Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an Verweisungsbeschluss bei örtlicher Unzuständigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Verweisungsbeschluss ist nicht schon deshalb unwirksam, weil das verweisende Gericht sich nicht mit der Frage befasst hat, ob es gem. § 29 ZPO örtlich zuständig ist, wenn die Parteien weder die Frage des Erfüllungsorts thematisiert noch zum Wohnsitz des Beklagten im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorgetragen haben.

 

Normenkette

ZPO § 281 Abs. 2

 

Verfahrensgang

Brandenburgisches OLG (Entscheidung vom 31.03.2011; Aktenzeichen 1 AR 16/11)

AG Berlin-Neukölln

AG Fürstenwalde

 

Tenor

Zuständig ist das AG Neukölln.

 

Gründe

Rz. 1

I. Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Zahlung von Vergütung für Mobilfunkleistungen in Anspruch.

Rz. 2

Der Beklagte schloss mit der Klägerin am 30.7.2008 einen schriftlichen Vertrag über die Erbringung von Mobilfunkleistungen. Unter der Rubrik "Anschrift" ist in dem Vertragsformular eine Adresse in Fürstenwalde eingetragen.

Rz. 3

Am 12.1.2010 wurde dem Beklagten unter einer anderen Adresse in Fürstenwalde antragsgemäß ein Mahnbescheid über eine Hauptforderung von 411,31 EUR zugestellt. Der Beklagte legte Widerspruch ein und teilte als Anschrift eine Adresse in Berlin mit. Nach Zahlung des Gerichtskostenvorschusses gab das Mahngericht das Verfahren an das im Mahnantrag benannte AG Fürstenwalde ab. Dieses konnte die Anspruchsbegründung nicht unter der im Mahnbescheid angegebenen Adresse in Fürstenwalde zustellen. Die Klägerin teilte als neue Anschrift eine wiederum andere Adresse in Berlin mit. Dort wurde die Anspruchsbegründung durch Einlegen in den Briefkasten zugestellt.

Rz. 4

Nach Zustellung der Anspruchsbegründung bat das AG Fürstenwalde die Klägerin um Mitteilung, ob Verweisung an das AG Neukölln beantragt werde, weil der Beklagte nach seinen Angaben bereits zum Zeitpunkt des Widerspruchs gegen den Mahnbescheid in Berlin wohnhaft gewesen sei. Die Klägerin stellte Verweisungsantrag mit der Begründung, der Beklagte habe seinen Wohnsitz bereits zum Zeitpunkt des Widerspruchs nach Berlin verlegt; hier sei das AG Neukölln örtlich zuständig. Das AG Fürstenwalde erklärte sich für unzuständig und verwies den Rechtsstreit "an das nach §§ 12 ff. ZPO für den Wohnsitz des Beklagten zuständige" AG Neukölln.

Rz. 5

Das AG Neukölln teilte den Parteien mit, es halte den Verweisungsbeschluss für nicht bindend, weil das AG Fürstenwalde gem. § 29 ZPO weiterhin zuständig sei. Die Klägerin beantragte daraufhin, den Rechtsstreit an das AG Fürstenwalde zurückzuverweisen. Das AG Neukölln erklärte sich für unzuständig und legte die Sache dem OLG Brandenburg vor.

Rz. 6

Das Brandenburgische OLG hält das AG Neukölln für zuständig. Es sieht sich an einer entsprechenden Bestimmung des Gerichtsstandes durch Entscheidungen von vier anderen OLG (OLG Frankfurt, Beschl. v. 17.8.2001 - 21 AR 65/2001, NJW 2001, 3792; OLG Braunschweig, Beschl. v. 20.2.2006 - 1 W 98/05, OLGReport Braunschweig 2006, 652; OLG München, Beschl. v. 9.7.2007 - 31 AR 146/07, MDR 2007, 1278; KG, Beschl. v. 17.9.2007 - 2 AR 37/07, KGReport Berlin 2008, 248) gehindert und hat die Sache deshalb dem BGH vorgelegt (Beschl. v. 31.3.2011 - 1 AR 16/11, juris).

Rz. 7

I. Mit zutreffenden Erwägungen hat das vorlegende Gericht die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung gem. § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO und für eine Vorlage gem. § 36 Abs. 3 ZPO bejaht.

Rz. 8

I. Zuständig ist das AG Neukölln.

Rz. 9

1. Wie das vorlegende Gericht zutreffend darlegt, ist im Falle eines negativen Kompetenzkonflikts innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit grundsätzlich das Gericht als zuständig zu bestimmen, an das die Sache in dem zuerst ergangenen Verweisungsbeschluss verwiesen worden ist. Dies folgt aus der Regelung in § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO, wonach ein auf der Grundlage von § 281 ZPO ergangener Verweisungsbeschluss für das Gericht, an das die Sache verwiesen wird, bindend ist. Die Bindungswirkung entfällt nur dann, wenn der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss. Hierfür genügt nicht, dass der Beschluss inhaltlich unrichtig oder fehlerhaft ist. Willkür liegt nur vor, wenn dem Verweisungsbeschluss jede rechtliche Grundlage fehlt und er bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. nur BGH, Beschl. v. 27.5.2008 - X ARZ 45/08, NJW-RR 2008, 1309 Rz. 6).

Rz. 10

1. Zu Recht hat das vorlegende Gericht den Verweisungsbeschluss des AG Fürstenwalde bei Anlegung dieses Maßstabes nicht als willkürlich angesehen.

Rz. 11

Ein Verweisungsbeschluss kann allerdings als nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar zu beurteilen sein, wenn das verweisende Gericht eine seine Zuständigkeit begründende Norm nicht zur Kenntnis genommen oder sich ohne Weiteres darüber hinweggesetzt hat. Der Senat hat dies für den Fall bejaht, dass schon mehrere Jahre vor dem Verweisungsbeschluss eine Gesetzesänderung erfolgt ist, die Verweisungen der in Rede stehenden Art gerade verhindern soll (BGH, Beschl. v. 10.9.2002 - X ARZ 217/02, NJW 2002, 3634, 3635).

Rz. 12

Eine vergleichbare Konstellation ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Zwar ergibt sich sowohl aus dem Verweisungsbeschluss als auch aus dem zuvor erteilten Hinweis, dass das AG Fürstenwalde für die Beurteilung der Zuständigkeitsfrage nur auf den Wohnsitz abgestellt und eine mögliche Zuständigkeit am Gerichtsstand des Erfüllungsorts (§ 29 ZPO) nicht in Erwägung gezogen hat. Dies begründet jedoch noch nicht den Vorwurf der Willkür. Eine Prüfung der Zuständigkeit anhand von § 29 ZPO mag nahegelegen haben, weil der Inhalt der zusammen mit der Anspruchsbegründung vorgelegten Kopien des Mobilfunkvertrages und der Rechnungen darauf hindeutet, dass der Wohnsitz des Beklagten im Zeitpunkt des Vertragsschlusses und damit gem. § 269 Abs. 1 BGB auch der Erfüllungsort für den Klageanspruch in Fürstenwalde lag. Eine Befassung mit dieser Frage drängte sich dennoch nicht derart auf, dass die getroffene Verweisungsentscheidung als schlechterdings nicht auf der Grundlage von § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann. Weder die Klägerin noch der Beklagte - der sich im streitigen Verfahren bislang nicht gemeldet hat - hatten die Frage des Erfüllungsorts thematisiert oder zum Wohnsitz des Beklagten im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vorgetragen. Das AG Fürstenwalde war dadurch zwar nicht gehindert, diese Frage von sich aus aufzugreifen und die dafür maßgeblichen tatsächlichen Umstände durch Erteilung geeigneter Hinweise an die Parteien einer Klärung zuzuführen. Der Umstand, dass es von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat, stellt jedoch allenfalls einen einfachen Rechtsfehler dar, lässt die getroffene Entscheidung aber nicht als nicht mehr verständlich und offensichtlich unhaltbar erscheinen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2723635

NJW 2011, 8

EBE/BGH 2011

NJW-RR 2011, 1364

MDR 2011, 1254

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