Leitsatz (amtlich)

Zur Zahlungseinstellung des späteren Gesamtvollstreckungsschuldners und zur Kenntnis von dessen Zahlungsunfähigkeit durch einen pfändenden Gläubiger.

 

Normenkette

GesO § 10 Abs. 1 Nr. 4

 

Verfahrensgang

Brandenburgisches OLG

LG Neuruppin

 

Nachgehend

OLG Köln (Urteil vom 10.11.2010; Aktenzeichen 2 U 118/03)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 18. Februar 1999 aufgehoben.

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil der 3. Zivilkammer des Landgerichts Neuruppin vom 11. Juni 1998 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage wegen eines über 55.604,79 DM nebst Zinsen hinausgehenden Betrages abgewiesen worden ist. Das beklagte Land wird verurteilt, an den Kläger 40.511,88 DM nebst 12 % Zinsen seit dem 16. Oktober 1997 zu zahlen.

Wegen des weitergehenden Klageantrags sowie der Kosten des Rechtsstreits mit Einschluß der Kosten der Revision wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Der Kläger ist Verwalter in der Gesamtvollstreckung über das Vermögen von K. W., die unter der Bezeichnung W. B. in der Bauwirtschaft tätig war (nachfolgend: Schuldnerin oder Gesamtvollstreckungsschuldnerin). Das verklagte Land, handelnd durch das Finanzamt O., erließ am 14. November 1996 eine Pfändungs- und Einziehungsverfügung wegen Steuerforderungen von 107.811,19 DM, deretwegen die Ansprüche der Schuldnerin gegen eine B. GmbH (nachfolgend: B.) gepfändet wurden. Die B. zahlte auf diese ihr am 18. November 1996 zugestellte Verfügung hin am 6. Dezember 1996 an das verklagte Land 55.604,79 DM. Am 28. Januar 1997 erließ das Finanzamt O. wegen Steuerforderungen von 90.752,61 DM eine weitere Pfändungs- und Einziehungsverfügung, durch die erneut Ansprüche der Schuldnerin gegen die B. gepfändet wurden. Die Drittschuldnerin zahlte auf diese ihr am 29. Januar 1997 zugestellte Verfügung hin am 26. Februar 1997 an das verklagte Land 40.511,88 DM.

Auf einen am 8. April 1997 gestellten Antrag hin wurde am 2. Juni 1997 die Gesamtvollstreckung über das Vermögen der Schuldnerin eröffnet.

Mit der Anfechtungsklage verlangt der Kläger die Rückzahlung der von der B. an den Beklagten insgesamt überwiesenen 96.116,67 DM. Die Klage blieb in beiden Vorinstanzen ohne Erfolg. Gegen das Berufungsurteil richtet sich die Revision des Klägers.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt wegen des Betrages von 40.511,88 DM, den die B. am 26. Februar 1997 gezahlt hat, zur Verurteilung des verklagten Landes, und im übrigen zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.

I.

Das Berufungsgericht hat die Anfechtungsklage für unbegründet gehalten, weil Pfändungsmaßnahmen von Gläubigern nicht gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO angefochten werden könnten.

II.

Durch Urteil vom 20. Januar 2000 (BGHZ 143, 332) – das dem Berufungsgericht noch nicht bekannt sein konnte – hat der Senat das Gegenteil entschieden. Er verweist auf die Begründung. Die Gründe des Berufungsgerichts und die der Revisionserwiderung geben keinen Anlaß, davon abzuweichen.

III.

In Höhe von 40.511,88 DM ist die Klage nach dem eigenen Vorbringen des verklagten Landes gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO begründet.

1. Die am 29. Januar 1997 zugestellte Pfändungs- und Überweisungsverfügung des Beklagten, auf die hin die B. leistete, wurde nach derZahlungseinstellung der Gesamtvollstreckungsschuldnerin ausgebracht.

Zahlungseinstellung ist dasjenige äußerliche Verhalten des Schuldners, in dem sich typischerweise ausdrückt, daß er nicht in der Lage ist, seine fälligen, eingeforderten Zahlungsverpflichtungen im wesentlichen zu erfüllen. Im vorliegenden Falle hatte die Schuldnerin spätestens Mitte Januar 1997 ihre Zahlungen eingestellt.

a) Aus der eigenen Forderungsaufstellung des verklagten Landes, die es zur Gesamtvollstreckungstabelle angemeldet hat, ergibt sich, daß seit September 1996 im wesentlichen die gesamte Lohn- und Umsatzsteuer der Schuldnerin offenstand. Ebenso war für 1996 weder Einkommensteuer noch Solidaritätszuschlag entrichtet. An Einkommen- und Umsatzsteuer stand sogar für das Jahr 1994 eine Schuld von insgesamt rd. 4.700 DM offen. Die gesamten Steuerverbindlichkeiten der Schuldnerin bis einschließlich Januar 1997 beliefen sich auf 232.442,87 DM. Zum selben Zeitpunkt wurden ferner Ansprüche der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes VVaG in Höhe von mehr als 117.000 DM angemeldet [die Aufstellung Bl. 57-59 GA ist zwar höher, reicht aber bis Juni 1997]; es handelte sich um sämtliche Beiträge seit September 1996. Darüber hinaus standen geschätzte Beiträge für die Monate Oktober und November 1995 aus.

Daß die Schuldnerin zur Tilgung derartiger Beträge nicht in der Lage war, verdeutlicht einerseits die Drittschuldnererklärung der B. V. vom 2. Dezember 1996, die sie auf eine andere Pfändung des verklagten Landes hin abgegeben hat. Danach hatte die Schuldnerin bei dieser Bank nur Guthaben von knapp 1.600 DM; dagegen machte die Abteilung „Kreditabwicklung” dieser Bank jedoch Pfandrechte aufgrund eigener Forderungen geltend.

Vor diesem Hintergrund kam die Zahlungseinstellung der Schuldnerin spätestens darin zum Ausdruck, daß sie dem verklagten Land am 7. Januar 1997 zur Tilgung von Steuerschulden einen Scheck über 5.000 DM übergab, der alsbald nicht eingelöst wurde.

b) Die Zahlungseinstellung erfaßte einen wesentlichen Teil der Verbindlichkeiten der Schuldnerin. Daran ändern die Steuerzahlungen von insgesamt 118.379,30 DM – davon die hier angefochtenen 96.116,67 DM im Wege der Zwangsvollstreckung – nichts, welche das verklagte Land zwischen dem 30. Oktober 1996 und dem 26. Februar 1997 noch erhalten hat. Diese Beträge hat die Beklagte ersichtlich auf ältere Rückstände verrechnet. Die gesamten Steuerschulden der Gesamtvollstreckungsschuldnerin müssen dementsprechend vorher in gleichem Umfang höher gewesen sein. Sie wurden insgesamt nicht einmal zur Hälfte getilgt. Ein Schuldner, der vereinzelt noch Zahlungen leistet, kann gleichwohl im Sinne der Anfechtungsvorschriften seine Zahlungen eingestellt haben (Senatsurt. v. 13. April 2000 – IX ZR 144/99, ZIP 2000, 1016, 1017). Das gilt sogar dann, wenn die Zahlungen – für sich genommen – beträchtlich sind, aber im Verhältnis zu den fälligen Gesamtschulden nicht den wesentlichen Teil ausmachen (vgl. Senatsurt. v. 25. Januar 2001 – IX ZR 6/00, ZIP 2001, 524, 525; v. 17. Mai 2001 – IX ZR 188/98, ZIP 2001, 1155 f.).

c) Bei der Gesamtvollstreckungsschuldnerin lag ferner nicht nur eine vorübergehende Zahlungsstockung vor. Die Grenze von der Zahlungsstockung zur Zahlungseinstellung wird schon nach der Rechtslage der Konkurs- und der Gesamtvollstreckungsordnung überschritten, wenn die fälligen Schulden nicht im wesentlichen binnen etwa einem Monat bezahlt werden können (Senatsurt. v. 3. Dezember 1998 – IX ZR 313/97, ZIP 1999, 76, 78 m.w.N.). In der entsprechenden Frist hat hier die Gesamtvollstreckungsschuldnerin – am 30. Januar 1997 – nur 4.664,73 DM zu zahlen vermocht. Damit blieb der wesentliche Teil ihrer Schulden offen.

Im übrigen deutet der Stundungsantrag, den die Schuldnerin am 18. Februar 1997 bei dem zuständigen Finanzamt gestellt hat [Bl. 28, 42 GA], auf die Nachhaltigkeit ihrer Liquiditätskrise hin. Zur Begründung hat sie angegeben, sie könne die angeforderte Summe, ohne Auflösung des Betriebes, nicht auf einmal tilgen; ohne Aufhebung der inzwischen ausgebrachten zweiten Pfändung bei der B. GmbH könne das Unternehmen nicht fortgeführt werden. Der Stundungsantrag, mit welchem die Schuldnerin Zahlung in drei Monatsraten gestattet erhalten wollte, blieb erfolglos. Ebenso deutet das Zahlungsangebot, welches die Schuldnerin unmittelbar vor ihrem eigenen Eröffnungsantrag am 8. April 1997 gegenüber dem Finanzamt abgegeben hat, auf ihre nicht nur kurzfristige Zahlungsunfähigkeit hin: Sie bot eine Zahlung von 38.000 DM, die lediglich einen verhältnismäßig geringen Teil ihrer Gesamtschulden tilgen könnte, für den Fall an, daß die Vollstreckungsmaßnahmen bis Ende Mai 1997 ausgesetzt würden. Schon ein solcher Aufschub von mehr als sechs Wochen wäre mit einer bloßen Zahlungsstockung nicht zu vereinbaren gewesen.

2. Dem für das verklagte Land handelnden Finanzamt mußte die Zahlungsunfähigkeit der Gesamtvollstreckungsschuldnerin bei Zustellung der Pfändungs- und Überweisungsverfügung vom 28. Januar 1997 bekannt sein. Dessen zuständiger Sachbearbeiter kannte alle dafür maßgeblichen Tatsachen (s.o. 1 a und b), die bis dahin eingetreten waren, mit Ausnahme der weiteren Forderungen der Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes. Die letztgenannten Ansprüche waren für die Zahlungseinstellung nicht einmal wesentlich, weil schon die eigenen Forderungen des verklagten Landes nur zu einem geringen Teil gedeckt werden konnten.

Sind einem Gesamtvollstreckungsgläubiger Tatsachen bekannt, die den Verdacht der Zahlungsunfähigkeit begründen, kann er gehalten sein, sich um zusätzliche Informationen zu bemühen. Unter dieser Voraussetzung schadet ihm schon einfache Fahrlässigkeit bei der Klärung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhalts (Senatsurt. v. 8. Oktober 1998 – IX ZR 337/97, ZIP 1998, 2008, 2011; Senatsurt. v. 19. Juli 2001 – IX ZR 36/99, ZIP 2001, 1641, 1642 f.).

Im vorliegenden Fall waren das Schreiben der B. V. vom 2. Dezember 1996 sowie der Umstand, daß nicht einmal ein von der Gesamtvollstreckungsschuldnerin begebener Scheck über den verhältnismäßig geringen Betrag von 5.000 DM eingelöst werden konnte, derartige Umstände. Sie waren vor dem Hintergrund zu werten, daß das verklagte Land zuvor eine verhältnismäßig höhere Zahlung von 55.604,79 DM nur noch durch Zwangsvollstreckung hatte erlangen können, also im Wege einer inkongruenten Deckung (vgl. dazu BGHZ 135, 140, 148; 136, 309, 313 f; Senatsurt. v. 21. März 2000 – IX ZR 138/99, NZI 2000, 310, 311). Im übrigen hatte sogar diese Pfändung im Vergleich mit der Forderung, für die sie ausgebracht wurde, nur wenig mehr als zur Hälfte Erfolg. Alles das mußte das Finanzamt zu Nachforschungen über eine mögliche Zahlungsunfähigkeit veranlassen. Wenn es diese nicht erkannte, beruhte das auf Fahrlässigkeit.

3. Entsprechend § 37 Abs. 1 KO hat das verklagte Land den Betrag, den es aufgrund des anfechtbaren Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses erlangt hat, zurückzugewähren.

IV.

Wegen des Betrages von 55.604,79 DM, den das verklagte Land schon aufgrund der Pfändungsverfügung vom 14./18. November 1996 erlangt hat, ist der Rechtsstreit nicht zur abschließenden Entscheidung reif (§ 565 Abs. 1, 3 ZPO).

1. Auf der Grundlage der Behauptungen des Klägers hatte die Gesamtvollstreckungsschuldnerin schon Mitte November die Zahlungen im Rechtssinne eingestellt. Sie hatte zwar am 30. Oktober 1996 noch 17.597,90 DM Lohnsteuer bezahlt, aber davor zuletzt im März 1996 Steuerzahlungen erbracht [Bl. 3 GA]. Weitere Zahlungen hat auch das verklagte Land nicht in substantiierter Form behauptet. In die Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit ist auch diejenige Forderung mit einzustellen, deretwegen der Gläubiger – hier das verklagte Land im Wege der Pfändung – eine Sicherung noch erhalten hat (Senatsurt. v. 25. September 1997 – IX ZR 231/96, WM 1997, 2134, 2135). Auch in diesem Zusammenhang ist es deshalb bedeutsam, daß die Pfändung nur zu wenig mehr als der Hälfte Erfolg hatte (s.o. III 2).

Die zeitliche Schranke des § 33 KO gilt für die Anfechtung gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 4 GesO nicht (Senatsbeschl. v. 10. Februar 2000 – IX ZR 335/98, ZIP 2000, 504).

2. Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen ermöglichen aber noch nicht die abschließende Würdigung, ob dem verklagten Land eine Zahlungsunfähigkeit der Gesamtvollstreckungsschuldnerin schon am 18. November 1996 bekannt sein mußte. Dafür könnte zwar der Umstand sprechen, daß es sich selbst veranlaßt sah, zum Mittel der Pfändung – also einer inkongruenten Deckung (s.o. III 2) – zu greifen, um seine fälligen Ansprüche durchzusetzen; denn gerade die Gewährung einer inkongruenten Deckung kann ein wesentliches Beweisanzeichen dafür darstellen, daß der Anfechtungsgegner die Zahlungsunfähigkeit hätte erkennen müssen (Senatsurt. v. 8. Oktober 1998 – IX ZR 337/97, aaO). Ferner könnte es auch aus der Sicht des zuständigen Finanzamts auf eine Zahlungsunfähigkeit der Gesamtvollstreckungsschuldnerin hingedeutet haben, daß die Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 14. November 1996 unter anderem auf Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 10.698 DM gestützt war.

Eine abschließende Beurteilung setzt aber voraus, daß die Parteien Näheres über die Höhe der bis dahin aufgelaufenen Steuerforderungen sowie den Zeitpunkt ihres jeweiligen Fälligwerdens vortragen; von Bedeutung können dabei auch die Zeitpunkte der Berechnung von Säumniszuschlägen, Mahnungen sowie vergebliche Vollstreckungsmaßnahmen sein. Zur Feststellung der von den Parteien vorzutragenden erheblichen Umstände ist der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

 

Unterschriften

Kreft, Kirchhof, Fischer, Raebel, Kayser

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 04.10.2001 durch Bürk Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

DB 2002, 264

DStZ 2002, 48

BGHR 2002, 86

NJW-RR 2002, 261

EWiR 2002, 209

KTS 2002, 118

Nachschlagewerk BGH

WM 2001, 2181

WuB 2002, 195

ZIP 2001, 2097

InVo 2002, 274

MDR 2001, 1437

NZI 2002, 31

NZI 2002, 34

VersR 2002, 617

ZInsO 2001, 1049

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