Entscheidungsstichwort (Thema)

Sittenwidrigkeit eines Bürgschaftsvertrages zwischen Ehegatten

 

Leitsatz (amtlich)

a) Besteht ein krasses Mißverhältnis zwischen dem Umfang der Haftung und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des bürgenden Ehegatten oder Lebenspartners und läßt sich der Verpflichtungsumfang auch nicht im Hinblick auf den Schutz des Gläubigers vor Vermögensverlagerung vom Hauptschuldner auf den Bürgen rechtfertigen, ist der Bürgschaftsvertrag in der Regel gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig.

b) Hinsichtlich des Risikos, das der Bürge eingeht, ist auch dann vom Nennwert der Bürgschaft auszugehen, wenn der Gläubiger weitere Sicherheiten erhalten, jedoch die Rechte des Bürgen aus § 776 BGB abbedungen und nicht sichergestellt hat, daß der Bürge nur in einem wesentlich niedrigeren Umfang als der vereinbarten Haftungssumme in Anspruch genommen wird.

c) In die Beurteilung, ob ein Formularvertrag nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig ist, sind die nach den Bestimmungen des AGB-Gesetzes unwirksamen Abreden einzubeziehen.

 

Normenkette

BGB §§ 765, 138 Abs. 1; AGBG §§ 3, 9

 

Verfahrensgang

Saarländisches OLG (Urteil vom 15.10.1996)

LG Saarbrücken (Urteil vom 24.02.1996)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 7. Zivilsenats des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 15. Oktober 1996 aufgehoben, soweit zu deren Nachteil erkannt ist.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 9. Zivilkammer des Landgerichts Saarbrücken vom 24. Februar 1996 wird insgesamt zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten der Rechtsmittelzüge zu tragen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Klägerin hatte dem heutigen Ehemann der Beklagten, welcher eine Bau- und Möbelschreinerei betrieb, mehrere Darlehen und Kontokorrentkredite gewährt. Im Mai 1992 beliefen sich dessen Verbindlichkeiten auf etwa 900.000 DM. Der Klägerin war eine erstrangige Grundschuld auf dem Betriebsgrundstück in Höhe von 500.000 DM zuzüglich Zinsen bestellt worden. Der Kreditnehmer hatte ihr Gegenstände der Betriebsausstattung sicherungsübereignet. Außerdem waren Ansprüche aus Lebensversicherungsverträgen sowie die Forderungen gegen Kunden sicherungshalber abgetreten worden.

Da der Darlehensnehmer die Kreditlinie von 50.000 DM auf dem Kontokorrentkonto, über das der laufende Zahlungsverkehr abgewickelt wurde, weit überschritten hatte und wegen des Konkurses eines Kunden mit einem erheblichen Forderungsausfall rechnen mußte, verlangte die Klägerin zusätzliche Sicherheiten. Aus diesem Grunde zeichnete die Beklagte, die damals mit dem Hauptschuldner verlobt war, in dessen Betrieb als Schreinergeselle arbeitete und monatlich etwa 3.500 DM netto verdiente, am 22. Mai 1992 eine formularmäßig gefaßte Bürgschaft. Danach erstreckt sich die Haftung auf alle bestehenden und künftigen Ansprüche der Klägerin aus der Geschäftsverbindung mit dem Betriebsinhaber.

Am 13. Oktober 1992 kündigte die Klägerin die Geschäftsverbindung mit dem Kreditnehmer, der anschließend in Konkurs fiel. Die Klägerin nimmt die Beklagte aus der Bürgschaft in Anspruch und hat einen Vollstreckungsbescheid über 300.000 DM zuzüglich Zinsen erwirkt. Nach Einspruch der Beklagten hat die Klägerin den Anspruch in Höhe von 221.008,55 DM weiterverfolgt; im übrigen haben die Parteien übereinstimmend die Hauptsache für erledigt erklärt. Die Beklagte behauptet, bei den der Bürgschaft vorausgegangenen Verhandlungen sei nur von einer zusätzlichen Sicherheit in Höhe von 100.000 DM wegen des Ausfalls von Kundenforderungen die Rede gewesen. Sie hat ihre Erklärung deshalb wegen arglistiger Täuschung angefochten und geltend gemacht, die Bürgschaft verstoße gegen die guten Sitten.

Das Landgericht hat unter Aufhebung des Vollstreckungsbescheids die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht den Vollstreckungsbescheid in Höhe von 150.000 DM aufrechterhalten. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision hat Erfolg; die Klage ist unbegründet.

I.

Das Berufungsgericht hat die Auffassung vertreten, die Bürgschaft sei nicht gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig, und zur Begründung ausgeführt:

Die Beklagte sei weder von ihrem damaligen Verlobten noch von der Klägerin unter Druck gesetzt worden, die Bürgschaft zu übernehmen. Selbst wenn der Vorschlag dazu von der Klägerin ausgegangen sei, beständen keine Anhaltspunkte dafür, daß sie in unlauterer Weise in das Selbstbestimmungsrecht der Beklagten eingegriffen habe.

Die Beklagte sei durch die eingegangene Verpflichtung auch nicht in offenkundiger, krasser Weise überfordert worden. Bei Übernahme der Bürgschaft hätten der Kreditverbindlichkeit des Hauptschuldners von etwa 900.000 DM die Grundschuld auf dem mit 720.000 DM bewerteten Betriebsgrundstück, Sicherungsübereignungen in einer Größenordnung von ca. 76.000 DM sowie Forderungszessionen im Nennwert von 256.000 DM gegenübergestanden. Durch die Haftung der Beklagten habe lediglich ein zusätzlicher Kreditbedarf von etwa 140.000 DM abgesichert werden sollen. In Anbetracht ihres monatlichen Nettoverdienstes sei die Bürgschaft kein wirtschaftlich sinnloses Geschäft gewesen, auch wenn die Beklagte den Kredit nicht allein aus eigenen Mitteln habe bedienen können.

Die Verpflichtung der Beklagten beschränke sich jedoch auf diejenige Verbindlichkeit des Hauptschuldners, die den Anlaß für das Verlangen nach Verstärkung der Sicherheiten gebildet habe. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei der Wunsch der Klägerin allein mit dem drohenden Ausfall von Kundenforderungen begründet worden. Die Erstreckung der Bürgschaft auf alle Verbindlichkeiten des Hauptschuldners sei deshalb überraschend im Sinne des § 3 AGBG gewesen und habe die Beklagte in einer den Geboten von Treu und Glauben widersprechenden Weise unangemessen benachteiligt (§ 9 AGBG).

II.

Diese Erwägungen berücksichtigen nicht alle rechtlich wesentlichen Umstände und tragen daher, soweit der Klage stattgegeben wurde, die angefochtene Entscheidung nicht.

1. Das Berufungsgericht geht im Ansatz zutreffend davon aus, daß die von der Rechtsprechung des Senats herausgearbeiteten Grundsätze zur Bürgschaft finanziell überforderter Ehegatten auf die Verpflichtung der Beklagten Anwendung finden. Diese war bei Erteilung der Bürgschaft mit dem Hauptschuldner verlobt und lebte mit ihm – was entgegen der Meinung der Revision in den Tatsacheninstanzen nicht bestritten wurde – in eheähnlicher Gemeinschaft. Daher stellt sich nicht die Frage, ob Bürgschaften, die Arbeitnehmer zugunsten des Betriebsinhabers erteilen, mit den guten Sitten zu vereinbaren sind. Infolge der emotionalen Bindung, die zwischen dem Kreditnehmer und der Beklagten bereits bei Haftungsübernahme bestand, ist die Bürgin ebenso schutzwürdig wie der Ehepartner, der eine vergleichbare Haftung übernimmt (vgl. BGH, Urt. v. 23. Januar 1997 – IX ZR 55/96, WM 1997, 465). Der Klägerin war die persönliche Beziehung zwischen dem Hauptschuldner und der Beklagten bekannt.

2. Bei Abschluß des Bürgschaftsvertrages bestand kein vernünftiger Zweifel daran, daß die Beklagte, der nur das monatliche Einkommen im Betrieb ihres Verlobten zur Verfügung stand, voraussichtlich finanziell niemals in der Lage sein würde, die gesamte verbürgte Schuld zu tilgen. Der pfändbare Betrag eines monatlichen Nettoverdienstes von 3.500 DM beläuft sich auf 1.603,70 DM, was, berechnet auf das Jahr, etwa 20.000 DM ergibt. Es versteht sich von selbst, daß damit eine Kreditverbindlichkeit in der Größenordnung von 900.000 DM niemals getilgt werden kann.

Der Umstand allein, daß der Lebenspartner eine Bürgschaft eingegangen ist, die ihn finanziell überfordert, macht das Rechtsgeschäft indessen nicht sittenwidrig (BGHZ 128, 230, 232; BGH, Urt. v. 18. Januar 1996 – IX ZR 171/95, WM 1996, 519, 521; v. 25. April 1996 – IX ZR 177/95, WM 1996, 1124, z.V. in BGHZ 132, 328 bestimmt). Vielmehr müssen Umstände hinzukommen, durch die ein unerträgliches Ungleichgewicht zwischen den Vertragspartnern hervorgerufen wird, welches die Verpflichtung des Bürgen auch unter Berücksichtigung der berechtigten Belange des Gläubigers rechtlich nicht mehr hinnehmbar erscheinen läßt (BGHZ 125, 206, 210 f; 128, 230, 232, 234; BGH, Urt. v. 18. Januar 1996, aaO; vgl. auch BVerfGE 89, 214, 232 ff). Entsprechende Voraussetzungen sind insbesondere dann gegeben, wenn die Entscheidungsfreiheit des Bürgen in rechtlich anstößiger Weise beeinträchtigt wurde und der Gläubiger sich dies zurechnen lassen muß (Senatsurt. v. 25. April 1996, a.a.O. S. 1124 f; v. 16. Januar 1997 – IX ZR 250/95, WM 1997, 511, 512). Auch ohne solche gegen die Rechts- und Sittenordnung verstoßende Einwirkungen auf die Entschließungsfreiheit des Bürgen kann der Vertrag im Einzelfall gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig sein. Besteht ein krasses Mißverhältnis zwischen dem Haftungsumfang und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Bürgen, sind folglich dessen finanzielle Mittel, bezogen auf die Höhe der gesamten Hauptschuld, praktisch bedeutungslos und ist unter keinem Gesichtspunkt ein rechtlich vertretbares Interesse des Kreditgebers an einer Verpflichtung in dem vereinbarten Umfang erkennbar, so ist zu vermuten, daß der Bürge sich auf eine solche Verpflichtung nur aufgrund emotionaler Bindung an den Hauptschuldner infolge mangelnder Geschäftsgewandtheit und Rechtskundigkeit eingelassen und die Bank dies in verwerflicher Weise ausgenutzt hat (vgl. BGHZ 98, 174, 178; 128, 255, 267). Einem solchen wirtschaftlich sinnlosen Geschäft, das nicht maßgeblich von unabhängigen, eigenverantwortlichen Erwägungen des Bürgen gesteuert wird, die ihre Ursache außerhalb der persönlichen Beziehung zum Hauptschuldner haben (vgl. BGHZ 125, 206, 211, 216 f), versagt die Rechtsordnung durch § 138 Abs. 1 BGB jegliche Wirkung (Senatsurt. v. 18. Januar 1996, aaO; v. 25. April 1996, aaO; v. 23. Januar 1997, a.a.O. S. 496).

3. Die Unwirksamkeit des Bürgschaftsvertrages folgt bereits aus dem groben Mißverhältnis zwischen dem Verpflichtungsumfang und der Leistungsfähigkeit der Beklagten sowie der Tatsache, daß die Klägerin kein berechtigtes Interesse an Inhalt und Umfang einer Bürgschaft hatte, wie sie hier vereinbart wurde.

a) Der Senat bejaht ein solches Mißverhältnis in der Regel, wenn die pfändbaren Einkünfte des Bürgen voraussichtlich nicht ausreichen, in fünf Jahren ein Viertel der Hauptsumme abzudecken (Senatsurt. v. 25. April 1996, aaO). Das Einkommen, das die Beklagte bei Vertragsschluß bezog, ließ pfändbare Beträge von höchstens 100.000 DM innerhalb von fünf Jahren erwarten, also lediglich etwa 11 % der damals offenen Hauptverbindlichkeit.

b) Das Berufungsgericht nimmt allerdings zutreffend an, daß für die Frage, ob eine offenkundige, sittenwidrige Überforderung der Bürgin zu bejahen ist, alle bei Vertragsschluß erkennbaren Umstände zu berücksichtigen sind (Senatsurt. v. 18. Januar 1996 aaO). Daher kann trotz eines Nominalbetrages der Bürgschaftsverpflichtung, welcher jedes vernünftige Maß übersteigt, eine krasse Überforderung des Bürgen zu verneinen sein, sobald dieser infolge der übrigen dem Gläubiger gewährten Sicherheiten davor geschützt ist, daß er bei Fälligkeit der Hauptforderung in einem Maße in Anspruch genommen wird, das völlig außer Verhältnis zu seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit steht. Eine entsprechende Risikobegrenzung bejaht das Berufungsgericht; das hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

Der Gläubiger ist in analoger Anwendung der §§ 774, 412, 401 BGB verpflichtet, selbständige Sicherungsrechte, die nicht kraft Gesetzes übergehen, auf den zahlenden Bürgen zu übertragen (BGHZ 78, 137, 143; 110, 41, 43). Dieser wird gemäß § 776 BGB insoweit frei, als der Gläubiger eine anderweitige Sicherheit aufgibt und der Bürge hieraus nach § 774 BGB hätte Ersatz verlangen können. Diese den Bürgen schützende Vorschrift hat die Klägerin in Ziffer 7 des Vertrages formularmäßig abbedungen. Zwar hat die Rechtsprechung eine solche Klausel bisher nach dem AGB-Gesetz nicht beanstandet (vgl. BGHZ 78, 137; 95, 350; BGH, Urt. v. 7. November 1985 – IX ZR 40/85, ZIP 1986, 85, 88). Ob daran für die Zukunft uneingeschränkt festzuhalten ist, braucht nicht entschieden zu werden. Jedenfalls muß die Bank, die Schutzrechte des Bürgen beschneidet, dann auch die Folgen hinnehmen, die sich daraus für die Beurteilung ergeben, inwieweit der Bürge durch Hingabe anderer Sicherheiten vor einer seine finanzielle Leistungsfähigkeit übersteigenden Inanspruchnahme geschützt ist.

Hier hat sich die Bank nicht nur die Befugnis einräumen lassen, Sicherungsrechte nach ihrem Ermessen zum Nachteil des Bürgen freizugeben, sondern sich auch vorbehalten, ohne dessen Zustimmung weitere – ebenfalls durch die nach oben offene Bürgschaft gesicherte – Kredite zu gewähren, mit dem Hauptschuldner Stundung zu vereinbaren und sogar einen Vergleich zu schließen, ohne daß sich die Forderung aus der Bürgschaft nach §§ 767 Abs. 1, 768 BGB reduzieren sollte. Infolge einer solchen Vertragsgestaltung mußte die Beklagte von Anfang an befürchten, daß sie weit über den Betrag von 150.000 DM hinaus, welcher nach Feststellung des Berufungsgerichts den Anlaß für den Vertrag bildete, in Anspruch genommen wurde. Die Bestimmung des § 138 Abs. 1 BGB wendet sich schon gegen die Vereinbarung von Verträgen mit sittlich bedenklichem Inhalt. Daher kommt es grundsätzlich auf das sich aus der Vertragsgestaltung ergebende rechtliche Risiko an, sofern dieses nicht ausnahmsweise durch tatsächliche, den Beteiligten schon bei Vertragsschluß offenbare Umstände faktisch hinreichend sicher deutlich herabgesetzt war (vgl. BGH, Urt. v. 30. März 1995 – IX ZR 98/94, WM 1995, 900, 903).

Grundsätzlich nicht maßgeblich ist somit, in welcher Weise der Vertrag später praktiziert wird. Im übrigen bestätigt hier auch der Geschehensverlauf die rechtliche Beurteilung. Die Klägerin hat nach Erteilung der Bürgschaft jedenfalls geduldet, daß der Hauptschuldner das laufende Konto um weitere 120.000 DM überzogen hat. Die von ihr geltend gemachte Forderung erhöhte sich zwischenzeitlich auf mehr als 1,1 Mio DM. Außergerichtlich hat sie die Beklagte in Höhe von über 900.000 DM in Anspruch genommen und später gegen sie einen Vollstreckungsbescheid über einen als Teilforderung bezeichneten Betrag von 300.000 DM erwirkt.

c) Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist das Begehren des Kreditgebers, den Lebenspartner in einem seine finanziellen Verhältnisse übersteigenden Maße in die Haftung einzubeziehen, in der Regel vertretbar, wenn der Gläubiger sich dadurch wirksam vor Vermögensverlagerungen vom Hauptschuldner auf den Partner schützen kann (BGHZ 128, 230, 234; Senatsurt. v. 23. Januar 1997 – IX ZR 55/96, WM 1997, 465, 466, und IX ZR 69/96, WM 1997, 467, 468, z.V. in BGHZ bestimmt). Hier durfte die Klägerin jedoch unter diesem Gesichtspunkt keine Bürgschaft in Höhe von 900.000 DM verlangen.

Als die Beklagte die Verpflichtung einging, hatte die Klägerin eine Erweiterung des damals bestehenden Kreditrahmens von etwa 900.000 DM nicht mit dem Geschäftsinhaber vereinbart. Eine solche wurde auch nicht bei den Verhandlungen, die der Bürgschaft vorausgingen, in Aussicht gestellt. Die Klägerin nahm damals selbst an, sie werde bei einem Scheitern der Geschäftsverbindung mit dem Kreditnehmer in der Lage sein, sich aus den übrigen ihr übertragenen Sicherheiten mindestens in Höhe von 750.000 DM zu befriedigen. Dies war, wie die spätere Verwertung gezeigt hat, realistisch. Im Zeitpunkt des Vertragsschlusses hatte die Klägerin daher lediglich in Höhe des Restrisikos von etwa 150.000 DM berechtigte Gründe, sich durch die Haftung der Beklagten auch vor Vermögensverlagerung zu schützen. Der vertraglich vereinbarte Umfang der Bürgschaft steht zu diesem Interesse ersichtlich nicht in einer vernünftigen Relation.

d) Die Beklagte hat die Bürgschaft nach den Feststellungen des Berufungsgerichts aus den in solchen Fällen üblichen Motiven erteilt. Ihre Entschließung war also wesentlich von persönlicher Zuneigung zum Hauptschuldner sowie von der Hoffnung geprägt, auf diese Weise den Erhalt des Betriebes zu sichern, der die Grundlage für die gemeinsame Lebensgestaltung der Beklagten mit dem Hauptschuldner bildete. Darüber hinausgehende eigenverantwortliche Erwägungen oder selbständige unternehmerische Absichten (vgl. dazu BGHZ 125, 206, 216 f) waren bei dieser Entscheidung nicht im Spiel. Daher ist es gerechtfertigt, den Vertrag als wirtschaftlich sinnlos, seinem Inhalt nach nur aufgrund einer ausgeprägten Vertragsunterlegenheit der Beklagten (vgl. BVerfGE 89, 214, 232 ff) zustande gekommen und deshalb sittenwidrig anzusehen.

4. Der Bürgschaftsvertrag kann schließlich nicht deshalb in Höhe von 150.000 DM aufrechterhalten werden, weil bei einer Beurteilung nach §§ 3, 9 AGBG der Teil der Verpflichtung, der nicht überraschend war, Bestand hat.

a) Ob eine vorformulierte Klausel nach § 9 AGBG zu beanstanden ist, ergibt sich aufgrund einer generalisierenden und typisierenden, von den Umständen des Einzelfalles unabhängigen Beurteilung (BGHZ 98, 303, 308; 110, 241, 244; BGH, Beschl. v. 16. April 1996 – XI ZR 234/95, ZIP 1996, 957, 960). Die Kontrolle nach § 3 AGBG kann zwar von den konkreten Umständen des Vertragsschlusses beeinflußt werden (BGHZ 102, 152, 159; 109, 197, 201; Senatsurt. v. 17. März 1994, aaO), geht aber ebenfalls von einem generellen Maßstab aus, der auf die allgemein zu erwartende Erkenntnismöglichkeit des für derartige Verträge zu erwartenden Kundenkreises abstellt (vgl. BGHZ 101, 29, 33; BGH, Urt. v. 20. September 1989 – VIII ZR 239/88, NJW 1990, 247, 249; Ulmer/Brandner/Hensen, AGBG 7. Aufl. § 3 Rdnr. 13 f). Die Voraussetzungen für das Eingreifen dieser Normen liegen zudem wesentlich niedriger als die Schranke des § 138 Abs. 1 BGB, der eine grobe Interessenbeeinträchtigung und zusätzlich eine subjektiv verwerfliche Haltung voraussetzt. Die Frage, ob ein Rechtsgeschäft die Grenzen der durch die Privatautonomie gewährten Freiheit der Vertragsgestaltung überschreitet und deshalb gegen § 138 BGB verstößt, hat aufgrund einer Gesamtwürdigung der getroffenen Vereinbarungen, unter Berücksichtigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck der Regelung sowie aller Umstände des Einzelfalles, zu erfolgen. Die enge persönliche Verbindung zwischen der Beklagten und dem Hauptschuldner sowie die Tatsache, daß die Bürgin durch den für sie überraschenden Umfang der Haftung bei weitem finanziell überfordert wurde, sind deshalb nur für die Beurteilung, ob der Vertrag gegen die guten Sitten verstößt, nicht dagegen im Rahmen der Klauselkontrolle nach §§ 3, 9 AGBG, von Bedeutung.

b) Wegen der nach § 138 Abs. 1 BGB erforderlichen Gesamtbetrachtung sind alle Abreden zu berücksichtigten, unabhängig davon, ob sie aufgrund anderer gesetzlicher Bestimmungen keine Wirksamkeit erlangen können. Durch die Rechtsnorm des § 138 Abs. 1 BGB soll erreicht werden, daß ein Vertrag, der, als Ganzes gesehen, sich als ein mit den guten Sitten nicht vereinbares Geschäft erweist, insgesamt keine Rechtswirkungen äußert. Diese Rechtsfolge könnte die Vorschrift nur sehr eingeschränkt entfalten, wenn alle Abreden, die schon aus anderen Gründen nicht wirksam geworden sind, zuvor auszuscheiden wären. Daher hat die höchstrichterliche Rechtsprechung nach den §§ 9 bis 11 AGBG unwirksame Klauseln in die Prüfung, ob der Vertrag mit den guten Sitten unvereinbar ist, einbezogen (BGHZ 80, 153, 172; 98, 174, 177; BGH, Urt. v. 27. Januar 1988 – VIII ZR 155/87, NJW 1989, 1373, 1375). Für eine Klausel, die nach § 3 AGBG unwirksam ist, gilt nichts anderes. Die Beschränkung der Vertragskorrektur auf die Nichtigkeit einzelner Klauseln dient in der Regel den vernünftigen Interessen beider Partner (vgl. § 6 Abs. 3 AGBG). Davon kann aber keine Rede sein, wenn das Rechtsgeschäft als Ganzes zum Nachteil des Kunden die Grenzen der Vertragsfreiheit nicht beachtet hat. Wollte man anders entscheiden, würden sich in einem Fall wie dem vorliegenden die Bestimmungen des AGBG zum Vorteil des Klauselverwenders auswirken: Der Vertrag bliebe nur deshalb wirksam, weil die die Beklagte überraschende Klausel nach § 3 AGBG vorweg entfallen und sich der Umfang der Verpflichtung dadurch auf 150.000 DM reduzieren würde. Das der Klägerin an sich zur Last fallende Moment hätte sich im Endergebnis zu ihren Gunsten ausgewirkt. Das widerspräche auch dem Schutzzweck der Vorschriften des AGBG. Daher hat es dabei zu verbleiben, daß der Bürgschaftsvertrag nichtig ist.

III.

Da sich dies auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen ergibt und diese nicht angegriffen sind, kann der Senat in der Sache selbst entscheiden und im Ergebnis das erstinstanzliche Urteil wiederherstellen (§ 565 Abs. 3 Nr. 1 ZPO).

 

Unterschriften

Brandes, Kreft, Stodolkowitz, Kirchhof, Fischer

 

Fundstellen

Haufe-Index 542295

BGHZ

BGHZ, 347

NJW 1997, 3372

FamRZ 1998, 85

FuR 1998, 57

NJW-RR 1998, 1273

JurBüro 1998, 164

Nachschlagewerk BGH

WuB 1998, 113

ZIP 1997, 1957

MDR 1997, 1103

ZBB 1997, 385

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge