Leitsatz (amtlich)

›Das Unterbleiben einer vorvertraglichen Anzeige gemäß § 16 VVG gibt dem Versicherer nicht die Berechtigung zum Rücktritt, wenn sich die Vornahme der dem Versicherungsnehmer aufgegebenen unverzüglichen Anzeige aus Zeitgründen auf die Entschließung des Versicherers, den Antrag auf Abschluß eines Versicherungsvertrages anzunehmen, nicht hätte auswirken können.‹

 

Verfahrensgang

LG Memmingen

OLG München

 

Tatbestand

Die Klägerin ist die Witwe des am 7. November 1980 verstorbenen 25-jährigen Maurers Waldemar Mittelstädt (Todesursache: Cardiopulmonales Versagen nach einem Coma diabeticum). Dieser hatte am 6. Juni 1980 bei der Beklagten den Antrag auf Abschluß einer Lebensversicherung mit der Versicherungssumme von 50.000,- DM gestellt. die zum wichtigen Bestandteil des Vertrages im Antragsformular erklärte, auf der Formularrückseite abgedruckte Schlußerklärung des Antragstellers enthält unter Ziffer 3 Satz 2 folgenden Text: "Jede bis zur Annahme des Antrags noch eintretende nicht unerhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes der zu versichernden Person werde ich unverzüglich dem Versicherer schriftlich anzeigen".

Die Beklagte sandte am 1. Juli 1980 den Versicherungsschein, den sie unter dem 27. Juni 1980 ausgestellt hatte, mit einem Begleitschreiben an den Ehemann der Klägerin ab.

Dieser zeigte eine bei ihm in der Zeit zwischen Stellung des Antrags und dessen Annahme festgestellte Zuckererkrankung der Beklagten nicht an, was diese als vorwerfbare Obliegenheitsverletzung des Ehemanns der Klägerin ansieht.

Die Beklagte erklärte deshalb gegenüber der Klägerin, die im Versicherungsvertrag als Bezugsberechtigte für den Todesfall bezeichnet ist, mit Schreiben vom 27. Februar 1981 den Rücktritt vom Vertrag und lehnte jegliche Zahlung ab.

Die auf Auszahlung der Versicherungssumme gerichtete Klage hat das Landgericht abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht den begehrten Betrag zugesprochen.

Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

Das Berufungsgericht hat eine schuldhafte Verletzung der Anzeigepflicht durch den Versicherungsnehmer nach § 16 VVG in Verbindung mit Ziffer 3 Satz 2 der Schlußerklärung für nicht erwiesen angesehen.

I. 1. Ob sich die Beklagte unter Berufung auf ihre Leistungsfreiheit aus dem Versicherungsvertrag lösen konnte, beurteilt sich ausschließlich nach den §§ 16 ff. VVG in Verbindung mit § 6 der dem Versicherungsvertrag zugrundegelegten ALB n.F.. Die Anwendbarkeit der §§ 29 a, 27, 28 VVG scheidet gemäß § 164 VVG aus. In dem Versicherungsvertrag (= Antrag des Ehemannes der Klägerin mit Schlußerklärung und ihm zugesandter Versicherungsschein mit Begleitschreiben vom 27. Juni 1980) ist keine Vereinbarung darüber enthalten, daß die Änderung von Gefahrumständen als Gefahrerhöhung angesehen werden solle. Die ALB n.F. haben auch keinen § 1 Satz 4 ALB a.F. entsprechenden Passus mehr zum Inhalt, der lautet: "Als Erhöhung der Gefahr gilt insbesondere eine erhebliche Erkrankung oder Verletzung der zu versichernden Person."

2. Die zwischen Antragstellung und -annahme fortbestehende Obliegenheit zur Anzeige gefahrerheblicher Umstände (in st. Rechtsprechung anerkannt, vgl. zuletzt Urteil des früheren IV. Zivilsenats vom 30.1.1980 - IV ZR 73/78 - LM AVB f. Lebensvers. Nr. 3 = VersR 1980, 667) beurteilt sich im vorliegenden Fall ohne Anwendung des § 18 VVG allein nach § 16 VVG, da nach Antragstellung ein Fragenkatalog nicht mehr zu beantworten war, sondern dem Antragsteller nur die unverzügliche schriftliche Anzeige von erst nachträglich eintretenden oder ihm erst nachträglich bekannt werdenden Gefahrumständen aufgegeben wurde (vgl. Prölss/Martin, VVG 23. Aufl. § 18 Anm. 2). die Anzeigepflicht bestand für den Antragsteller Mittelstädt bis zum Zustandekommen des Versicherungsvertrages durch Zugang der Annahmeerklärung der Versicherung, d.h. bis zu einem für ihn nicht vorausberechenbaren Zeitpunkt, der hier nicht vor dem 2. Juli 1980 eingetreten sein kann, denn die Absendung des Versicherungsscheins mit Begleitschreiben erfolgte unstreitig erst am 1. Juli 1980.

3. Unerläßliche Wirksamkeitsvoraussetzung eines Rücktrittsrechts der Beklagten ist es, daß der Ehemann der Klägerin zwischen Antragstellung und -annahme positive Kenntnis von einem gefahrerheblichen Umstand im Sinn der §§ 16 VVG, 6 ALB n.F. erhalten hat; eine - auch grob fahrlässige, auf dem Unterlassen sich aufdrängender Erkundigungen beruhende - Unkenntnis begründet die Obliegenheit einer Anzeige noch nicht (Urteil des erkennenden Senats vom 13.10.1982 - IVa ZR 67/81 - VersR 1983, 25).

II. 1. Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß der Ehemann der Klägerin durch die Mitteilung seines Hausarztes Dr. Stürmer am 19. Juni 1980 nur den Verdacht, nicht aber die eine Anzeigeobliegenheit auslösende Kenntnis erlangt hat, er leide an einem einstellungsbedürftigen Diabetes mellitus. Es hat unterstellt, daß Dr. Stürmer seinem Patienten am 19. Juni 1980 das in der eidesstattlichen Erklärung des Arztes vom 30. November 1981 mitgeteilte seinerzeitige Untersuchungsergebnis - 5,0 % Zucker im Urin und 250 mg % Blutzucker - bekanntgegeben und ihm auch eröffnet hat, er müsse sich zur Diabetes-Einstellung in Krankenhausbehandlung begeben. In tatrichterlicher Wertung hat das Berufungsgericht nicht die Überzeugung gewonnen, daß der Ehemann der Klägerin, bei dem bislang noch nie Zucker festgestellt worden war, dadurch die Gewißheit erlangt habe, er leide an einer Zuckerkrankheit; er habe durchaus der Auffassung sein können, die ihm angekündigte Krankenhauseinweisung und die im Krankenhaus zu erwartenden weiteren Untersuchungen sollten erst diese Gewißheit bringen. Diese Wertung ist rechtsfehlerfrei und durchaus wirklichkeitsnah; es liegt nicht fern, daß ein so junger Mann wie der Ehemann der Klägerin durch einen erstmaligen Befund von Zucker in Blut und Urin nicht sogleich zu der Überzeugung gelangt, er sei ernstlich erkrankt, sondern die ihm angekündigte Krankenhauseinweisung als notwendige Einleitung weiterer diagnostischer Maßnahmen versteht zum Zwecke der Abklärung, ob er wirklich erkrankt sei oder nicht. Durch die Schlußerklärung ist einem Antragsteller nicht etwa auch die Anzeige diagnostischer Untersuchungen zur Abklärung eines Krankheitsverdachtes zwischen Antragstellung und -annahme aufgegeben. die Schlußerklärung, eine typische, von der Beklagten in einer Vielzahl von Fällen verwendete Vertragsklausel, ist für einen durchschnittlichen Versicherungsnehmer dahin zu verstehen, daß im Zeitraum zwischen Antragstellung und -annahme nur aus medizinischer Sicht geklärte Erkrankungen von einigem Gewicht anzuzeigen sind. Diagnostische Maßnahmen zur Abklärung eines vermuteten Krankheitsbildes lassen sich nicht in den von der Beklagten gewählten Begriff einer "nicht unerheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes" einordnen. Hierzu rechnet vielmehr erst eine abschließend diagnostizierte Zuckererkrankung.

Das Berufungsgericht hat deshalb zu Recht angenommen, daß eine Obliegenheitsverletzung durch den Ehemann der Klägerin solange nicht in Betracht kam, als er nicht mehr als den Verdacht oder die Befürchtung hegte, er könne an einer Zuckerkrankheit leiden. Ein erst- und einmaliger Laborbefund, durch den Zucker in Blut und Urin des Untersuchten festgestellt wird, ist nicht ohne weiteres eine tragfähige Grundlage für eine abschließende Krankheitsdiagnose. Deshalb wird ein Arzt jedenfalls in der Regel mit der Mitteilung der Laborwerte die erstmals Zucker in Blut und Urin eines Patienten ausweisen, eine unmißverständliche abschließende Diagnosemitteilung nicht verbinden. Daß Dr. Stürmer im vorliegenden Fall anders vorgegangen wäre, hat die Beklagte nicht aufgezeigt.

Da das Berufungsgericht eine Krankheitskenntnis ab 19. Juni 1980 nicht feststellen konnte, ist es zu Recht davon ausgegangen, daß der Versicherungsnehmer der Beklagten nicht schon von diesem Zeitpunkt an ein Anzeigeobliegenheit zu erfüllen hatte.

2. Seiner Hilfsbegründung legt das Berufungsgericht zugrunde, Waldemar Mittelstädt könne frühestens am 26. Juni 1980 erfahren haben, daß die Untersuchungen im Stadtkrankenhaus Memmingen bei ihm eine Erkrankung an einem einstellungsbedürftigen juvenilen Diabetes mellitus ergeben hätten. Es ist der Ansicht, der weiterhin in stationärer Behandlung verbliebene Ehemann der Klägerin habe mit Rücksicht auf das Wochenende 28./29. Juni 1980, an dem er den Vermittlungsagenten Epp nicht habe erreichen können, eine Entscheidung über die Mitteilung seiner ihm nunmehr bekannt gewordenen Zuckererkrankung nicht vor dem 2. Juli 1980 treffen müssen. Da zu diesem Zeitpunkt die Annahme des Versicherungsvertrages unstreitig bereits erklärt gewesen sei, liege eine vorwerfbare Anzeigepflichtverletzung nicht vor.

Auch die hiergegen gerichteten Revisionsangriffe verhelfen dem Rechtsmittel nicht zum Erfolg.

Allerdings war die Annahme der Beklagten nicht bereits mit der Absendung von Versicherungsschein und Begleitschreiben wirksam, sondern erst mit Zugang ihres Briefes, § 130 Abs. 1 Satz 1 BGB. Das Berufungsgericht hat den tatsächlichen Zeitpunkt der Briefzustellung nicht festgestellt, sondern nur, daß er nicht vor dem 2. Juli 1980 liegen könne.

Sein Ausgangspunkt, am 2. Juli 1980 habe die Obliegenheit zur Anzeige zu bestehen aufgehört, ist nur zutreffend unter der ungeklärt gelassenen Voraussetzung, daß der Brief der Beklagten tatsächlich am 2. Juli 1980 zugegangen ist.

Einer Aufklärung des Zustellungszeitpunktes bedarf es jedoch aus den nachfolgenden Erwägungen nicht.

3. Die Ansicht der Revision, der Ehemann der Klägerin hätte sich noch am 26. Juni 1980 entweder mit dem Versicherungsagenten Epp in Verbindung setzen oder vom Krankenhaus aus telefonisch die Anschrift der Beklagten ermitteln müssen, steht nicht in Einklang mit der Tatsache, daß die Beklagte in ihrem eigenen Vertragswerk dem Antragsteller zwischen Antragstellung und -annahme eine "unverzügliche" (schriftliche) Anzeige aufgibt. Unverzüglich handelt, wer ohne schuldhaftes Zögern tätig wird. Dieses Rechtsbegriff hat das Berufungsgericht bei seiner Wertung nicht verkannt. Es hatte bei seiner Prüfung, bis zu welchem Zeitpunkt eine tatsächlich erfolgende Mitteilung als nicht schuldhaft verzögert anzusehen gewesen wäre, die vorhandenen Fallbesonderheiten zu beachten. Wenn es unter Berücksichtigung des Umstandes, daß es sich bei dem 28. und 29. Juni 1980 um ein Wochenende handelte, und der besonders ins Gewicht fallenden Tatsache, daß der anzeigepflichtige Antragsteller weiterhin (bis 5. Juli 1980) in stationärer Behandlung verblieb, zu dem Ergebnis gelangt ist, eine Entschließung des Ehemannes der Klägerin über die Mitteilung, genauer gesagt eine Absendung der geforderten schriftlichen Anzeige, am 2. Juli 1980 wäre noch nicht schuldhaft verzögert gewesen, so ist dies frei von Rechtsfehlern.

Sollte die Annahmeerklärung der Beklagten am 2. Juli 1980 noch nicht zugegangen sein, bestand die Anzeigepflicht an diesem Tage noch. Daß ihr eine am 2. Juli 1980 abgesandte Krankheitsmitteilung nicht eher hätte zugehen können als dem Antragsteller Mittelstädt die schon am 1. Juli 1980 zugesandte Annahmeerklärung, zieht auch die Beklagte nicht in Zweifel. Eine etwa am 2. Juli 1980 noch gebotene und an diesem Tag noch ohne schuldhaftes Zögern vornehmbare und vorgenommene Anzeige hätte demnach auf die Entschließung der Beklagten, ob zu welchen Bedingungen sie den Vertrag abschließen wolle, keinen Einfluß mehr gewinnen können. Der Vertrag wäre auch in diesem Fall so, wie tatsächlich geschehen, geschlossen worden. Daraus, daß der Ehemann der Klägerin tatsächlich am 2. Juli 1980 eine Anzeige nicht erstattet hat, kann die Klägerin für sich keine Besserstellung herleiten. Mit dem Recht zum Rücktritt beansprucht sie eine Rechtsposition, die ihr bei einem vertragstreuen Verhalten ihres Versicherungsnehmers nicht zukäme. Die schützenswerten Belange der Beklagten, die durch die Vorschrift des § 16 VVG gewahrt werden sollen, sind auch dann nicht berührt worden, wenn eine für den 2. Juli 1980 noch bestehende Anzeigeobliegenheit nicht erfüllt worden ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2992741

DRsp II(227)125e

MDR 1985, 127

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