Leitsatz (amtlich)

Im Zivilprozeß der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist die Einlegung einer Berufung nicht deswegen unwirksam, weil die Berufungsschrift weder die ladungsfähige Anschrift des Berufungsbeklagten noch die seines Prozeßbevollmächtigten enthält.

 

Normenkette

ZPO § 518 Abs. 2 Nr. 1

 

Verfahrensgang

OLG München (Beschluss vom 28.04.1975)

LG München I

 

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde des Beklagten wird der Beschluß des 23. Zivilsenats des Oberlandesgerichts in München vom 28. April 1975 aufgehoben.

 

Gründe

Am 4. März 1975, dem letzten Tag der Berufungsfrist, ging beim Oberlandesgericht folgender Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten des Beklagten ein:

„In Sachen

G. Rainer

gegen

W. Viktor

Aktenzeichen des LG München I: 18 O 49/74

lege ich hiermit namens und im Auftrag des Beklagten gegen das Urteil des LG München I vom 20. Dezember 1974 – zugestellt von Anwalt zu Anwalt am 4. Februar 1975 – Berufung ein”.

Eine Abschrift des angefochtenen Urteils war nicht beigefügt. Auf Antrage der Geschäftsstelle des Oberlandesgerichts, wer den Kläger in erster Instanz vertreten habe, antwortete der Prozeßbevollmächtigte des Beklagten erst zwei Wochen später. Die Berufungsschrift war da aber schon am 14. März 1975, nach Eingang der Gerichtsakten beim Oberlandesgericht, dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers und Berufungsbeklagten zugestellt worden.

Das Oberlandesgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen, weil die Berufungsschrift nicht die für eine alsbaldige Zustellung an den Berufungsbeklagten erforderlichen Angaben enthalte. Aus ihr gehe zwar hervor, daß im Namen des Beklagten Berufung eingelegt werde, doch genüge dies den an eine Berufungsschrift zu stellenden Anforderungen nicht. Hierfür sei vielmehr erforderlich, daß entweder der erstinstanzliche Prozeßbevollmächtigte (§ 176 ZPO) oder zumindest die Partei genau (d.h. mit zustellungsfähiger Anschrift) bezeichnet worden sei. Daran fehle es. Die fehlenden Angaben hätten auch nicht noch innerhalb der Berufungsfrist den Gerichtsakten oder anderen Unterlagen entnommen werden können.

Die sofortige Beschwerde des Beklagten hat Erfolg.

I.

Mit dem Berufungsgericht ist davon auszugehen, daß hier in der Berufungsschrift hinreichend zum Ausdruck kommt, für wen und gegen wen die Berufung eingelegt worden ist (vgl. zu diesem Erfordernis: RGZ 96, 117; 125, 240; 144, 314; BGHZ 21, 168, 173; BGH NJW 1958, 1726; 1965, 791; 1967, 186; 1971, 763; 1971, 1145; 1974, 976; 1974, 1098; vgl. auch BAG NJW 1960, 1319; 1965, 171; 1969, 1366/1367; 1973, 1949; 1973, 2318).

Im Bezirk des Berufungsgerichts (OLG München) ist es allgemein üblich, im Eingang von Schriftsätzen und Entscheidungen in allen Instanzen den Kläger stets an erster Stelle und den Beklagten erst an zweiter Stelle zu nennen, gleichviel wie die Parteirollen in der Rechtsmittelinstanz sind. Die Reihenfolge der Parteibezeichnungen in der Berufungsschrift ergab daher hier eindeutig, daß die Berufung für den Beklagten eingelegt wurde, so daß der Kläger Berufungsbeklagter war.

Die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts NJV 1972, 1440; 1973, 1949, die das Berufungsgericht erwähnt, sind nicht einschlägig, da es hier allein auf die Gebräuche beim Oberlandesgericht München ankommt (vgl. auch Senatsurteil vom 28. März 1966 – VII ZR 33/64 –).

II.

Wie der Senat bereits in diesem Urteil ausgeführt hat, hängt die Wirksamkeit der Berufung dagegen nicht davon ab, daß der Berufungskläger auch die ladungsfähige Anschrift des Berufungsbeklagten oder dessen Prozeßbevollmächtigten erster Instanz in der Berufungsschrift angibt oder diese Angaben auf andere Weise noch innerhalb der Rechtsmittelfrist an das Berufungsgericht gelangen.

1. Zwar sind Rechtsmittelschriften der Gegenpartei alsbald von Amts wegen zuzustellen (§§ 519 a Satz 1, 553 a Abs. 2 Satz 1 ZPO). Dem dient auch die Sollbestimmung, wonach mit der Rechtsmittelschrift zugleich die erforderliche Zahl von Abschriften sowie eine Abschrift des angefochtenen Urteils, dem die Geschäftsstelle des Rechtsmittelgerichts alle für die Zustellung erforderlichen Angaben entnehmen kann, einzureichen ist (§§ 518 Abs. 3, 519 a Satz 3, 553 a Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 ZPO).

Im Unterschied zur Fristwahrung durch eine Klageschrift (§ 261 b Abs. 3 ZPO) hängt aber die Wirksamkeit des Rechtsmittels nicht davon ab, daß die Rechtsmittelschrift alsbald zugestellt wird. Deren Zustellung dient vielmehr lediglich der Unterrichtung des Rechtsmittelbeklagten; ihre Unterlassung ist gemäß § 295 ZPO heilbar (BGHZ 50, 397, 400; vgl. auch Thomas/Putzo, ZPO, 8. Aufl., § 519 a; Wieczorek, ZPO 1957, Anm. B zu § 519 a; Mes, Anm. zu BAG AP Nr. 22 zu § 518 ZPO; Schulte, VersR 1975, 791, 792). Eine Verzögerung der Zustellung mangels Anschrift berührt somit die Zulässigkeit des Rechtsmittels nicht.

2. Zwar hat der Rechtsmittelbeklagte ein verständliches Interesse, alsbald von der Einlegung des Rechtsmittels durch den Gegner zu erfahren, z.B. weil er unter dem Prozeß leidet und schnellstens Gewißheit über dessen Ausgang haben möchte (vgl. BAG NJW 1960, 1319) oder weil er sein eigenes weiteres Verhalten davon abhängig machen will.

Da der Rechtsmittelkläger aber mit der Einlegung des Rechtsmittels bis zum letzten Tag der Notfrist warten darf, hat der Rechtsmittelgegner keinen Anspruch darauf, noch vor Ablauf der Rechtsmittelfrist zu erfahren, ob das für ihn günstige Urteil angefochten wird oder nicht. Mit einer Mitteilung darüber kann er vielmehr in der Regel erst einige Tage nach Ablauf der Rechtsmittelfrist rechnen (so auch BGH NJW 1958, 1726, 1727). Gewißheit kann er sich im übrigen schnell und leicht durch eine Antrage bei der Geschäftsstelle des Rechtsmittelgerichts verschaffen. Er kann auch ein Rechtskraftzeugnis gemäß § 706 Abs. 2 ZPO beantragen.

Ein Verstoß gegen die Sollvorschriften der §§ 518 Abs. 3, 553 a Abs. 1 ZPO und die Unterlassung der Angabe der Anschrift des Rechtsmittelbeklagten oder seines Anwalts rechtfertigen es nach alledem nicht, einer Rechtsmittelschrift, die die für ihre Funktion unerläßlichen Angaben enthält, als fehlerhaft und deswegen das Rechtsmittel als nicht wirksam eingelegt anzusehen. Die Wirksamkeit der Einlegung eines Rechtsmittels hängt mangels gesetzlicher Vorschrift nicht davon ab, daß in der Rechtsmittelschrift Name und Anschrift des Prozeßbevollmächtigten des Rechtsmittelgegners angegeben sind, an den die Rechtsmittelschrift im Zivilprozeß in aller Regel zuzustellen ist (§ 210 a ZPO). Die zustellungsfähige Anschrift des Rechtsmittelgegners selbst ist dabei zumeist ohne Bedeutung; sie war es auch im vorliegenden Fall.

3. Das Argument, dem Rechtsmittelbeklagten müsse hinreichende Zeit für eine Anschließung und deren Begründung verbleiben (vgl. BGH NJW 1958, 1726; BAG NJW 1973, 2319), greift jedenfalls bei der Berufung nicht durch.

a) Da der Rechtsmittelkläger mit der Einlegung des Rechtsmittels bis zum letzten Tag warten darf, hat der Gegner keinen Anspruch auf eine Frist zur Überlegung, ob er sich selbständig anschließen will (§§ 522 Abs. 2, 556 Abs. 2 Satz 3 ZPO).

b) Die unselbständige Anschlußberufung aber ist bis zur letzten mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht statthaft (§ 521 Abs. 1 ZPO). Die Begründung einer vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist eingelegten Anschlußberufung ist so lange möglich, als eine Anschlußberufung überhaupt noch würde eingelegt werden können, d.h. grundsätzlich bis zum Schlußtermin in der Berufungsinstanz (RGZ 170, 18).

c) Daraus, daß die Anschlußrevision bisher (§ 556 a.F. ZPO) nur innerhalb der Revisionsbegründungsfrist – jetzt (§ 556 n.F. ZPO) binnen eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung – eingelegt und begründet werden muß, läßt sich jedenfalls für den hier zu entscheidenden Fall der Berufungseinlegung kein Argument gewinnen, wie der Senat bereits in seiner o.a. Entscheidung vom 28. März 1966 ausgeführt hat.

4. Somit ist die Angabe der Anschrift des Berufungsbeklagten oder seines Prozeßbevollmächtigten in der Berufungsschrift nicht Wirksamkeitsvoraussetzung der Berufung. Die Unterlassung dieser Angaben und der Beifügung einer Urteilsabschrift macht die Berufung nicht unzulässig, da sich hier aus der Berufungsschrift unzweifelhaft ergibt, wer gegen wen Berufung eingelegt hat.

Der angefochtene Beschluß ist nach alledem aufzuheben.

III.

1. Eine Anrufung des Großen Senats für Zivilsachen des Bundesgerichtshofs wegen der Entscheidung des IV. Zivilsenats vom 11. Juli 1958 – IV ZB 127/58 = NJW 1958, 1726 ist nicht erforderlich. Wenn es dort heißt, Rechtsmittelkläger und Rechtsmittelbeklagter müßten in der Rechtsmittelschrift in solcher Weise bezeichnet sein, daß die Rechtsmittelschrift dem Rechtsmittelbeklagten zugestellt werden könne, so beruht jene Entscheidung nicht auf dieser Erwägung. In jenem Falle war nämlich die Berufung irrtümlich „namens der Klägerin” anstatt „namens der Beklagten” eingelegt worden, so daß es bereits an der richtigen Parteibezeichnung fehlte (s. oben zu I). Auch der VII. Senat würde von seiner hier vertretenen Rechtsauffassung aus jenen Fall nicht anders entschieden haben als der IV. Senat.

2. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (zuletzt NJW 1975, 1429 mit weiteren Nachweisen) nötigt den Senat nicht zur Vorlage dieser Sache an den Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes.

a) Das Bundesarbeitsgericht hat in der genannten Entscheidung ausgeführt, daß die Verhältnisse in der ordentlichen Gerichtsbarkeit und in der Arbeitsgerichtsbarkeit unterschiedlich seien. Es hat daraus die Notwendigkeit abgeleitet, in der Arbeitsgerichtsbarkeit strengere Anforderungen an den Inhalt einer Berufungsschrift zu stellen als in der ordentlichen Gerichtsbarkeit; das ergebe sich aus der besonderen Natur des Arbeitsverhältnisses. Es mögen also bei der Entscheidung über Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis die Parteien, vor allem die Arbeitnehmer, ein besonders dringendes und schutzwürdiges Interesse haben, möglichst bald zu erfahren, ob es bei dem Urteil des Arbeitsgerichts bleibt oder ob von ihnen die materiellen und seelischen Belastungen einer weiteren Instanz zu tragen sind. Das Bedürfnis besonderer Beschleunigung des arbeitsgerichtlichen Verfahrens, das z.B. in § 9 Abs. 1 Satz 1 ArbGG zum Ausdruck kommt, wirkt sich nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts im Bereich der Arbeitsgerichtsbarkeit auch in den Anforderungen an den Inhalt einer Berufungsschrift aus.

b) In der ordentlichen Gerichtsbarkeit dagegen haben die Rechtsmittelbeklagten zwar auch ein Interesse an alsbaldiger Gewißheit über eine Rechtsmitteleinlegung, doch rechtfertigt es dies nicht, in diesem Bereich höhere Anforderungen an den Inhalt einer Berufungsschrift zu stellen, als die Zivilprozeßordnung vorschreibt und der gesetzliche Zweck der Rechtsmittelschrift erfordert. In der ordentlichen Gerichtsbarkeit erscheint es daher nicht geboten, von einer Berufungsschrift zu fordern, daß sie nicht nur den Namen, sondern auch die ladungsfähige Anschrift des Berufungsbeklagten oder seines Prozeßbevollmöchtigten enthält.

 

Unterschriften

Vogt, Girisch, Meise, Recken, Bliesener

 

Fundstellen

Haufe-Index 1502243

BGHZ

BGHZ, 114

NJW 1976, 108

Nachschlagewerk BGH

JZ 1976, 68

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