Leitsatz (amtlich)

›Ein Ausschluß der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn jemand nicht imstande ist, seinen Willen frei und unbeeinflußt von einer vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln.‹

 

Verfahrensgang

KG Berlin

LG Berlin

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit eines Kreditvertrages.

Die beklagte Bank gewährte dem Kläger ein Darlehen über 123.000 DM zur Finanzierung einer Eigentumswohnung. Der Kläger, für den seit Juni 1992 wegen erheblicher Minderbegabung bei bestehendem Analphabetismus ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis Vermögensangelegenheiten bestellt ist, behauptet, er sei bei Abschluß des Kreditvertrages im Februar 1990 geschäftsunfähig gewesen; wegen geistiger Behinderung sei er nicht in der Lage, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen.

Die Vorinstanzen haben seine Klage, die Nichtigkeit des Kreditvertrages festzustellen, abgewiesen. Mit der Revision verfolgt er sein Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I. Das Berufungsgericht hat zur Begründung der Klageabweisung ausgeführt: Der Vortrag des Klägers rechtfertige nicht den Schluß, er sei geschäftsunfähig. Es könne dahinstehen, ob die erhebliche Minderbegabung des Klägers bereits als krankhafte Störung der Geistestätigkeit einzustufen sei. Weder aus dem von ihm vorgelegten Bericht der Amtsärztin noch aus seinem sonstigen Vorbringen sei zu entnehmen, daß er sich im Jahre 1990 aufgrund Minderbegabung in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand befunden habe. Zwar werde im amtsärztlichen Bericht Geschäftsunfähigkeit des Klägers bejaht. Dies beruhe auf einer unzutreffenden rechtlichen Würdigung. Der Kläger gehe seit Jahren einer geregelten Tätigkeit als Bauhelfer nach, könne seinen Willen kundtun und sei in der Lage, die von der Betreuung ausdrücklich ausgenommenen Geschäfte des täglichen Lebens zu bewältigen. Daß ihm die Einsicht in die rechtlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge des abgeschlossenen Vertrages fehle, sei ohne Belang. Eine auf schwierige Geschäfte beschränkte relative Geschäftsunfähigkeit sei abzulehnen.

II. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Von der Zulässigkeit der Feststellungsklage nach § 256 Abs. 1 ZPO ist das Berufungsgericht allerdings zu Recht auch insoweit ausgegangen, als der Kläger auf Rückzahlung bereits erbrachter Zins- und Tilgungsleistungen hätte klagen können. Zwar fehlt es im allgemeinen an dem erforderlichen Feststellungsinteresse, soweit eine Leistungsklage möglich ist. Der Vorrang der Leistungsklage gilt aber nicht ausnahmslos. Wenn eine Feststellungsklage zur endgültigen Erledigung der aufgetretenen Streitpunkte führt, bestehen gegen die Zulässigkeit keine Bedenken (Senatsurteile vom 30. Mai 1995 - XI ZR 78/94, WM 1995, 1219, 1220 und vom 27. Juni 1995 - XI ZR 8/94, WM 1995, 1264, 1266). So liegt der Fall hier.

2. Die Ausführungen zur Begründetheit der Feststellungsklage halten den Angriffen der Revision dagegen nicht stand. Sie rügt zu Recht, daß das Berufungsgericht kein Sachverständigengutachten zu der Frage eingeholt hat, ob die freie Willensbestimmung des Klägers bei Abschluß des Kreditvertrages infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit ausgeschlossen war.

a) Das Berufungsgericht hat dahinstehen lassen, ob die erhebliche Minderbegabung des Klägers bereits als krankhafte Geistesstörung anzusehen ist. Für die Revision ist deshalb davon auszugehen.

b) Den für Geschäftsunfähigkeit nach § 104 Nr. 2 BGB weiter erforderlichen Ausschluß freier Willensbestimmung meint das Berufungsgericht weder dem Vortrag des Klägers noch dem vorgelegten Bericht der Amtsärztin entnehmen zu können. Dem kann nicht gefolgt werden.

aa) Ein Ausschluß der freien Willensbestimmung liegt vor, wenn jemand nicht imstande ist, seinen Willen frei und unbeeinflußt von der vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln. Abzustellen ist dabei darauf, ob eine freie Entscheidung nach Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist oder ob umgekehrt von einer freien Willensbildung nicht mehr gesprochen werden kann, etwa weil infolge der Geistesstörung Einflüsse dritter Personen den Willen übermäßig beherrschen (BGH; Urteile vom 14. Juli 1953 - V ZR 97/52, NJW 1953, 1342, vom 19. Juni 1970 - IV ZR 83/69, NJW 1970, 1680, 1681 und vom 20. Juni 1984 - IVa ZR 206/82, WM 1984, 1063, 1064).

Substantiiert dargelegt ist ein solcher Ausschluß nach allgemeinen Grundsätzen, wenn das Gericht auf der Grundlage des Klägervorbringens zu dem Ergebnis kommen muß, die Voraussetzungen des § 104 Nr. 2 BGB lägen vor. Auf die Wahrscheinlichkeit des Vortrags kommt es nicht an (BGH, Urteil vom 29. September 1992 - X ZR 84/90, NJW-RR 1993, 189; BGH, Urteil vom 3. Mai 1995 - VIII ZR 95/94, NJW 1995, 1958, 1959).

bb) Gemessen darin ist das Vorbringen des Klägers jedenfalls unter Berücksichtigung des von ihm vorgelegten amtsärztlichen Berichts noch hinreichend substantiiert. Der Kläger hat ausdrücklich behauptet, er sei "nicht dazu in der Lage, seine Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen". Bei Abschluß des Vertrages habe er nicht einmal den Sachverhalt erfassen können, sondern ganz unter dem Einfluß seines Bruders gestanden. Das Berufungsgericht sei in seinem Beschluß, durch den Prozeßkostenhilfe verweigert wurde, fälschlich davon ausgegangen, daß er "in der Lage sei, seinen Willen frei zu betätigen". Dieses im Berufungsurteil nicht angesprochene, unter Sachverständigenbeweis gestellte Vorbringen erfüllt das Tatbestandsmerkmal "Ausschluß der freien Willensbestimmung", zumal der amtsärztliche Bericht Beispiele für völlig unvernünftiges Verhalten des Klägers enthält. Danach hat er, obwohl Analphabet, mindestens zweimal teure Lexika gekauft.

Hinzu kommt, daß die Amtsärztin den Kläger nach Untersuchung als "geschäftsunfähig" bezeichnet hat. Daß sie die Voraussetzungen des § 104 Nr. 2 BGB verkannt hat und nur relative Geschäftsunfähigkeit des Klägers gegeben ist, ist ihrem Bericht nicht zu entnehmen. Darin heißt es vielmehr ohne Einschränkung, der Kläger sei "nicht in der Lage, aufgrund des oben genannten mangelnden Kritikvermögens seine finanziellen Angelegenheiten sowie Rechtsangelegenheiten selbst zu besorgen." Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts besagt es insoweit nichts, daß der Kläger seinen Willen kundtun kann. Im Rahmen des § 104 Nr. 2 BGB kommt es auf die freie Willensbestimmung, nicht auf die Möglichkeit der Willenskundgabe an. Daß der Kläger seit Jahren als Bauhelfer berufstätig ist und geringfügige Angelegenheiten des täglichen Lebens von der angeordneten Betreuung ausgenommen sind, mag seine absolute Geschäftsunfähigkeit zwar, ohne sie auszuschließen, weniger wahrscheinlich machen. Auf die Wahrscheinlichkeit kommt es für die Schlüssigkeit des Klägervorbringens jedoch, wie dargelegt, nicht an.

III. Das angefochtene Urteil war danach aufzuheben und die Sache zur Klärung der behaupteten Geschäftsunfähigkeit des Klägers an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Dabei hat der Senat von der Möglichkeit des § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch gemacht.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993369

DB 1996, 518

NJW 1996, 918

BGHR BGB § 104 Nr. 2 Willensbestimmung, freie 1

DRsp I(111)222a

WM 1996, 104

MDR 1996, 348

ZBB 1996, 62

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