richtiger Betrachtungsweise hätte es nicht danach fragen dürfen, ob der Kläger nachgewiesen habe, daß ihm ein Kraftwagen entgegengekommen sei und ihn von der Fahrbahn abgedrängt habe; es hätte vielmehr prüfen müssen, ob ein solcher Vorgang als eine ernstzunehmende Alternative zu der Annahme in Betracht kam, der Kläger sei aus alkoholbedingten Gründen von der - von Gegenverkehr freien - Fahrbahn abgekommen. Auch in diesem Zusammenhang hätte es nicht außer Acht lassen dürfen, daß nach der Auffassung des vom Berufungsgericht für sachkundig und zuverlässig gehaltenen Sachverständigen ein Ausweichen - auch unter Verlassen der Fahrbahn - nicht alkoholtypisch ist. Es hätte auch das Beweisangebot des Klägers nicht übergehen dürfen, mit dem dieser nachweisen wollte, daß der Zeuge D. kurz nach dem Unfall in eine ähnliche Verkehrssituation geraten sei. Denn daraus könnte sich ergeben, daß auf der Verbindungsstrecke zwischen T. und M. (die teilweise zur Bundesstraße 299, teils zur Bundesstraße 304 gehört) ernsthaft mit der Möglichkeit zu rechnen ist, daß ein Kraftfahrer zur Nachtzeit von einem entgegenkommenden Fahrzeug aus der Fahrbahn abgedrängt wurde. Beides beanstandet die Revision mit Recht.

2. Der Sachverständige hat ausgeführt, Alkoholgenuß könne zu einer erhöhten Blendempfindlichkeit führen. Für den Fall, daß es hierauf nach den noch zu treffenden tatrichterlichen Feststellungen ankommen sollte, sei bemerkt: Eine Einschränkung der Funktion der Sinnesorgane fällt nicht unter den Begriff der Bewußtseinsstörung. Im übrigen sind die allgemeinen Auswirkungen des Alkoholgenusses auf das Sehvermögen von der Rechtsprechung schon bei der Festsetzung des Grenzwerts von 1,3 Promille berücksichtigt. Daß beim Kläger der Alkoholgenuß zu einer über das normale Maß hinausgehenden Blendempfindlichkeit führen kann, ist weder behauptet noch festgestellt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2992817

DAR 1986, 85

VRS 70, 125

VersR 1986, 141

ZfS 1986, 123

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