Entscheidungsstichwort (Thema)

Alternativtäterschaft

 

Normenkette

BGB § 830 Abs. 1 S. 2

 

Tatbestand

Der Kläger ist Eigentümer eines - nachträglich erweiterten - Einfamilienhauses in G. Das Haus ist nicht unterkellert. Seine Fundamente sind über 100 Jahre alt; sie stehen zum Teil auf Findlingsgestein und zum Teil auf Moorboden. Der Beklagte ist Eigentümer des Nachbargrundstücks. Im November 1972 begann er mit der Errichtung eines größeren Gebäudes. Wegen des ebenfalls moorigen Baugrundes wurde eine tiefe Baugrube ausgehoben; sodann wurde Kies eingebracht und verdichtet. Am Hause des Klägers entstanden erhebliche Risse.

Die Parteien streiten darüber, ob die Schäden durch die Baumaßnahmen auf dem Grundstück des Beklagten oder durch andere Baumaßnahmen in der Nähe verursacht worden sind und insoweit eine besondere Schadensanfälligkeit des Hauses des Klägers hierzu beigetragen hat.

Der Kläger hat beantragt,

festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet ist, ihm sämtliche Schäden an seinem Haus zu ersetzen, die durch die Errichtung des benachbarten Gebäudes entstanden sind oder noch entstehen werden.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat sie in zwei früheren Berufungsverfahren abgewiesen. Nach Aufhebung der Urteile in der Revisionsinstanz (Senatsurteile v. 31. Oktober 1980, V ZR 140/79, NJW 1981, 573 = WM 1981, 99, und v. 21. Oktober 1983, V ZR 69/82) hat es nunmehr dem Feststellungsantrag zu 80 % stattgegeben.

Die Revision des Beklagten und seines Streithelfers hatte Erfolg.

 

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht sieht in der Absenkung des Grundwasserstandes durch die Arbeiten auf dem Grundstück des Beklagten und wohl auch in den Erschütterungen bei der Verdichtung des in die Baugrube eingebrachten Kieses eine unzulässige und schuldhafte Vertiefung des Grundstücks des Beklagten im Sinne von § 909 BGB. In Übereinstimmung mit einem Gutachten des Sachverständigen D. stellt es fest, daß die Risse unter anderem hierdurch entstanden seien. Der Sachverständige habe nämlich ›als etwa gleichwertige Ursachen, die etwa gleichen Anteil an den Rißbildungen haben können‹, folgende Umstände eingeschätzt:

  • den Anbau am Haus des Klägers, der im Jahre 1968 ausgebaut und vergrößert worden sei,
  • den Grundwasserentzug bei dem Aushub der Baugrube auf dem Grundstück des Beklagten und als Folge der ständigen Fortwirkung der Drainanlage,
  • die Vibrationen bei der Verdichtung des in diese Baugrube eingebrachten Sandes,
  • Erdbaumaßnahmen für den Ausbau der Straße Im G. durch die Gemeinde G. im Jahre 1971,
  • die Verlegung öffentlicher Abwasserleitungen in der Straße K. W. durch den Zweckverband K. im Herbst 1973,
  • Erdbaumaßnahmen in den Jahren 1973 und 1978 durch die Firmen B. und F. auf der Nordseite des Grundstücks des Klägers.

Diese mehreren selbständigen Handlungen hat das Berufungsgericht als zusammenhängenden Vorgang im Sinne von § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB aufgefaßt. Wegen des eigenen Verursachungsbeitrages des Klägers (Anbau) hat es den Beklagten (nur) für verpflichtet erklärt, diesem 80 % seines gegenwärtigen und künftigen Schadens zu ersetzen.

II.

Die Revision hat Erfolg.

(von der weiteren Darstellung wird abgesehen)

2.

Das Berufungsgericht hat § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB in mehrfacher Hinsicht rechtsfehlerhaft angewendet.

Nach dieser Vorschrift ist jeder von mehreren Beteiligten für den Schaden dann verantwortlich, wenn sich nicht ermitteln läßt, wer ihn durch seine Handlung verursacht hat. Die Vorschrift setzt mithin voraus, daß

(a)

bei jedem Beteiligten ein anspruchsbegründendes Verhalten - abgesehen vom Nachweis der Ursächlichkeit - gegeben war,

(b)

eine der unter dem Begriff ›Beteiligung‹ zusammengefaßten Personen den Schaden verursacht haben muß, und

(c)

nicht feststellbar ist, welcher von ihnen den Schaden tatsächlich (ganz oder teilweise) verursacht hat (BGHZ 72, 355, 358).

a)

Nicht für alle Beteiligten hat das Berufungsgericht ein anspruchsbegründendes Verhalten rechtsfehlerfrei festgestellt.

aa)

Für den Beklagten bejaht es ein solches Verhalten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 909 BGB.

(1)

Das läßt einen Rechtsfehler nicht erkennen, soweit das Berufungsgericht eine schuldhafte Vertiefung durch den Beklagten im Grundwasserentzug bei dem Aushub der Baugrube und als Folge der ständigen Fortwirkung der Drainanlage sieht.

Vertiefung im Sinne des § 909 BGB ist jede Einwirkung auf das Grundstück, die zur Folge hat, daß der Boden des Nachbargrundstücks in der Senkrechten den Halt verliert oder daß dort die Festigkeit der unteren Bodenschichten in ihrem waagerechten Verlauf beeinträchtigt wird (BGHZ 85, 375, 378 m. w. Nachw.). Das kann auch - wie hier - durch Entzug des Grundwassers geschehen (BGHZ 63, 176, 180). Die Vertiefung ist, wie auch die Revision nicht in Zweifel zieht, rechtswidrig. § 909 BGB verbietet unter Nachbarn jede Vertiefung, wenn die erforderliche Stütze des Bodens des Nachbargrundstücks nicht gewährleistet ist. Ob eine Stütze erforderlich ist, beurteilt sich nach der tatsächlichen Beschaffenheit des Nachbargrundstücks. Unzulässig ist eine Vertiefung demnach z. B. auch, wenn das Nachbarhaus auf ungünstigem Baugrund steht und seine Beeinträchtigungen durch weniger tragfähige Fundamente begünstigt werden (BGHZ 44, 130, 136/137). Selbst eine besondere Schadensanfälligkeit des Nachbarhauses beseitigt das Vertiefungsverbot nicht (vgl. BGHZ 85, 375, 379; Senatsurt. v. 27. Juni 1969, V ZR 41/66, NJW 1969, 2140, 2141).

Ohne jeden Erfolg bleiben die Angriffe der Revision gegen die Feststellung eines Verschuldens des Beklagten (von der weiteren Darstellung wird abgesehen).

Eine solche Gefahrenlage durfte das Berufungsgericht hier angesichts des moorigen Baugrundes und der damit verbundenen besonderen Größe der Baugrube als gegeben ansehen.

(2)

Für Schäden am Haus des Klägers, die durch unzulässige Bodenerschütterungen verursacht worden sind, scheidet ein Anspruch nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 909 BGB aus, denn insoweit handelt es sich nicht um die Folgen einer unzulässigen Vertiefung. Als Grundlage für einen Schadensersatz aus unerlaubter Handlung kommt hier nur § 823 Abs. 1 BGB in Betracht (vgl. BGHZ 85, 375, 381). Voraussetzung dafür wäre u. a. die - nach § 909 BGB zu beurteilende (BGHZ 90, 255, 258) - Rechtswidrigkeit dieser Immissionen. Dazu hat das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen.

bb)

Mit Erfolg rügt die Revision, das Berufungsgericht habe ein anspruchsbegründendes Verhalten der anderen Schadensverursacher nicht festgestellt. Dies gilt sowohl für die Erdbaumaßnahmen für den Ausbau der Straße Im G. durch die Gemeinde G. als auch für die Verlegung öffentlicher Abwasserleitungen in der Straße K. W. durch den Zweckverband K. und ebenso für die Erdarbeiten durch die Firmen B. und F. auf der Nordseite des Grundstücks des Klägers.

(1)

Was die letztgenannten Einwirkungen angeht, so fehlt es schon einerseits an einer Unterscheidung nach Vertiefungs- und Vibrationsschäden und andererseits an Feststellungen darüber, ob es sich jeweils um rechtmäßige, rechtswidrig-schuldlose oder rechtswidrig-schuldhafte (deliktische) Eingriffe gehandelt hat. Nur für die letztgenannten Fälle deliktischer Vertiefungen und Erschütterungen käme eine Haftung auf Schadensersatz (§ 823 Abs. 2 in Verbindung mit § 909 BGB oder § 823 Abs. 1 BGB) in Betracht. Wären die Einwirkungen dagegen rechtmäßig oder rechtswidrig-schuldlos, aber aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht zu verhindern gewesen (vgl. BGHZ 48, 98, 101; 72, 289, 291 f.; 85, 375, 384 f.), so könnte ein Anspruch auf angemessenen Ausgleich in Geld (nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch) nach § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB oder analog dieser Vorschrift gegeben sein (vgl. auch BGHZ 90, 255, 262 m. w. Nachw.). Die Voraussetzungen hierfür hat das Berufungsgericht bisher nicht geprüft.

(2)

Ebenso wäre die Rechtslage bei den Straßenbauarbeiten der Gemeinde G. und den Entwässerungsarbeiten des Zweckverbandes K., wenn diese privatrechtlich organisiert (und daher auch privatrechtlich zu beurteilen) gewesen sein sollten (vgl. dazu etwa BGHZ 72, 289, 293; BGH Urt. v. 4. Juli 1980, V ZR 240/77, NJW 1981, 50). Wären die Arbeiten dagegen öffentlich-rechtlich organisiert gewesen, so kämen bei rechtswidrig-schuldhaftem Verhalten Schadensersatzansprüche aus Amtspflichtverletzung und bei rechtmäßigem oder rechtswidrigschuldlosem Verhalten Entschädigungsansprüche wegen enteignenden oder enteignungsgleichen Eingriffen in Betracht (vgl. BGHZ 72, 289, 292, sowie Krohn/Löwisch, Eigentumsgarantie, Enteignung, Entschädigung 3. Aufl. Rdn. 224 ff., 235 a, 236; Nüßgens/Boujong, Eigentum, Sozialbindung, Enteignung Rdn. 237-240, jeweils m. w. Nachw.).

(3)

In allen Fällen einer hiernach zu bejahenden Haftung läge ein anspruchsbegründendes Verhalten sämtlicher Beteiligten im Sinne des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB vor. Als ein solches Verhalten kommen zwar in erster Linie unerlaubte Handlungen (hier: nach § 823 Abs. 2 in Verbindung mit § 909 BGB, nach § 823 Abs. 1 BGB oder nach § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG) in Frage; die Vorschrift läßt aber auch Raum für eine weitergehende entsprechende Anwendung.

§ 830 Abs. 1 Satz 2 BGB soll Beweisschwierigkeiten des Geschädigten überwinden; dessen Ersatzanspruch soll nicht daran scheitern, daß nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, welcher von mehreren beteiligten Tätern, deren Handlung den Schaden verursacht haben kann, der ›eigentliche‹ Schädiger gewesen ist (BGHZ 55, 96, 98). Mag auch bei dieser Bestimmung im Ausgangspunkt an ein schuldhaftes Verhalten der mehreren Beteiligten gedacht worden sein (Mot. II, 738; Prot. II. 606), so ist doch eine Begrenzung hierauf dem Sinn und Zweck des Gesetzes nicht zu entnehmen; es macht z. B. keinen wesentlichen Unterschied, ob die Beweisnot Ansprüche aus Verschulden oder aus Gefährdungshaftung betrifft (BGH aaO; vgl. auch BGHZ 85, 375, 386 f.). Die Verursachungsvermutung nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB greift deshalb anerkanntermaßen auch dann ein, wenn Verschuldens- und Gefährdungshaftung zusammentreffen (BGHZ 55, 96, 98 f.).

Eine gesamtschuldnerische Haftung analog dieser Vorschrift kommt aber ebenfalls für den angemessenen Ausgleich durch die Benutzer mehrerer Grundstücke nach § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB in Betracht (BGHZ 66, 70, 76 ff.; 72, 289, 297 f.). Das gleiche gilt für Entschädigungsansprüche aus enteignendem oder enteignungsgleichem Eingriff wegen Vertiefungs- oder Erschütterungsschäden aufgrund hoheitlicher Maßnahmen (BGHZ 72, 289, 297). Dementsprechend kommt eine Gesamtschuld dann auch in Frage für das Zusammenwirken von solchen hoheitlichen Beeinträchtigungen mit nichthoheitlichen, so daß die abgrenzende Zuordnung zu diesen oder jenen im Einzelfall offenbleiben kann (vgl. BGHZ 72, 289, 291 ff.).

Nach alledem erscheint es sachgerecht und geboten, ein anspruchsbegründendes Verhalten aller Beteiligten im Sinne des § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB auch dann anzunehmen, wenn ein möglicher Schadensverursacher aus unerlaubter Handlung haftet und ein anderer aufgrund eines nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs (nach oder analog § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB) angemessenen Ausgleich schuldet oder wegen enteignenden oder enteignungsgleichen Eingriffs zur Entschädigung verpflichtet ist.

b)

Unbegründet ist dagegen die Revisionsrüge, das Berufungsgericht habe § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB insofern rechtsfehlerhaft angewendet, als es die mehreren zur Herbeiführung des Schadens geeigneten Handlungen als einheitlichen Lebensvorgang gewürdigt habe. Nach der Rechtsprechung setzt eine ›Beteiligung‹ im Sinne dieser Vorschrift allerdings voraus, daß die einzelnen Verursachungsbeiträge zu einem nach den Anschauungen des täglichen Lebens einheitlichen Vorgang verbunden sind (BGHZ 33, 286, 291; 55, 86, 93; 72, 355, 359). Ob an diesem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal trotz der im Fachschrifttum erhobenen Bedenken (vgl. etwa Deutsch, Haftungsrecht I S. 352; Esser/Weyers, Schuldrecht II 6. Aufl. S. 533 ff.; BGB-RGRK/Steffen 12. Aufl. § 830 Rdn. 25; MünchKomm/Mertens § 830 Rdn. 32; Soergel/Zeuner, BGB 11. Aufl. § 830 Rdn. 16 m. w. N.) festzuhalten ist, kann hier offenbleiben. Denn auch diese Voraussetzungen durfte das Berufungsgericht als gegeben ansehen. Für die Beurteilung, ob die einzelnen Gefährdungshandlungen als Teil eines Vorgangs zu betrachten sind, kommt es nicht so sehr auf das räumliche und zeitliche Zusammentreffen als auf die Gleichartigkeit der Gefährdung des bedrohten Rechtsguts an (BGHZ 55, 86, 95; vgl. auch BGB-RGRK/Steffen aaO Rdn. 24). Die Schwierigkeit, den ›Kausalitätsverdacht‹ (Verursachungs- oder Anteilszweifel) zu klären, muß auf der Gleichartigkeit der Ereignisse und der Ähnlichkeit der Folgen beruhen (BGHZ 55, 86, 95 f.). So liegt es, wenn die Beweisprobleme darauf beruhen, daß mehrere Bauvorhaben in der Umgebung insbesondere durch die von ihnen ausgehende Drainagewirkung auf ein Hausgrundstück eingewirkt haben können. Die hierauf beruhende Beweisnot schafft den inneren Zusammenhang zwischen den einzelnen möglichen Ursachenreihen, der es rechtfertigt, die Haftungserleichterung nach § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB anzuwenden.

c)

Mit Recht verweist die Revision aber darauf, daß § 830 Abs. 1 Satz 2 BGB dann nicht anwendbar ist, wenn die Verursachungsanteile der einzelnen Beteiligten, notfalls unter Zuhilfenahme von § 287 ZPO, voneinander abgrenzbar sind (BGHZ 85, 375, 383; 66, 70, 76 f.). Darauf hat der Senat im zweiten Revisionsurteil in dieser Sache (v. 21. Oktober 1983, V ZR 69/82) bereits hingewiesen. Der Frage einer solchen Schätzung der Verursachungsanteile hat sich das Berufungsgericht, wie die Revision mit Recht rügt, verfahrensfehlerhaft verschlossen. Aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen D. sieht es mehrere Umstände als ›etwa gleichwertige Ursachen, die etwa gleichen Anteil an den Rißbildungen haben können‹, an. Hierauf fußend schätzt es zwar den Anteil des Klägers an der Verursachung des Schadens nach § 287 ZPO auf 20 %, doch unterläßt es die dann naheliegende Prüfung, ob nicht auch die Verursachungsanteile der übrigen Schadensverursacher in gleicher Weise voneinander abgegrenzt werden können.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1456535

BGHZ, 106

NJW 1987, 2810

Englert / Grauvogl / Maurer 2004 2004, 908

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