Leitsatz (amtlich)

Die Anknüpfung der Rechtsmittelzuständigkeit des OLG daran, dass eine Partei bei Klageerhebung keinen allgemeinen Gerichtsstand im Inland hat, ist formal zu verstehen. Sie greift auch dann ein, wenn sich im Einzelfall keine besonderen Fragen des internationalen Privatrechts stellen.

 

Normenkette

GVG § 119 Abs. 1 Nr. 1 lit. b

 

Verfahrensgang

LG Berlin (Beschluss vom 11.11.2006; Aktenzeichen 24 S 106/06)

AG Berlin-Mitte (Urteil vom 07.03.2006; Aktenzeichen 107 C 3005/05)

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 24. Zivilkammer des LG Berlin vom 11.11.2006 wird auf Kosten des Klägers verworfen.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 1.958,90 EUR.

 

Gründe

I.

[1] Der Kläger nimmt die Beklagten auf Schadensersatz von 1.958,90 EUR nach einem Verkehrsunfall in B. in Anspruch. Das AG hat die Klage an die Beklagte zu 2), eine in Frankreich ansässige Versicherungsgesellschaft mit einer Niederlassung in Deutschland, unter der Anschrift ihrer inländischen Niederlassung zugestellt. Es hat die Klage mit Urteil vom 7.3.2006 abgewiesen. Gegen das am 13.3.2006 zugestellte Urteil hat der Klägervertreter am 12.4.2006 Berufung beim LG eingelegt. Nach entsprechender Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist hat er die Berufung am 13.6.2006 begründet. Mit Schriftsatz vom 10.5.2006 haben die Beklagten beantragt, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, weil diese beim OLG hätte eingelegt werden müssen. Bei der Beklagten zu 2) handele es sich um eine Aktiengesellschaft nach französischem Recht mit Sitz in Frankreich. Der allgemeine Gerichtsstand der Beklagten zu 2) sei danach in Frankreich. Der Sitz der Niederlassung im Inland begründe lediglich den besonderen Gerichtsstand nach § 21 ZPO. Der Kläger hat am 29.5.2006 beantragt, hilfsweise für den Fall, dass sich das LG der Ansicht der Beklagten anschließen würde, Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist zu gewähren und die Sache an das KG zu verweisen. Am selben Tag hat er Berufung gegen das Urteil vom 7.3.2006 beim KG eingelegt und Wiedereinsetzung in die Versäumung der Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist beantragt. Mit Beschluss vom 6.7.2006 hat das KG den Rechtsstreit bis zur Entscheidung über die beim LG eingelegte Berufung ausgesetzt. Das LG hat die Berufung durch Beschluss vom 11.11.2006 als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde.

II.

[2] 1. Die Rechtsbeschwerde ist zwar gem. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und im Übrigen auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 575 ZPO). Sie ist aber nicht zulässig, da die Fragen zur Anwendbarkeit des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG, die der Streitfall aufwirft, bereits hinreichend durch höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt sind.

[3] 2. Das LG hat ohne Rechtsfehler seine Zuständigkeit für die Berufung gegen das Urteil des AG verneint und die Berufung des Klägers verworfen.

[4] a) Das LG hat in dem angefochtenen Beschluss festgestellt, dass es sich bei der Beklagten zu 2) um eine Aktiengesellschaft nach französischem Recht mit Sitz in Frankreich handelt, die in Deutschland lediglich über eine Niederlassung verfügt. Der allgemeine Gerichtsstand der Beklagten zu 2) liegt mithin im Ausland (§ 17 ZPO), so dass die Voraussetzungen des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG dem Wortlaut nach gegeben sind. Dies gilt auch, soweit sich die Berufung gegen den Beklagten zu 1) richtet (vgl. BGH v. 13.5.2003 - VI ZR 430/02, BGHZ 155, 46, 49 f. = MDR 2003, 1194 = BGHReport 2003, 892 m. Anm. Reichling). Auch die Rechtsbeschwerde zieht dies nicht in Zweifel.

[5] b) Der Senat sieht keine Veranlassung, im Streitfall vom Beschluss des IV. Zivilsenats des BGH v. 19.2.2003 - IV ZB 31/02, VersR 2004, 355 f. abzuweichen. Dass Fragen des internationalen Privatrechts keine Rolle spielen und sich auch solche nach der Belegenheit des Risikos oder einer eventuellen Rechtswahl von vornherein nicht stellen können, weil der Kläger den Direktanspruch gem. § 3 Abs. 1 PflVG gegen den Haftpflichtversicherer des Unfallgegners geltend macht, ist für die Frage der Rechtsmittelzuständigkeit nicht maßgebend. Das macht die Beschwerdeerwiderung mit Recht geltend.

[6] Die Anknüpfung der Rechtsmittelzuständigkeit des OLG daran, dass eine Partei bei Klageerhebung keinen allgemeinen Gerichtsstand im Inland hat, ist formal zu verstehen. Sie greift auch dann ein, wenn sich im Einzelfall keine besonderen Fragen des internationalen Privatrechts stellen (Zöller/Gummer, ZPO, 26. Aufl., § 119 GVG Rz. 15; MünchKomm/Wolf, ZPO 2. Aufl. Aktualisierungsband, GVG § 119 Rz. 4; Musielak/Wittschier ZPO 5. Aufl., § 119 GVG Rz. 19). Nur ein formales Verständnis der Norm genügt dem aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Gebot der Rechtsmittelklarheit, wonach Rechtsbehelfe "in der geschriebenen Rechtsordnung" geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger klar erkennbar sein müssen (s. dazu BVerfG v. 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02, MDR 2003, 886 = NJW 2003, 1924, 1928). Das lässt sich nur erreichen, wenn die Voraussetzungen der Zuständigkeitsregelung in § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG eng und formal verstanden werden, weil sie den Zugang zu dem an sich gegebenen Rechtsmittel der Berufung zum LG in einer mit Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen Weise erschweren. Das Kriterium des allgemeinen Gerichtsstands gewährleistet eine hinreichende Bestimmtheit und damit Rechtssicherheit für die Abgrenzung der Berufungszuständigkeit zwischen LG und OLG (BT-Drucks. 14/6036, 118 f.). Deshalb kommt die von der Rechtsbeschwerde geforderte teleologische Reduktion der Vorschrift des § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG nicht in Betracht. Im Übrigen wäre bei Anwendung des ausländischen Rechts durch das AG die Berufungszuständigkeit des OLG nach § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c GVG begründet (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 18.1.2007 - V ZB 129/06, BGHReport 2007, 354 m. Anm. Wittschier = VersR 2007, 664, 665 f.), so dass die Zuständigkeitsregelung in § 119 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b GVG, wollte man der Rechtsbeschwerde folgen, weitgehend leer liefe.

[7] c) Der Beschluss des LG steht auch nicht in Widerspruch zu den Beschlüssen des VIII. Zivilsenats des BGH v. 28.1.2004 - VIII ZB 66/03, WM 2004, 2227 f.; v. 16.11.2004 - VIII ZB 45/04 - NZM 2005, 147. Anders als in den diesen Beschlüssen zugrunde liegenden Fallgestaltungen hatte der Kläger aufgrund der bei der vorgerichtlichen Korrespondenz zur Verwendung gekommenen Briefbögen, auf denen sich der Hinweis auf den Hauptsitz der Gesellschaft in Paris befindet, Kenntnis vom Sitz der Beklagten zu 2) in Frankreich. Eine Veranlassung den allgemeinen Gerichtsstand der Beklagten zu 2) in erster Instanz zur Sprache zu bringen, bestand für die Beklagten danach nicht, da jedenfalls der besondere Gerichtsstand des § 32 ZPO bei dem vom Kläger angerufenen AG begründet war. Zu Recht hat das Berufungsgericht aus dem Umstand, dass ein inländischer allgemeiner Gerichtsstand nicht erörtert worden ist, nicht schon hergeleitet, die Parteien hätten übereinstimmend einen allgemeinen Gerichtsstand der Beklagten zu 2) im Inland angenommen. Vielmehr hatte der Kläger aufgrund der ihm zugänglichen Informationen Veranlassung zu sorgfältiger Prüfung, ob es sich bei der Direktion für Deutschland um eine Tochtergesellschaft der ausländischen Gesellschaft oder lediglich um eine, wenn auch eingetragene, Zweigniederlassung handelt.

[8] d) Nach diesen Grundsätzen wäre das KG für die Entscheidung über die Berufung gegen das Urteil des zu seinem Gerichtsbezirk gehörenden AG zuständig gewesen. Entgegen dem Antrag des Klägers kam eine Verweisung des Rechtsstreits über die Berufung in entsprechender Anwendung des § 281 Abs. 1 Satz 1 ZPO durch das LG nicht in Betracht. Zum einen gilt diese Bestimmung nicht für die funktionelle Zuständigkeit (vgl. BGH v. 13.5.2003 - VI ZR 430/02, BGHZ 155, 46, 50 = MDR 2003, 1194 = BGHReport 2003, 892 m. Anm. Reichling; BGH, Beschl. v. 10.7.1996 - XII ZB 90/95, NJW-RR 1997, 55). Der Antrag bleibt aber auch deshalb ohne Erfolg, weil die Berufungsfrist am 29.5.2006 bereits abgelaufen war.

[9] Dem Kläger kann nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gewährt werden, weil die Fristversäumnis nicht unverschuldet war (§ 233 ZPO). Der Kläger muss sich das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen (§ 85 Abs. 2 ZPO, welches darin liegt, dass er die Berufung bei einem unzuständigen Gericht eingelegt hat. Es besteht auch keine generelle Fürsorgepflicht des für die Rechtsmitteleinlegung unzuständigen und vorher mit der Sache noch nicht befassten LG, durch Hinweise oder geeignete Maßnahmen rechtzeitig eine Fristversäumnis des Rechtsmittelführers zu verhindern (vgl. Senat, Beschl. v. 15.6.2004 - VI ZB 75/03, BGHReport 2004, 1515 = MDR 2004, 1311 = VersR 2005, 247, 248).

[10] Demzufolge hat das LG die Berufung zu Recht als unzulässig verworfen.

[11] 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Fundstellen

BGHR 2007, 884

EBE/BGH 2007

NJW-RR 2007, 1436

JurBüro 2007, 614

ZAP 2007, 954

DAR 2008, 201

IPRax 2008, 133

MDR 2007, 1212

NZV 2007, 511

VersR 2008, 94

WuM 2007, 534

NJW-Spezial 2007, 538

VRA 2007, 158

r+s 2008, 87

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