Leitsatz (amtlich)

Wer die Gegenpartei schuldhaft in der Möglichkeit beschneidet, den Anscheinsbeweis zu erschüttern oder zu widerlegen, kann sich nicht auf die Grundsätze des Anscheinsbeweises berufen.

 

Normenkette

ZPO § 286

 

Verfahrensgang

OLG Nürnberg (Urteil vom 13.07.1994)

LG Nürnberg-Fürth

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 12. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 13. Juli 1994 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Im Dezember 1988 versandte die S. AG in E. 24 Colli mit Elektroanlagen und Material im Gesamtgewicht von 14.033 kg nach B. (VR China). Mit der Organisation der Beförderung war die Firma K. betraut, die für den Lufttransport von M. nach S. die Klägerin beauftragte. Diese beauftragte die Beklagte, die 24 Colli für den Lufttransport auf Paletten aufzubauen. Am 16. Dezember 1988 sollte die Holzkiste Nr. K 020/8216 (Länge 2,90 m, Höhe 2,50 m, Breite 0,85 m) mit einem Gewicht von 1.135 kg auf einem Dolli-Transportwagen um etwa 10 cm nach links verschoben werden. Dabei fiel die Kiste von dem Gabelstapler auf die Deichsel des Transportwagens. Ohne einen Schaden durch einen Havariekommissar beurteilen zu lassen, wurde die Kiste anschließend über P. nach S. geflogen. Im Walzwerk B. wurde Anfang Januar 1989 festgestellt, daß die in der Kiste transportierten Schaltschränke schwer beschädigt waren. Schadensmeldungen erfolgten am 6. und 30. Januar 1989.

In einem Vorprozeß hat der Transportversicherer der S. AG gegen die Klägerin Regreßansprüche geltend gemacht. Das Landgericht Nürnberg-Fürth (3 HK 1743/91) hat die Klägerin zur Zahlung von 60.722,50 DM nebst Zinsen verurteilt. Berufung (12 U 3644/91 OLG Nürnberg) und Revision blieben ohne Erfolg. In diesem Verfahren hatte die Klägerin der Beklagten des vorliegenden Rechtsstreits den Streit verkündet.

Im vorliegenden Rechtsstreit verlangt die Klägerin von der Beklagten Ersatz von Transportschäden in Höhe von 60.722,50 DM und von Anwaltskosten über 22.333,70 DM. Das Landgericht hat der Klägerin 60.722,50 DM für den Transportschaden zugesprochen und im übrigen die Klage abgewiesen. Auf die Berufung beider Parteien hat das Oberlandesgericht der Klägerin weitere 17.063,11 DM zuerkannt und im übrigen die Rechtsmittel zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Die Klägerin bittet um Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision hat Erfolg; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I. 1. Das Berufungsgericht hat einen Schadensersatzanspruch der Klägerin aus positiver Vertragsverletzung bejaht. Es hat, insoweit von der Revision nicht beanstandet, angenommen, daß die Beklagte schuldhaft gegen ihre Pflichten aus dem Werkvertrag verstoßen hat, indem ihre Mitarbeiter sorglos mit dem Transportgut umgegangen seien, so daß es zu Boden stürzte. Es hat weiter ausgeführt, nach den Regeln des Anscheinsbeweises seien die Beschädigungen am Transportgut durch den unstreitigen Betriebsunfall verursacht worden, weil der Sturz des in einer Holzkiste verpackten Transportgutes vom Wagen in hohem Maße geeignet sei, die später in China festgestellten Beschädigungen herbeizuführen, und andere Schadensursachen weder vorgetragen noch anderweit hervorgetreten seien. Zwar könne sich die Beklagte trotz der Interventionswirkung der Entscheidungen im Vorprozeß darauf berufen, daß die Klägerin durch ihre Weigerung, zur sofortigen Untersuchung des Transportgutes einen Havariekommissar herbeizurufen, dazu beigetragen habe, daß der Schaden erst nach Tagen in China festgestellt worden sei. Dies rechtfertige aber keine andere Beurteilung. Dabei könne dahinstehen, ob diese Verhinderung schuldhaft verursacht worden sei. Selbst wenn es sich um eine Beweisvereitelung handele, könne sie nur im Rahmen der Beweiswürdigung Berücksichtigung finden. Im vorliegenden Fall müßten danach zwar auch geringe Zweifel an der Wahrscheinlichkeit des behaupteten Schadensverlaufs zu Lasten der Klägerin gehen. Der Vortrag der Beklagten sei indes nicht geeignet, die hohe Wahrscheinlichkeit der Schadensverursachung durch den Sturz des Transportgutes in der Obhut der Beklagten in Frage zu stellen, weil für einen vergleichbaren weiteren Sturz jegliche Anhaltspunkte fehlten.

Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision im Ergebnis nicht stand.

2. Allerdings kann die Revision nicht mit Erfolg geltend machen, das Berufungsgericht habe die Grundsätze des Anscheinsbeweises verkannt. Die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anscheinsbeweises zugunsten der Klägerin lägen nicht vor. Insbesondere habe das Berufungsgericht ohne Darlegung eigener Sachkunde und auch in der Sache unrichtig einen nach der Lebenserfahrung typischen Geschehensablauf angenommen. Es habe nicht berücksichtigt, daß ein etwaiger Anscheinsbeweis nach dem unter Beweis gestellten Sachvortrag der Beklagten entkräftet sei.

Diesen Rügen der Revision steht die Interventionswirkung des Vorprozesses entgegen, in welchem die Klägerin der Beklagten den Streit verkündet hatte. Mach §§ 74, 68 ZPO muß die Beklagte als Streitverkündete im Vorprozeß ergangene Entscheidungen gegen sich gelten lassen. Die mit der Streitverkündung verbundene Bindungswirkung, die darin besteht, daß der Streitverkündete im Regreßprozeß gegen ihn nicht mit der Behauptung gehört wird, der Prozeß sei unrichtig entschieden, bezieht sich nicht nur auf den Inhalt der Entscheidung, also das festgestellte Rechtsverhältnis oder die ausgesprochene Rechtsfolge, sondern zusätzlich auf alle tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der Entscheidungsgründe des Vorprozesses (BGHZ 85, 252, 255; BGHZ 96, 50, 53; BGHZ 100, 257, 262; BGHZ 103, 275, 278). Das Berufungsgericht hat in seinem Urteil vom 9. April 1992 (12 U 3644/91) in dem Vorprozeß ausgeführt: „Es besteht für den Senat kein Zweifel, daß der Betriebsunfall, so wie er unstreitig zwischen den Parteien ist, in hohem Maße geeignet war, die Zerstörung an den Schaltkästen herbeizuführen. Wie zwischen den Parteien unstreitig ist, ist die Holzkiste samt den darin befindlichen Schaltkästen beim Versuch, diese auf dem Transportwagen etwas seitlich zu verschieben, von dort heruntergekippt und teilweise auf der Deichsel des Transportwagens, teilweise auf den Beinen eines Lagerarbeiters aufgeschlagen. Die Wucht, die sich aus dem Gewicht von über einer Tonne und dem Weg, den der oberste Teil der Kiste beim Herunterkippen zurücklegen mußte (2,50 m), ergibt, ist durchaus geeignet, das Gehäuse der Schaltkästen erheblich zu beschädigen und die Elektronik und die elektrische Verdrahtung im Innern der Schaltkästen zu zerstören. Der Umstand, daß die Holzkiste … äußerlich nur leichte Schrammen aufwies, steht dem nicht entgegen. Es bedarf keiner besonderen Erläuterung, daß elektronische oder elektrische Bauteile durch Erschütterungen aus ihren Befestigungen gerissen bzw. sonst zerstört werden können, ohne daß das Gehäuse besonderen Schaden erleidet. Gleiches gilt für Blechbauteile, die wesentlich weniger stabil sind als Holzkästen für den Transport.” Daraus hat das Berufungsgericht in dem Vorprozeß nach den Regeln des Beweises des ersten Anscheins geschlossen, daß der Betriebsunfall ursächlich für den Schaden war, zumal von selben der Beklagten und der Streitverkündeten konkrete Hinweise auf eine mögliche andere Schadensursache fehlten.

Infolge der Interventionswirkung steht deshalb im Streitfall zwischen den Parteien fest, daß der Sturz der Holzkiste vom Wagen an sich geeignet war, den später in China festgestellten Schaden an den Schaltschränken herbeizuführen, und daß nach den Regeln des Anscheinsbeweises in dem Betriebsunfall die Schadensursache zu sehen ist, weil andere Ursachen weder vorgetragen noch ersichtlich sind.

3. Mit Recht hat das Berufungsgericht andererseits angenommen, daß die Interventionswirkung nach den §§ 74, 68 ZPO nicht entgegensteht, soweit die Beklagte sich damit verteidigt, die Klägerin habe nach dem Betriebsunfall sich einer sofortigen Untersuchung des Transportgutes wegen vermeintlicher Eilbedürftigkeit und der bestehenden Möglichkeit, das Gut auch nach Beendigung des Transportes zu untersuchen, widersetzt. Zwar hat das Berufungsgericht bereits in seinem, im Vorprozeß ergangenen Urteil vom 9. April 1992 hierzu ausgeführt, die Beklagte (jetzige Klägerin) habe nach dem Betriebsunfall die Firma K. verständigt, aber das Gut noch am selben Abend ohne eigene oder fremde Untersuchung weiterbefördert; sie habe die Anregung der Streitverkündeten (jetzigen Beklagten), einen Havariekommissar beizuziehen, zurückgewiesen. Die Feststellungen schließen aber nicht aus, daß sich die Beklagte hierauf auch im vorliegenden Rechtsstreit berufen kann. Denn es handelt sich um Tatsachen, die gegen die Klägerin als damalige Hauptpartei gerichtet sind und deren Ausführung der Beklagten als Streithelferin wegen der Beschränkung des § 67 ZPO nicht möglich war. Soweit eine Partei gehindert ist, auf den Verlauf des Vorprozesses Einfluß zu nehmen und ihren eigenen Standpunkt zur Geltung zu bringen, weil sie auf die Unterstützung der Hauptpartei beschränkt ist, tritt die Bindungswirkung der §§ 74, 68 ZPO nicht ein (BGH, Urt. v. 8.10.1981 – VII ZR 341/80, NJW 1982, 281, 282; BGHZ 100, 257, 262 f.). Insoweit konnte sich die Beklagte deshalb im vorliegenden Rechtsstreit uneingeschränkt verteidigen, wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat.

4. Das Berufungsgericht hat angenommen, daß das von der Beklagten behauptete Verhalten der Klägerin nach dem Betriebsunfall als eine „Art der Beweisvereitelung” angesehen werden könne, die allerdings nicht dazu führe, daß die Regeln des Anscheinsbeweises außer Kraft gesetzt würden. Zwar sei die Beweisvereitelung im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen. Im vorliegenden Fall bedeute dies, daß es der Beklagten erleichtert möglich sein müsse, den Beweis des ersten Anscheins zu erschüttern, was der Beklagten nicht gelungen sei; denn auch unter Anwendung mildester Maßstäbe könne der Vortrag der Beklagten, die Straßenverhältnisse in China seien nicht gut, und sie wisse nicht, was sonst auf dem Transportweg geschehen sei, nicht genügen, die hohe Wahrscheinlichkeit der Schadensverursachung durch den Sturz auch nur in Frage zu stellen. Dagegen wendet sich die Revision mit Erfolg.

a) Auszugehen ist im Streitfall von der Darlegungs- und Beweispflicht der Klägerin. Die Klägerin, die von der Beklagten Schadensersatz aus Werkvertrag verlangt, hat darzulegen und zu beweisen, daß die Beklagte durch die Pflichtverletzung ihrer Mitarbeiter den später in China festgestellten Schaden an den Schaltschränken schuldhaft herbeigeführt hat. Sprechen typische Geschehensabläufe für die Schadensverursachung durch die Beklagte, so kann das Gericht im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 286 ZPO den Beweis als geführt ansehen. Beim Beweis des ersten Anscheins handelt es sich nicht um ein besonderes Beweismittel, sondern um den konsequenten Einsatz von Sätzen der allgemeinen Lebenserfahrung bei der Überzeugungsbildung im Rahmen der freien Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO. Mit Hilfe der allgemeinen Lebenserfahrung können fehlende konkrete Indizien bei der Beweiswürdigung überbrückt werden. Die anzuwendenden Erfahrungssätze müssen deshalb geeignet sein, die volle Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung zu begründen (BGH, Urt. v. 17.2.1988 – IVa ZR 277/86, NJW-RR 1988, 789, 790; BGHZ 100, 31, 33; MünchKomm./Grunsky, BGB, 2. Aufl., Vor § 249 Rdn. 139; MünchKomm./Prütting, ZPO, § 286 Rdn. 51 f.; Palandt/Heinrichs, BGB, 56. Aufl., Vorbem. Vor § 249 Rdn. 163; Rosenberg/Schwab/Gottwald, aaO, 15. Aufl., § 115 III I.).

b) Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler angenommen, daß die Grundsätze des Anscheinsbeweises im vorliegenden Fall an sich die Schlußfolgerung rechtfertigen, daß der festgestellte Schaden an den Schaltschränken auf den von der Beklagten zu vertretenden Transportunfall am Flughafen M. zurückzuführen ist. Das wird auch von der Revision nicht angegriffen.

Im rechtlichen Ansatzpunkt zutreffend geht das Berufungsgericht weiterhin davon aus, daß bei einer sachgerechten Beweiswürdigung und insoweit insbesondere auch bei der Anwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises Umstände berücksichtigt werden können, die eine vollständige Aufklärung des Sachverhalts verhindert haben, etwa das Unterlassen einer gebotenen Sicherung von Befunden oder die Zerstörung von Beweismitteln. Die ZPO trifft keine allgemeine Regelung über die Rechtsfolgen mangelnder Mitwirkung an der Sachverhaltsaufklärung oder schuldhafter Beweisvereitelung. In Rechtsprechung und Literatur haben sich jedoch allgemeine Grundsätze herausgebildet, die aus den Einzelregelungen der §§ 427, 441 Abs. 3 Satz 3, 444, 453 Abs. 2, 454 Abs. 1 ZPO und des § 242 BGB abgeleitet werden. Danach wird der Begriff der Beweisvereitelung allgemein in Fällen verwendet, in denen jemand seinem beweispflichtigen Gegner die Beweisführung schuldhaft erschwert oder unmöglich macht. Dies kann vorprozessual oder während des Prozesses durch gezielte oder fahrlässige Handlungen geschehen, mit denen bereits vorhandene Beweismittel vernichtet oder vorenthalten werden. Eine Beweisvereitelung kann aber auch in einem fahrlässigen Unterlassen einer Aufklärung bei bereits eingetretenem Schadensereignis liegen, wenn damit die Schaffung von Beweismitteln verhindert wird, obwohl die spätere Notwendigkeit einer Beweisführung dem Aufklärungspflichtigen bereits erkennbar sein mußte. Der Bundesgerichtshof läßt in solchen Fällen Beweiserleichterungen zu, die unter Umständen bis zur Umkehr der Beweislast gehen können (BGHZ 72, 132, 139; BGHZ 99, 391, 395 ff.; BGH, Urt. v. 9.11.1982 – VI ZR 23/81, NJW 1983, 332; Urt. v. 15.11.1984 – IX ZR 157/83, NJW 1986, 59, 60, 61 m.w.N.; Urt. v. 28.6.1988 – VI ZR 217/87, NJW 1988, 2949; Urt. v. 9.11.1995 – III ZR 226/94, BGHR ZPO § 286 – Beweiserleichterung 4; zum ganzen auch Baumgärtel, Die Beweisvereitelung im Zivilprozeß, Festschrift Kralik (1986), S. 63 ff.; Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, 15. Aufl., § 117 II 2a; Zöller/Greger, ZPO, 20. Aufl. Vor § 284 Rdn. 22, 25 ff.).

Ein solcher Fall der Beweisvereitelung ist hier zwar nicht in Bezug auf die primär der Klägerin obliegende Beweislast, wohl aber in Bezug auf die der Beklagten obliegende Last anzunehmen, den für die Klägerin sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern oder gar zu widerlegen. Mach den Feststellungen des angefochtenen Urteils hat die Klägerin sich der Anregung der Beklagten zur sofortigen Feststellung des Schadens noch am Flughafen durch Hinzuziehung eines Havariekommissars wegen vermeintlicher Eilbedürftigkeit widersetzt.

Die Klägerin war, wie auch das Berufungsgericht nicht verkennt, im vorliegenden Fall zur Mitwirkung an der Beweissicherung verpflichtet. Diese Pflicht ergab sich als vertragliche Nebenpflicht (§ 242 BGB) daraus, daß das Schadensereignis bei der Erfüllung des Werkvertrages durch Mitarbeiter der Beklagten eingetreten war. Mach den bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts erforderten die Umstände des Falles auch die sofortige Sicherung von möglichen Beweismitteln, weil bei einem Weitertransport des Gutes über P. nach China die Feststellung der Schadensursache zumindest zweifelhaft sein konnte. Zudem war der Klägerin aufgrund ihres Vertrages mit ihrer Auftraggeberin auch die rechtliche Möglichkeit gegeben, vor dem Weitertransport den Befund sichern zu lassen, um einen möglichen endgültigen Verlust von Beweismitteln zu verhindern. Ob der Klägerin die Notwendigkeit der Beweissicherung angesichts der geringen Beschädigungen an der Kiste erkennbar war, ob ihr die Schadensfeststellung angesichts der von ihr behaupteten Eilbedürftigkeit der Sendung unter Berücksichtigung aller Umstände zumutbar war, insbesondere, ob der Havariekommissar sofort zur Verfügung gestanden hätte, hat das Berufungsgericht bisher nicht festgestellt. Revisionsrechtlich ist daher davon auszugehen, daß die Klägerin insoweit schuldhaft ihre Pflichten verletzt hat.

c) Nicht gefolgt werden kann dem angefochtenen Urteil in seinem weiteren rechtlichen Ansatz, daß die angenommene Beweisvereitelung lediglich zu Erleichterungen bei der etwaigen Erschütterung des prima-facie-Beweises führe. Die Anwendung der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze des Anscheinsbeweises verlangt, daß der Gegenseite die Möglichkeit verbleibt, den Anscheinsbeweis zu erschüttern oder zu widerlegen. Wer daher die Gegenpartei schuldhaft in diesen Möglichkeiten beschneidet, kann sich nicht auf die Grundsätze des Anscheinsbeweises berufen, auch nicht in modifizierter Form, wie es das Berufungsgericht angenommen hat.

Die Nichtanwendung der Grundsätze des Anscheinsbeweises bedeutet allerdings nicht, daß es dem Tatrichter verwehrt wäre, bei der Würdigung aller Beweise und Indizien auch dem Umstand Rechnung zu tragen, daß der Absturz eines Behälters nach der Lebenserfahrung zu einer Beschädigung seines Inhalts führen kann. Letztlich ist allein darauf abzustellen, ob im konkreten Fall nach Überzeugung des Gerichts der Schluß gerechtfertigt ist, daß der geltend gemachte Schaden auf den festgestellten Unfall zurückzuführen ist. Bei der Würdigung ist dem Indizwert der Einzelheiten des Unfalls und der Art der später festgestellten Schäden Rechnung zu tragen. Ebenso ist zu berücksichtigen, in welchem Maße es billig ist, das Fehlen letzter Gewißheit der einen oder anderen Partei mit Rücksicht darauf anzulasten, daß sie die Möglichkeit einer Beweissicherung unmittelbar nach dem Unfall vereitelt hat, wobei auch das Verhalten der anderen Seite von Bedeutung ist.

II. Da das Berufungsgericht eine Abwägung aller Umstände in dem vorstehend beschriebenen Sinne nicht vorgenommen hat, ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Sache ist zur weiteren Sachaufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Das Berufungsgericht wird – gegebenenfalls nach weiterem Vortrag der Parteien – zu klären haben, ob die Klägerin nach dem Betriebsunfall schuldhaft ihre Mitwirkung an der Klärung des Schadenseintritts und des Schadensumfangs verweigert hat. Dazu wird das Berufungsgericht nach Aufklärung der gesamten Umstände feststellen müssen, ob nach dem Unfallhinweis und der Bitte der Beklagten, den Havariekommissar zu unterrichten, die Klägerin erkannt hat oder hätte erkennen müssen, daß eine Beweisführung später notwendig werden konnte und ob ihr die sofortige Schadensfeststellung durch einen Havariekommissar zumutbar und möglich war. Sollte sich erweisen, daß die Klägerin eine ihr zumutbare Pflicht zur Beweissicherung schuldhaft verletzt hat, wird das Berufungsgericht aufgrund der ausgeführten Grundsätze im Rahmen des § 286 ZPO das Beweisergebnis erneut zu würdigen haben. Dabei wird auch zu berücksichtigen sein, ob die Beklagte die Umstände des Unfalls der Klägerin so wiedergegeben hat, daß diese auf die Wahrscheinlichkeit eines größeren Schadens schließen konnte, oder ob die Beklagte durch Verschweigen wesentlicher Umstände dazu beigetragen hat, daß die Klägerin geglaubt hat, im Hinblick auf die geringe Wahrscheinlichkeit eines größeren Schadens einerseits und die Gefahr eines Schadens durch Transportverzögerung andererseits auf eine sofortige Klärung verzichten zu können.

 

Unterschriften

Rogge, Jestaedt, Maltzahn, Melullis, Keukenschrijver

 

Fundstellen

Haufe-Index 1237754

NJW 1998, 79

Nachschlagewerk BGH

WM 1998, 204

AP, 0

MDR 1998, 122

SGb 1998, 365

VRS 1998, 88

VersR 1998, 338

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge