Leitsatz (amtlich)

›Der Eingangsstempel des Gerichts beweist den Zeitpunkt des Eingangs der Einspruchsschrift. Der Gegenbeweis ist jedoch zulässig.‹

 

Verfahrensgang

KG Berlin

LG Berlin

 

Gründe

I.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten restlichen Werklohn für Bauarbeiten. Die Klage wurde durch Versäumnisurteil des Berufungsgerichts abgewiesen. Mit Schriftsatz vom 14. Mai 1997 legte die Klägerin gegen das ihr am 30. April 1997 zugestellte Versäumnisurteil Einspruch ein. Auf diesem Schriftsatz ist der Eingangsstempel der zuständigen gemeinsamen Briefannahmestelle vom 15. Mai 1997 angebracht.

Nachdem der Vorsitzende des Berufungssenats auf dieses Eingangsdatum hingewiesen hatte, beantragte die Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und trug vor: Ihr Prozeßbevollmächtigter Rechtsanwalt W. habe die Einspruchsschrift am 14. Mai 1997 gegen 18.00 Uhr unterschrieben. Nach Beendigung der Arbeit in der Kanzlei um 23.30 Uhr habe er, in Begleitung der Anwaltsgehilfin E., den Schriftsatz zur nahegelegenen Briefannahmestelle gebracht und ihn dort um ca. 23.35 Uhr, jedenfalls vor 24.00 Uhr eingeworfen. Zur Glaubhaftmachung dieses Vortrags berief sich die Klägerin auf eidesstattliche Versicherungen ihres Prozeßbevollmächtigten und der Anwaltsgehilfin E. Die Klägerin wies schließlich auf verschiedene konkrete Gründe dafür hin, weshalb nach ihrer Meinung ein in den Nachtbriefkasten der hier zuständigen gemeinsamen Briefannahmestelle vor 24.00 Uhr eingeworfenes Kuvert nicht den "Nachtstempel", sondern erst den Stempel des folgenden Tages erhalten kann.

Das Oberlandesgericht hielt den Einspruch gegen das Versäumnisurteil für verspätet und verwarf ihn als unzulässig. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer sofortigen Beschwerde, mit der sie wiederholt, daß ihr Prozeßbevollmächtigter die Einspruchsschrift am 14. Mai 1997 gegen 23.35 Uhr in den gemeinsamen Nachtbriefkasten eingeworfen habe.

II.

1. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts hat die Klägerin die Einspruchsfrist des § 339 Abs. 1 ZPO nicht eingehalten. Es führt aus: Aufgrund des Tageseingangsstempels "Gemeinsame Briefannahme Justizbehörden Ch. 15.05.97 00-07" auf dem Schriftsatz sei davon auszugehen, daß der Schriftsatz noch nicht am 14. Mai 1997 eingeworfen worden sei. Die insoweit durch eidesstattliche Versicherungen glaubhaft gemachte Darstellung der Klägerin lasse sich nicht mit der Auskunft der dazu befragten gemeinsamen Briefannahmestelle vereinbaren, nach der die von der Klägerin für möglich gehaltenen Funktionsstörungen der Briefkastenanlage am 14. Mai 1997 nicht aufgetreten und im übrigen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen seien. Damit sei die Glaubhaftmachung der Klägerin in einem Maße erschüttert, daß der Berufungssenat nicht von der Richtigkeit ihrer Darstellung überzeugt sei. Im übrigen beruhten die Zeitangaben der Klägerin lediglich auf Schätzungen.

2. Die Beschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

a) Der gerichtliche Eingangsstempel ist eine öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 ZPO; er bescheinigt den Tag, an dem das Schriftstück bei Gericht eingegangen ist. Allerdings kann der durch den Eingangsstempel begründete Beweis nach § 418 Abs. 2 ZPO durch Gegenbeweis entkräftet werden.

Dabei genügt Glaubhaftmachung nicht; die Rechtzeitigkeit des Einspruchs muß vielmehr zur vollen Überzeugung des Gerichts bewiesen werden (BGH, Beschluß vom 16. Februar 1984 - IX ZB 172/83 - VersR 1984, 442, 443). Für die Beweiserhebung gilt der sogenannte Freibeweis (vgl. BGH, Beschlüsse vom 9. Juli 1987 - VII ZB 10/86 - NJW 1987, 2875, 2876 m.w.N.; vom 4. Juni 1992 - IX ZB 10/92 - VersR 1993, 457).

b) Die Klägerin hat in ihrem Schriftsatz vom 11. Juni 1997 im einzelnen Umstände dargelegt und glaubhaft gemacht, die zu einer Fehlstempelung geführt haben könnten. Sie hat beispielsweise vorgetragen: Wenn der große, für Briefeingänge vor Mitternacht bestimmte Wagen überfüllt sei, dann könne Post in den anderen Wagen rutschen und daher den Stempel vom folgenden Tag erhalten. Auch dadurch, daß die Briefschiene des Briefkastens um 24.00 Uhr von dem einen Wagen zum anderen rutsche oder gezogen werde, könnten Briefe, die auf dem für Eingänge vor Mitternacht vorgesehenen Wagen ganz oben lägen, in den Wagen mitgezogen werden, der für nach 24.00 Uhr eintreffende Post bestimmt sei. Ferner könne sich z.B. auf der für den Briefeinwurf bestimmten Schiene ein Rückstau bilden, der ebenfalls eine Fehlstempelung zur Folge haben könne.

Die danach bestehenden Zweifel, ob die Einspruchsschrift am 14. Mai 1997 bis 24.00 Uhr im Nachtbriefkasten gelegen hat, sind von Amts wegen zu klären. Dies ist durch die vom Direktor des Amtsgerichts Ch. erteilte Auskunft nicht hinreichend geschehen. Das gerichtliche Auskunftsersuchen ist schon nicht, wie erbeten, vom Leiter der gemeinsamen Briefannahmestelle, sondern nur "nach Rücksprache" mit den dort tätigen Bediensteten beantwortet worden. Die Auskunft gibt die praktische Handhabung bei der Leerung des Nachtbriefkastens und der Stempelung daher allenfalls mittelbar wieder. Die Auskunft läßt auch nicht im einzelnen erkennen, welche tatsächlichen Feststellungen getroffen worden sind. Es fehlen konkrete Äußerungen darüber, ob ausgeschlossen werden kann, daß am 14./15. Mai 1997 eine unbemerkt gebliebene Störung des Mechanismus des Nachtbriefkastens vorgelegen hat und ob weiter eine Fehleinstellung des Stempels oder eine versehentlich verspätete Stempelung ausgeschlossen werden kann. Es läßt sich aus ihr auch nicht entnehmen, wie im allgemeinen und speziell am 15. Mai 1997 der Nachtbriefkasten geleert und wie die darin enthaltene Post im einzelnen gestempelt worden ist. Der Direktor des Amtsgerichts Ch. hat im wesentlichen lediglich mitgeteilt, am 14. Mai 1997 seien "keine Störungen der Briefkastenanlage aufgetreten". Weiterhin sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, "daß ein Schriftsatz einen anderen Eingangsstempel als den des tatsächlichen Eingangs erhält." Unregelmäßigkeiten seien ihm für "den genannten Zeitraum" nicht bekannt geworden. Schließlich hat der Direktor des Amtsgerichts Ch. erklärt: "Sollte der Teil des Briefkastens, der die an einem Werktag sowie an einem Sonnabend nach Dienstschluß bis 24.00 Uhr eingehende Post aufnimmt, überfüllt sein und sollten dadurch verursacht vor 24.00 Uhr eingeworfene Briefsendungen in die Hälfte des Briefkastens fallen, in der die zwischen 0.00 Uhr und 7.00 Uhr eingeworfene Post gesammelt wird, wird dies regelmäßig bei der ersten Leerung am folgenden Werktag bemerkt". Eine derartige Störung sei jedoch am Morgen des 15. Mai 1997 nicht festgestellt worden.

Diese Auskünfte rechtfertigen nicht die vom Kammergericht gezogenen weiteren Folgerungen. Die Angaben der Klägerin stehen überdies nicht im zwingenden Gegensatz zu der Auskunft, nach der Störungen "regelmäßig" bemerkt werden, die sich daraus ergeben können, daß der zur Aufnahme der vor Mitternacht eingehenden Post bestimmte Teil überfüllt ist. Nach alledem wäre eine eingehende und vollständige dienstliche Äußerung des Leiters der gemeinsamen Briefannahmestelle und der mit der Leerung des Nachtbriefkastens und der Stempelung betrauten Bediensteten notwendig gewesen, um einen unmittelbaren Eindruck zu gewinnen. Das Oberlandesgericht wird daher weitere Feststellungen zu treffen und unter Umständen auch Beweis zu erheben haben. Bei der Würdigung der Beweise wird der Erwägung, die Zeitangaben der Klägerin beruhten auf Schätzungen, erhebliches Gewicht nicht zukommen. Die allein maßgebliche Angabe, daß die Einspruchsschrift vor Mitternacht eingeworfen wurde, beruhte ersichtlich auf der Erinnerung der Beteiligten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993505

DB 1998, 821

HFR 1998, 688

NJW 1998, 461

BGHR ZPO § 418 Abs. 1 Eingangsstempel 2

BauR 1998, 174

DRsp IV(415)240

FuR 1998, 143

ZAP 1998, 158

MDR 1998, 57

VersR 1998, 1439

ZfBR 1998, 95

MittRKKöln 1998, 46

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