Leitsatz (amtlich)

›1. Nimmt der Arzt bei einer Beckenendlage in der Form einer reinen Fußlage die Geburt durch ganze Extraktion anstelle eines Kaiserschnitts vor, so liegt darin ein Behandlungsfehler, wenn sich der kindliche Steiß noch nicht hinreichend gesenkt hat.

2. a) Erleidet ein Kind bei der Geburt durch einen Behandlungsfehler des Geburtshelfers einen schweren Hirnschaden, der zum weitgehenden Verlust der Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit führt, so liegt in der dadurch bedingten Zerstörung der Persönlichkeit ein immaterieller Schaden, der durch eine Geldentschädigung auszugleichen ist.

b) Beeinträchtigungen von solchem Ausmaß verlangen nach einer eigenständigen Bewertung und verbieten eine lediglich symbolhafte Wiedergutmachung (Aufgabe von BGH NJW 1976, 1147 = VersR 1976, 660 und NJW 1982, 2123 = VersR 1982, 880).‹

 

Tatbestand

Die Klägerin zu 1) (im folgenden Klägerin) nimmt wegen der bei ihrer Geburt am 3. Juli 1979 erlittenen schweren Gesundheitsschäden den Beklagten zu 1) (im folgenden Beklagten), damals beamteter Oberarzt an der Universitätsfrauenklinik M., auf Zahlung von Schmerzensgeldkapital und Schmerzensgeldrente in Anspruch.

Die damals 40-jährige Mutter der Klägerin hatte sich seit Januar 1979 regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen in der vorgenannten Klinik unterzogen. Dabei wurde sie darauf hingewiesen, daß sich das Kind in sogenannter Beckenendlage befinde und sie sich auf einen Kaiserschnitt einstellen müsse. Ihr Einverständnis zur Schnittentbindung erklärte sie schriftlich.

Am 3. Juli 1979 wurde die Mutter der Klägerin, die sich bereits zwei Wochen vor der Entbindung wegen Einsetzens der Wehen in die Klinik begeben hatte, zunächst von Prof. Dr. H. als dem für den Kreißsaal zuständigen Chefarzt behandelt. Gegen 13. 00 Uhr übernahm der Beklagte die Behandlung und führte die Geburt auf natürlichem Wege durch. Er schob zunächst den Rest des Muttermundes über die pralle Blase nach oben zurück und führte sodann eine Blasensprengung herbei. Es zeigte sich nun, daß eine vollständige Fußlage vorlag. Als es nach Erscheinen der Füße des Kindes zu keinem wesentlichen Geburtsfortschritt mehr kam, entschloß sich der Beklagte zur ganzen Extraktion. Dabei schlugen die Arme des Kindes hoch. Der Kopf konnte zunächst nicht entwickelt werden, weil sich der innere Muttermund straff von innen geschlossen hatte. Gegen 13. 24 Uhr wurde die Klägerin schwergeschädigt geboren.

Das Landgericht hat den Beklagten durch Teilurteil entsprechend dem Antrag der Klägerin zur Zahlung eines Schmerzensgeldkapitals von 50.000 DM und einer Schmerzensgeldrente ab 3. Juli 1979 von monatlich 500 DM verurteilt. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht das angefochtene Urteil abgeändert und den Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldkapitals von 30.000 DM und einer Schmerzensgeldrente von monatlich 250 DM verurteilt. Im übrigen hat es die Klage der Klägerin gegen den Beklagten abgewiesen und die weitergehende Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Der Beklagte erstrebt mit der Anschlußrevision die vollständige Abweisung der Klage.

 

Entscheidungsgründe

Das Berufungsgericht, das eine Haftung aus §§ 839, 847 BGB bejaht, lastet dem Beklagten als Behandlungsfehler an, daß er die Geburt der Klägerin im Wege einer ganzen Extraktion und nicht auf dem risikoärmeren Wege einer Schnittentbindung durchgeführt habe, nachdem die vollständige Fußlage des Kindes erkennbar war. Dem Sachverständigen Prof. Dr. K. folgend sieht das Berufungsgericht es zwar noch nicht als fehlerhaft an, daß der Beklagte zunächst eine vaginale Geburt angestrebt hat. Eine Schnittentbindung sei aber geboten gewesen, als nach Sprengung der Fruchtblase die reine Fußlage des Kindes festgestanden habe. Der Beklagte habe mit der Entscheidung zur ganzen Extraktion das Risiko für das Kind unterschätzt. Mit einem Kaiserschnitt hätte die Schädigung des Kindes mit hoher Wahrscheinlichkeit vermieden werden können.

Abgesehen davon hätte sich der Beklagte auch deswegen für den risikoärmeren Weg der Schnittentbindung entscheiden müssen, weil diese mit der Mutter abgeklärt gewesen sei, die darin eingewilligt habe, über die Risiken der vom Beklagten angewandten Methode hingegen nicht aufgeklärt worden sei.

I. Anschlußrevision des Beklagten

Die Angriffe, mit denen sich die Anschlußrevision gegen eine Haftung des Beklagten schon dem Grunde nach wendet, sind nicht begründet. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei einen Behandlungsfehler des Beklagten darin gesehen, daß er die Geburt der Klägerin nicht durch Kaiserschnitt, sondern auf natürlichem Wege durch eine ganze Extraktion beendet hat.

1. Die Anschlußrevision macht geltend, von einem Behandlungsfehler durch die vom Beklagten angewandte Geburtsmethode könne keine Rede sein, da im Jahre 1979 an vielen Kliniken die Extraktion bei Beckenendlagen üblich gewesen sei. Dies habe auch der Sachverständige anhand einer Statistik aus dem Jahre 1977 über die Anwendung des Kaiserschnittes oder der Extraktion in deutschen Kliniken dargelegt.

Damit kann die Anschlußrevision jedoch nicht durchdringen. Ihre Annahme, der Sachverständige Prof. Dr. K. habe allein aus der Sicht seiner Klinik geurteilt, an der in Fällen von Beckenendlagen der Kaiserschnitt bevorzugt werde, trifft nicht zu. Der Sachverständige hat zwar darauf hingewiesen, daß an seiner Klinik, der Universitätsklinik in G., aus deren Sicht er urteile, bei Vorliegen einer Fußlage wegen der bekannten Risiken grundsätzlich durch Kaiserschnitt entbunden werde. Gleichwohl hat er den Versuch, eine Fußlage vaginal zu entbinden, prinzipiell nicht als Fehler angesehen, weil es zu damaliger Zeit in der medizinischen Wissenschaft und Praxis auch gegenläufige Tendenzen gegeben und eine Vielzahl von Kliniken bei Beckenendlagen nach wie vor die Extraktion bevorzugt habe. Es ist also nicht so, wie die Anschlußrevision annimmt, daß der gerichtliche Sachverständige und ihm folgend das Berufungsgericht sich in einem medizinischen Schulenstreit über das bei Beckenendlagen einzuschlagende Verfahren einer Seite angeschlossen haben, ohne zu berücksichtigen, daß diese Auffassung von einem Großteil der Geburtshelfer nicht geteilt wird. Abgesehen davon befaßt sich die vom Sachverständigen für das Jahr 1977 aufgestellte Statistik, derzufolge in vielen Kliniken die Extraktion praktiziert werde, mit Beckenendlagen allgemein, nicht aber mit vollkommenen Fußlagen, um die es sich hier handelt.

Wenn der Sachverständige im Streitfall gleichwohl die vom Beklagten gewählte vaginale Entbindung als fehlerhaft angesehen hat, so beruht das darauf, daß, wovon auch das Berufungsgericht - von der Anschlußrevision unbeanstandet - ausgeht, sich der Steiß des Kindes im Zeitpunkt der Entscheidung zur ganzen Extraktion weder auf dem Beckenboden, noch auch nur in der Interspinalebene befunden habe. Nach seinen Ausführungen kommt eine Extraktion bei reiner Fußlage nur in Betracht, wenn ein Geburtsfortschritt durch Tiefertreten des Steißes auf den Beckenboden beobachtet werde, da dann die Arme des Kindes in der Regel nicht hochschlagen könnten und der Muttermund geöffnet sei. Nur dann sei das bekannte Risiko, daß man in diesen Fällen bei einer vaginalen Geburt in nicht mehr lösbare Probleme hineinkomme, auf ein vertretbares Maß herabgesetzt.

2. Zu Unrecht zieht die Anschlußrevision daraus, daß das Berufungsgericht in der Verengung des Muttermundes die eigentliche Ursache für die aufgetretenen Komplikationen sieht, die Fehlbeurteilung des Muttermundes durch den Beklagten gleichwohl nicht für vorwerfbar hält, den Schluß, daß damit die Grundlage für die Haftung des Beklagten entfalle. Denn die Haftung des Beklagten gründet sich nicht eigentlich auf eine etwaige Fehlbeurteilung des Muttermundes, sondern darauf, daß er zur ganzen Extraktion geschritten ist, obwohl sich der Steiß des Kindes weder auf dem Beckenboden noch wenigstens in der Interspinalebene befunden hat. Hierdurch ist der Beklagte in die vom Sachverständigen geschilderten, oben erläuterten Schwierigkeiten gekommen.

3. Ohne Erfolg beanstandet die Anschlußrevision ferner, daß das Berufungsgericht - dem Sachverständigen folgend - ausführt, es lasse sich ›nachträglich‹ feststellen, daß der gewählte Entbindungsweg falsch gewesen sei. Aus dem Gebrauch des Wortes nachträglich läßt sich nicht entnehmen, daß das Berufungsgericht die Überzeugung von der Fehlerhaftigkeit der Arztentscheidung erst aufgrund einer ex-post-Betrachtung gewonnen hat. Das Berufungsgericht hat damit ersichtlich nur die Tatsache angesprochen, daß sich die schon im Zeitpunkt der Entscheidung des Beklagten bekannten Gefahren einer solchen Komplikation im Streitfall später realisiert haben.

4. Ohne Erfolg bleibt auch die Rüge der Anschlußrevision, das Berufungsgericht habe bei der Urteilsfindung Zeugenaussagen im Ermittlungsverfahren nicht berücksichtigt, aus denen sich ergebe, daß bei dem Verlauf der Geburt ein Kaiserschnitt ausgeschlossen gewesen sei. Aus der polizeilichen Aussage des Dr. K., auf die sich der Beklagte zum Beweis eines plötzlichen Herztonabfalls bei dem Kind bezieht, ergibt sich, daß der Zeuge nur von einer entsprechenden Äußerung des Beklagten nach der Geburt berichtet hat. Auch hat der Sachverständige in der Berufungsverhandlung erklärt, er habe nach den ihm bekannten Unterlagen keinen Anhalt für Herztonabfälle. Bei der polizeilichen Aussage von Prof. Dr. H., auf die sich der Beklagte ebenfalls berufen hat, handelt es sich dagegen nicht um eine Zeugenaussage, die die Bekundung von Tatsachen zum Gegenstand hat, sondern um die Wiedergabe von Meinungen, zu deren Beurteilung die Vorinstanzen einen Sachverständigen eingeschaltet haben. Von dem Übergehen eines Tatsachenvortrages kann daher keine Rede sein.

5. Das Berufungsgericht hat nach alledem einen Behandlungsfehler des Beklagten rechtsfehlerfrei festgestellt. Es geht ferner zutreffend davon aus, daß der Arzt in Fällen von Beckenendlagen die Mutter, die, wie hier, bereits ihr Einverständnis zu einer Schnittentbindung erklärt hat, grundsätzlich über die Risiken einer vaginalen Geburt aufklären und dazu ihr Einverständnis einholen muß, wenn er die Geburt auf diese Weise durchführen will (BGHZ 106, 153, 156 ff; Senatsurteil vom 12. November 1991 - VI ZR 369/90 - VersR 1992, 237, 238). Eine solche Aufklärung hat im Streitfall, wie das Berufungsgericht unangegriffen feststellt, nicht stattgefunden. Indessen kommt es darauf für die Haftung des Beklagten letztlich nicht an, da sich die mangelnde Aufklärung nicht ausgewirkt hat. Nach den Ausführungen des Sachverständigen, denen das Berufungsgericht gefolgt ist, gab es zur Entbindung durch Kaiserschnitt aus medizinischer Sicht keine Alternative, so daß für eine Aufklärung der Mutter über die Möglichkeit einer vaginalen Geburt und ihre Risiken ohnehin kein Raum war.

II. Revision der Klägerin

Das Rechtsmittel der Klägerin zur Höhe des Schmerzensgeldes hat dagegen Erfolg. Die Revision rügt zu Recht, daß die Festsetzung des Schmerzensgeldes von Rechtsfehlern beeinflußt ist.

1. Zutreffend knüpft das Berufungsgericht allerdings bei der Bemessung des Schmerzensgeldes primär an die schweren Gesundheitsschäden der Klägerin an. Zum Ausmaß der körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, die auf die Geburt zurückzuführen sind, stellt es, dem Sachverständigen Prof. Dr. K. folgend, im einzelnen fest:

An körperlichen Behinderungen bestehen Lähmungen, vor allem beider Beine, aber auch der Arme, Muskelschwund und Muskelkontrakturen, die sämtlich als Folge der Hirnschädigung die Bewegungsfähigkeit weitgehend aufheben oder erheblich einschränken. An rudimentärer Motorik ist ansatzweise Kopfheben und Körperdrehen vorhanden, weitgehend nur - reflektorisches Greifen und Halten. Es ist nicht damit zu rechnen, daß sich die Klägerin je wird aufrichten können. Das Sehvermögen der Klägerin ist nur reflektorisch, ohne Unterscheidungsfähigkeit.

In geistiger und seelischer Hinsicht entspricht der Entwicklungsstand der Klägerin dem eines wenige Monate alten Säuglings. Die Wahrnehmungsfähigkeit geht über Perzeption und reflektorische Reaktion kaum hinaus. Die Begriffs- und Konzeptbildung als Grundlage der Erlebnisfähigkeit beschränkt sich auf einfachste Kategorien wie ›angenehm/unangenehm‹. Die Klägerin besitzt nicht die Fähigkeit zum Sprechen, sie kann nur Lautäußerungen zur Kundgabe allgemeiner Wohl- oder Unlustgefühle von sich geben. Sie verfügt in eingeschränktem Maß über Gefühlswahrnehmungen wie Freude, Wohlgefühl und Unlustgefühl, letzteres in Zusammenhang mit physikalischen Schmerz- und Geschmackswahrnehmungen. Die Erlebnisfähigkeit ist zusätzlich durch die Einnahme antieleptischer Medikamente eingeschränkt.

Das Berufungsgericht stellt ferner fest, daß die geistige und seelische Behinderung vor allem die Erlebnisfähigkeit und damit die Leidensfähigkeit beeinträchtige. Es gebe aber bei der Klägerin, wenn auch im beschränktem Maße, ein nachweisbares Erleben; so gebe die Klägerin durch ansatzweises Kopfheben kund, daß sie in die aufrechte, sitzende Körperhaltung gebracht werden möchte; auch habe sie ein Basiserleben des Alleinseins, erkennbar an ihrer Freude über Bewegung, Geräusche und Berührungen aus der Umgebung. Auf Grund dieser Feststellungen hat das Berufungsgericht ein Schmerzensgeldkapital von 30.000 DM und eine Schmerzensgeldrente von monatlich 250 DM festgesetzt. Es ist davon ausgegangen, daß ein Schmerzensgeld in der Größenordnung von 90.000 DM angemessen, aber auch ausreichend sei. Da die Rente, würde man sie kapitalisieren, zusammen mit dem Kapital von 30.000 DM diese Größenordnung erreiche, hält das Gericht die festgesetzten Beträge für vertretbar. Dabei legt es zugrunde, daß der weitgehende Wegfall der Funktionen des Schmerzensgeldes bei der Bemessung der Höhe mindernd zu berücksichtigen sei. Es führt dazu aus: Die Klägerin sei zwar noch empfindungsfähig, leide aber weder körperlich noch seelisch unter ihrer Beeinträchtigung; sie sei nicht in der Lage, einen Zusammenhang zwischen der Verletzung und der Schmerzensgeldzahlung herzustellen und könne auch eine Genugtuung nicht empfinden. Allerdings könne ihr das Leben über das Maß der normalen Pflege hinaus durch Einsatz von Geld in gewissem Umfang erleichtert werden, insbesondere könne ihr durch eine zusätzliche menschliche Zuwendung Freude bereitet werden.

2. Diese Ausführungen begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Der Senat kann schon den Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, daß das Schmerzensgeld wegen der erheblichen Einschränkung der Empfindungsfähigkeit der Klägerin weitgehend seine Funktion verliere und sich dies bei der Bemessung des Schmerzensgeldes mindernd auswirken müsse, nicht billigen.

Richtig ist allerdings, daß die Funktion des Schmerzensgeldes nach ständiger Rechtsprechung darin besteht, dem Verletzten einen Ausgleich für die erlittenen immateriellen Schäden und ferner Genugtuung für das ihm zugefügte Leid zu geben (BGHZ 18, 149, 154 ff; 80, 384, 386). Dem Ausgleichsgedanken wollte das Berufungsgericht im Streitfall auch Rechnung tragen, denn es geht davon aus, daß das Leben der Klägerin in gewissem Umfange erleichtert werden könne und deshalb für einen Ausgleich der erlittenen Schäden durch Förderung ihres Wohlbefindens durchaus Raum sei. Andererseits stellt es maßgeblich auf den weitgehenden Wegfall der Funktionen des Schmerzensgeldes ab und meint, dies sei bei der Höhe der Entschädigung mindernd zu berücksichtigen. Das Berufungsgericht verkürzt indes die Funktion des Schmerzensgeldes, wenn es selbst in Fällen, in denen die Persönlichkeit fast vollständig zerstört oder, wie hier, ihr durch ein Verschulden des Geburtshelfers die Basis für ihre Entfaltung genommen worden ist, dem Empfinden dieses Schicksals die zentrale Bedeutung für die Bemessung des Schmerzensgeldes beilegt und gerade diesem Umstand, der die besondere schwere der zu entschädigenden Beeinträchtigung für den Betroffenen ausmacht, zum Anlaß für eine entscheidende Minderung des Schmerzensgeldes nimmt. Eine solche Betrachtung ist schon deshalb verfehlt, weil sie dazu führt, ganz anders liegende Schadensfälle, in denen die Basis für die Empfindungsfähigkeit nicht so betroffen worden ist, als Maßstab für ein nicht ›herabzuminderndes‹, ›volles‹ Schmerzensgeld zu nehmen. Fälle, in denen der Verletzte durch den weitgehenden Verlust der Sinne in der Wurzel seiner Persönlichkeit getroffen worden ist, verlangen nach einer eigenständigen Bewertung dessen, was als Entschädigung für diesen immateriellen Verlust i.S. von § 847 BGB ›billig‹ ist. Es müßte angesichts des hohen Wertes, den das Grundgesetz in Art. 1 und 2 der Persönlichkeit und der Würde des Menschen beimißt, jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden als nicht auflösbarer Widerspruch in sich erscheinen, die vom Schädiger zu verantwortende weitgehende Zerstörung der Grundlagen für die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit als Umstand anzusehen, der das Schmerzensgeld mindern muß.

Allerdings kann sich das Berufungsgericht für seine Sicht auf die Rechtsprechung des Senats berufen, der in seinem Urteil vom 16. Dezember 1975 - VI ZR 175/74 - NJW 1976, 1147 = VersR 1976, 660 - die Auffassung vertreten hat, daß weder für einen Ausgleich im herkömmlichen Sinne noch für eine Genugtuung durch das Schmerzensgeld Raum sei, wenn die fast vollständige Zerstörung der Persönlichkeit den Betroffenen daran hindere, den Zusammenhang der Entschädigungszahlung mit seinem Schaden zu erfassen, so daß auch sein persönliches Befinden über die sachgemäße Pflege hinaus, die mit dem Ersatz des materiellen Schadens erfaßt wird, weder subjektiv noch objektiv gefördert werden könne. In Fortführung dieser Rechtsprechung hat der Senat in seinem Urteil vom 22. Juni 1982 - VI ZR 247/80 - NJW 1982, 2123 = VersR 1982, 880) zur Ausgleichsfunktion in Fällen dieser Art ausgeführt, daß mit dem Schmerzensgeld die Beeinträchtigung des Verletzten auszugleichen sei, die in seinem körperlichen Leiden, etwa Schmerz- und anderen Mißempfindungen, und in seinem seelischen Leiden, etwa im Empfinden der Beeinträchtigung gegenüber anderen, gesunden Menschen und dem Gefühl der Abhängigkeit von fremder Hilfe liege. Die Zubilligung eines hohen Kapitalbetrages könne dazu nichts beitragen, wenn der Verletzte gerade solche Beeinträchtigung nicht empfinde und wahrnehme. Diese Auffassung liegt auch dem Senatsurteil vom 2. Juli 1985 - VI ZR 68/84 - VRS 69, 339 - zugrunde. Wenn der Senat in solchen Fällen gleichwohl die Zahlung eines Schmerzensgeldes für notwendig hielt, so geschah dies aus der Erwägung heraus, daß dem Verletzten als zeichenhafte Sühne wenigstens eine symbolische Wiedergutmachung zugebilligt werden müsse.

Eine solche Reduzierung des Schmerzensgeldes auf eine lediglich symbolhafte Entschädigung hält der Senat nach erneuter Prüfung nicht mehr für gerechtfertigt. Sie wird der nahezu vollständigen Zerstörung der Persönlichkeit des Verletzten in Fällen schwerer Hirnschädigung nicht gerecht. Insofern hält der Senat an seiner bisherigen Rechtsprechung, wie sie in den vorgenannten Entscheidungen zum Ausdruck gekommen ist, nicht länger fest. Beeinträchtigungen von solchem Ausmaß, wie es im Streitfall bei der Klägerin der Fall ist, verlangen mit Blick auf die verfassungsrechtliche Wertentscheidung in Art. 1 GG eine stärkere Gewichtung und verbieten eine lediglich symbolhafte Bewertung. Unter diesem Blickwinkel ist weniger der für das zivilrechtliche Haftungs- und Schadensersatzrecht allgemein nicht tragfähige Gedanke der Sühne von Bedeutung, der bei Fahrlässigkeitstaten ohnehin nur eine untergeordnete Rolle spielen kann. Anzuknüpfen ist vielmehr an den immateriellen Schaden, den jemand durch eine Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung erleidet und der nach § 847 BGB durch eine Geldzahlung zu ersetzen ist. Ein solcher Schaden besteht nicht nur in körperlichen oder seelischen Schmerzen, also in Mißempfindungen oder Unlustgefühlen als Reaktion auf die Verletzung des Körpers oder die Beschädigung der Gesundheit. Vielmehr stellt die Einbuße der Persönlichkeit, der Verlust an personaler Qualität infolge schwerer Hirnschädigung schon für sich einen auszugleichenden immateriellen Schaden dar, unabhängig davon, ob der Betroffene die Beeinträchtigung empfindet. Das bedeutet nicht, daß der immaterielle Schaden generell nur in der körperlichen Beeinträchtigung zu sehen ist. Eine wesentliche Ausprägung des immateriellen Schadens kann darin bestehen, daß der Verletzte sich seiner Beeinträchtigung bewußt ist und deshalb in besonderem Maße unter ihr leidet. Dieser Gesichtspunkt kann daher für die Bemessung des Schmerzensgeldes durchaus von Bedeutung sein.

Dementsprechend erschöpft sich auch die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes nicht in der Förderung des psychischen Wohlbefindens zur Kompensation seelischen Leids oder sonstiger psychischer Mißempfindungen. Es wird dem Wesen des Schmerzensgeldes daher nicht ausreichend gerecht, wenn das Berufungsgericht lediglich darauf abstellt, daß das Leben der Klägerin in gewissem Umfang erleichtert und ihr insbesondere durch menschliche Zuwendungen Freude bereitet werden könne. Über das bloße Zuteilwerdenlassen von Annehmlichkeiten hinaus ist vielmehr der in der mehr oder weniger weitgehenden Zerstörung der Persönlichkeit bestehende Verlust, der für sich einen immateriellen Schaden darstellt, durch eine billige Entschädigung in Geld auszugleichen. In diesem Sinne hat schon der Große Senat für Zivilsachen in seinem Beschluß vom 6. Juli 1955 darauf hingewiesen, daß ›Größe, Heftigkeit und Dauer der Schmerzen und Leiden und Entstellungen‹ die wesentlichste Grundlage bei der Bemessung der Entschädigung bilden (BGHZ 18, 149, 154). Er geht also davon aus, daß neben Schmerzen und Leid die körperliche Beeinträchtigung als solche einen für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgeblichen Faktor darstellt. Ohnehin könne, so hat der Große Senat für Zivilsachen in diesem Zusammenhang weiter betont, der zum Ausgleich zu gewährende Geldbetrag nicht dadurch gefunden werden, daß man sozusagen die Schmerzen mit den Freuden saldiere, durch die der Verletzte die Erinnerung an die Schmerzen tilgen solle. Gerade bei seelischen Störungen werde ein Ausgleich der Unlustgefühle häufig deshalb nicht möglich sein, weil der Verletzte subjektiv das Bewußtsein der Schädigung nicht besitze. Trotzdem sei auch hier die Berechtigung einer Entschädigung eines immateriellen Schadens mit Recht anerkannt worden (aaO. S. 156 f).

Aus dem Gesagten ergibt sich: Der Ausgleich für diese immateriellen Einbußen ist nicht, wie es das Berufungsgericht getan hat, in der Weise vorzunehmen, daß der weitgehende Wegfall der Empfindungsfähigkeit des Verletzten bei der Bemessung des Schmerzensgeldes mindernd berücksichtigt wird. Der Richter muß vielmehr, wie in sonstigen Fällen auch, diejenigen Umstände, die dem Schaden im Einzelfall sein Gepräge geben, eigenständig bewerten und aus einer Gesamtschau die angemessene Entschädigung für das sich ihm darbietende Schadensbild gewinnen. Im Rahmen dieser Beurteilung geht es hier vor allem darum, bei der Bewertung der Einbuße der Tatsache angemessene Geltung zu verschaffen, daß die vom Schädiger zu verantwortende weitgehende Zerstörung der Grundlagen für die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit den Verletzten in seiner Wurzel trifft und für ihn deshalb existentielle Bedeutung hat. Es handelt sich bei Schäden dieser Art um eine eigenständige Fallgruppe, bei der die Zerstörung der Persönlichkeit durch den Fortfall oder das Vorenthalten der Empfindungsfähigkeit geradezu im Mittelpunkt steht und deshalb auch bei der Bemessung der Entschädigung nach § 847 BGB einer eigenständigen Bewertung zugeführt werden muß, die der zentralen Bedeutung dieser Einbuße für die Person gerecht wird. Dabei kann der Richter je nach dem Ausmaß der jeweiligen Beeinträchtigung und dem Grad der dem Verletzten verbliebenen Erlebnis- und Empfindungsfähigkeit Abstufungen vornehmen, um den Besonderheiten des jeweiligen Schadensfalles Rechnung zu tragen. Dagegen ist es dem Richter nicht erlaubt, sich an einem nur gedachten Schadensbild, das von einer ungeschmälerten Empfindungs- und Leidensfähigkeit gekennzeichnet ist, zu orientieren und sodann mit Rücksicht auf den vollständigen oder weitgehenden Wegfall der Empfindungsfähigkeit Abstriche vorzunehmen. Soweit der Senat in den genannten Entscheidungen vom 16. Dezember 1975, 22. Juli 1982 und 2. Juli 1985 aaO. eine andere Auffassung zugrunde gelegt hat, hält er nicht mehr daran fest.

Die Gewichtung der einzelnen Schadensfaktoren und ihre geldmäßige Bewertung ist in erster Linie Sache des Tatrichters. Es muß ihm daher auch im Streitfall überlassen werden, den Betrag zu ermitteln, den er als Entschädigung für die Zerstörung der Persönlichkeit der Klägerin für angemessen hält. Der Revisionsrichter kann ihm diese Aufgabe nicht abnehmen, sondern allenfalls darauf hinwirken, daß die Entschädigungskategorie für Fälle der hier vorliegenden Art nicht unvertretbar unterschritten wird. Der Senat beschränkt sich daher auf den Hinweis, daß ein Schmerzensgeld im Rahmen der hier gestellten Anträge aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden wäre.

3. Auch die teilweise Verrentung des Schmerzensgeldes neben der Festsetzung eines Kapitalbetrages, wie sie das Berufungsgericht vorgenommen hat, unterliegt revisionsrechtlichen Bedenken. Die Revision rügt insoweit zu Recht, daß angesichts der Besonderheit der gesundheitlichen Beeinträchtigung der Klägerin bei der Feststellung der Größenordnung des zugesprochenen Gesamtschmerzensgeldes nicht ohne weitere Begründung von einem Kapitalwert der Rente ausgegangen werden kann, wie er sich aufgrund einer statistischen Durchschnittslebenserwartung der Gesamtbevölkerung errechnet.

4. Ohne Erfolg beanstandet die Revision hingegen, daß sich das Berufungsgericht im Hinblick auf die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes nicht zu der Frage geäußert hat, ob der Behandlungsfehler des Beklagten als grob zu bewerten ist. Zu einer Erörterung dieser Frage besteht keine Notwendigkeit, wenn in Fällen der vorliegenden Art bei dem Verletzten ein Empfinden der Genugtuung durch eine Schmerzensgeldzahlung, für das die Bewertung des Behandlungsfehlers als grob eine Rolle spielen könnte, nicht vorhanden ist.

III. Das angefochtene Urteil kann nach alledem keinen Bestand haben, soweit das Berufungsgericht gegenüber der ersten Instanz ein geringeres Schmerzensgeld zugesprochen hat. Es ist daher insoweit aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit das Schmerzensgeld insgesamt neu zugemessen werden kann. Der Senat macht von der Möglichkeit des § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993158

BGHZ 120, 1

BGHZ, 1

NJW 1993, 781

LM H. 5/93 § 847 BGB Nr. 89

BGHR BGB § 823 Abs. 1 Arzthaftung 70

BGHR BGB § 847 Abs. 1 Hirnschädigung 1

DRsp I(125)403c

DRsp I(147)283a-b

FamRZ 1993, 413

NJW-RR 1993, 535

DAR 1993, 60

JZ 1993, 516

MDR 1993, 123

VersR 1993, 327

VersR 1993, 327, 893

ZfS 1993, 46

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