Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten H. E. unter Freisprechung im übrigen "wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern in zwei Fällen, davon in einem besonders schweren Fall, und wegen versuchter Nötigung" zur Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren, die Angeklagte A. G. wegen "sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch eines Kindes" zur Freiheitsstrafe von zehn Monaten mit Bewährung verurteilt.

Die Revisionen der Angeklagten, mit denen sie das Verfahren beanstanden und die Verletzung materiellen Rechts rügen, haben Erfolg.

1. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer fehlt es allerdings nicht an der Verfahrensvoraussetzung ordnungsgemäßer Anklageerhebung. Schwere Mängel des Anklagesatzes, die bei unveränderter Zulassung der Anklage zur Unwirksamkeit des Eröffnungsbeschlusses führen, liegen nur vor, wenn unklar bleibt, auf welchen konkreten Sachverhalt sich die Anklage bezieht und welchen Umfang die Rechtskraft eines daraufhin ergehenden Urteils haben würde (st. Rspr., vgl. BGHSt 10, 137; BGHR StPO § 203 Beschluß 3; BGH, Beschluß vom 21. Oktober 1994 - 2 StR 404/94). Das ist hier nicht der Fall. Insoweit wird auf die Ausführungen in den Antragsschriften des Generalbundesanwalts vom 19. April 1995 Bezug genommen.

2. Die Revisionen haben mit der Sachrüge Erfolg. Auf die Verfahrensrügen kommt es daher nicht an.

a) Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Die Angeklagte A. G. lebte im Tatzeitraum von ihrem Ehemann getrennt und unterhielt eine Liebesbeziehung zu dem Angeklagten H. E.. Ihre am 10. November 1987 geborene eheliche Tochter S. J., die beim Vater wohnte, besuchte sie regelmäßig. Dabei kam es in den Wohnungen der Angeklagten zu folgenden Vorfällen (UA 5/6):

"1.) Bei einem dieser Besuche hielt der Angeklagte H. E. im Wohnzimmer seiner Wohnung seinen entblößten Penis in unmittelbarer Nähe - 15 cm - vor das Gesicht der S. J., während die Angeklagte A. G. sich im Schlafzimmer befand und schlief. Er steckte den Penis in Mund und Nase des Kindes, sodann auch in dessen Mund. Dieser Vorgang dauerte ca. 1 Minute.

2.) Bei einem weiteren Besuch hockte sich der nach dem Duschen nackte Angeklagte H. E. vor dem Kind S. hin und gab ihr einen Zungenkuß. Sodann entkleidete er das Mädchen und küßte dessen Scheide. Er führte dabei seine Zunge in die Scheide der S. ein. Die hierbei anwesende Angeklagte A. G. küßte ihr ebenfalls vier bis fünf Küsse auf die Scheide. Im weiteren Verlauf manipulierte der Angeklagte E. mit seinem erigierten Penis am Unterleib des Kindes S. bis zum Samenerguß. Ob es dabei zu einem vaginalen oder analen Geschlechtsverkehr gekommen ist, ließ sich nicht feststellen. Jedenfalls führte das Verhalten des Angeklagten zu Blutungen bei S.. Die Angeklagte A. G. gab S. ein Taschentuch, mit dem sie das Blut wegwischte.

3.) Bei einer weiteren Gelegenheit drohte der Angeklagte H. E. der S. mit einem großen Küchenmesser in der Hand, er werde sie mit dem Messer töten, wenn (sie) die geschilderten Vorkommnisse weitererzähle.

Diese Vorfälle trugen sich an nicht mehr feststellbaren Tagen zwischen April 1991 und Ende Mai 1993 zu."

b) Die Angeklagten haben die ihnen zur Last gelegten Taten bestritten.

Das Landgericht hat seine Überzeugung von dem festgestellten Tatgeschehen aufgrund der Angaben des geschädigten Kindes gewonnen. Nach den im Urteil wiedergegebenen Bekundungen des Mädchens vor und in der Hauptverhandlung (UA 14, 17 bis 19) hat der Angeklagte H. E. unter anderem seinen Penis "ganz nahe vor ihr Gesicht gehalten", "ihr oft Küsse mit der Zunge gegeben, auch auf ihre Scheide", seine Zunge in ihre Scheide "so reingesteckt wie beim Liebemachen" und ihr sein Glied in Scheide, "Po", Mund, Ohren und Nase gesteckt; "einmal sei, nachdem (er) seinen Penis in ihre Scheide gesteckt habe, Blut aus der Scheide gekommen". Die Angeklagte A. G. habe sie "mehr als vier- bis fünfmal" auf die Scheide geküßt, "ihren Finger bei ihr in Scheide und Po gesteckt" und sie "an der Scheide geleckt".

Zur Würdigung der Aussagen der Geschädigten führt das Landgericht aus, daß es die Angaben des Kindes im "Kernbereich für glaubhaft und zutreffend" hält; jedoch seien - wie den Feststellungen zugrunde gelegt - "Einschränkungen in bezug auf Art, Umfang und Zahl der erwiesenen Vorwürfe" zu machen (UA 44).

c) Diese Beweiswürdigung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

Ein Vergleich der Feststellungen mit den Angaben des Kindes ergibt, daß das Landgericht eine Reihe besonders schwerwiegender sexueller Handlungen (Geschlechtsverkehr, Analverkehr, Einführen des Penis in die Ohren [?], Manipulationen mit dem Finger in Scheide und After sowie Lecken am Geschlechtsteil) als nicht nachweisbar erachtet hat. Die Abweichungen betreffen unmittelbar die Art und Weise der Tatausführung und damit den Kern der Aussage des geschädigten Kindes. Indem das Landgericht einerseits hervorhebt, daß die Zeugin im Kernbereich glaubhafte und zutreffende Angaben gemacht hat, es andererseits aber an der Richtigkeit besonders gewichtiger Vorwürfe durchgreifende Zweifel hat, erweist sich seine Beweiswürdigung als widersprüchlich. Dieser Widerspruch wird auch nicht dadurch ausgeräumt, daß die Strafkammer die Bekundungen des Tatopfers zu den nicht als erwiesen angesehenen Beschuldigungen so behandelt, als beträfen sie nur unbedeutendes, die Glaubwürdigkeit im übrigen nicht berührendes Randgeschehen (vgl. BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung, widersprüchliche 1). Das Urteil muß daher auf die Sachrüge aufgehoben werden.

3. Die neu erkennende Jugendschutzkammer wird zu bedenken haben, daß bei der Aussage kindlicher Zeugen der Entstehungsgeschichte der Beschuldigung besondere Bedeutung zukommt (vgl. BGH StV 1994, 227; StV 1995, 6, 7; Langelüddeke/Bresser, Gerichtliche Psychiatrie 4. Aufl. S. 327; Leferenz in Göppinger/Witter [Hrsg.], Handbuch der forensischen Psychiatrie II (1972) S. 1334, 1335, 1339). Wenn - wie hier bei einem fünfjährigen Kind - vor Beginn der strafrechtlichen Ermittlungen zahlreiche "private Befragungen" zu den Tatvorwürfen (UA 6 bis 12, 31/32) erfolgt sind, so ist der Beweiswert belastender Angaben - insbesondere vor dem Hintergrund personensorgerechtlicher Auseinandersetzungen um das geschädigte Kind (UA 14/15, 16, 30) und bei diesem möglicherweise geweckter Erwartungen zum Inhalt seiner Aussage (vgl. Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage 3. Aufl. S. 100 f, 154 f) - besonders kritisch zu prüfen. Zur erforderlichen Gesamtwürdigung aller Umstände, die die Entscheidung zu beeinflussen geeignet sind, sind die Erkenntnisquellen zur Aussageentstehung auszuschöpfen.

Hierzu gehört etwa auch die - bisher unterlassene - Verwertung der in der Beratungsstelle "Neue Wege" im Rahmen der "Aufdeckungsgespräche" gefertigten Audio- und Videoaufnahmen (UA 40).

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993339

NJW 1996, 207

NStZ 1995, 558

StV 1995, 451

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