Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufungssumme § 511 Abs. 2 ZPO. Wirksame Erweiterung der Berufung in der mündlichen Verhandlung. Teilweise Weiterverfolgung der Klage

 

Leitsatz (amtlich)

Übersteigt die Beschwer der in erster Instanz unterlegenen Partei die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, so kann grundsätzlich erst auf der Grundlage des in der mündlichen Berufungsverhandlung gestellten Antrags entschieden werden, ob der Wert des Beschwerdegegenstands die Berufungssumme erreicht. Ein zunächst beschränkter Berufungsantrag, der die Berufungssumme unterschreitet, kann bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht erweitert werden, soweit die Erweiterung von der fristgerecht eingereichten Berufungsbegründung gedeckt ist (Bestätigung von BGHZ 12, 52 [67]; BGH, Beschl. v. 8.10.1982 - V ZB 9/82, MDR 1983, 388 = NJW 1983, 1063). Das gilt auch für den Fall, dass die Berufung zugleich mit ihrer Einlegung begründet und dabei ein Berufungsantrag angekündigt wird, mit dem die in erster Instanz abgewiesene Klage nur teilweise weiterverfolgt wird.

 

Normenkette

ZPO § 511

 

Verfahrensgang

LG Potsdam (Beschluss vom 11.03.2004; Aktenzeichen 11 S 224/03)

AG Potsdam

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss der 11. Zivilkammer des LG Potsdam v. 11.3.2004 aufgehoben, soweit die Berufung der Klägerin auf ihre Kosten als unzulässig verworfen worden ist.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen.

Wert des Beschwerdegegenstands: 600,01 EUR.

 

Gründe

Die Klägerin nimmt die Beklagte, ihre ehemalige Wohnungsvermieterin, unter Verrechnung beiderseitiger Ansprüche auf Erstattung überzahlter Mietbeträge in Anspruch, die sie in erster Instanz mit 2.563,25 EUR beziffert hat. Das AG hat die Klage im Hinblick auf einen Prozessvergleich, den die Parteien in einem Parallelrechtsstreit geschlossen haben, abgewiesen.

Mit der hiergegen eingelegten Berufung hat die Klägerin den Antrag angekündigt, die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 600,01 EUR zzgl. Zinsen zu zahlen. In der umfangreichen Berufungsbegründung hat die Klägerin unter Zugrundelegung unterschiedlicher Berechnungsansätze zunächst Überzahlungen i.H.v. 8.129,83 DM, von 4.896,67 DM und schließlich von 1.156,99 DM (591,56 EUR) errechnet. Sodann heißt es in der Berufungsbegründung wörtlich:

"Mit der hier streitgegenständlichen Klage hat die Klägerin in dem erstinstanzlichen Verfahren vor dem AG eine Hauptforderung i.H.v. EUR 1.882,52 als Rückzahlung geltend gemacht, obwohl sie auf Grund des oben dargelegten Sach- und Streitstandes lediglich bei Zugrundelegung des richterlichen Hinweises v. 5.2.2003 eine Überzahlung i.H.v. 591,56 EUR darlegt. Aus diesem Grunde beschränkt sich die Berufung auf diese Überzahlung i.H.v. 591,56 EUR, aufgerechnet auf den Wert von 600,01 EUR."

Das Berufungsgericht hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass es beabsichtige, der Entscheidung über die Statthaftigkeit der Berufung den Wert von 591,56 EUR zu Grunde zu legen und die Berufung mangels Erreichens der Berufungssumme als unzulässig zu verwerfen. Die Klägerin hat darauf u.a. entgegnet, aus ihren erstinstanzlichen Schriftsätzen errechne sich ein Rückforderungsbetrag von 4.008,40 DM (2.049,46 EUR); hiervon mache "die weiter hauptsächlich auf dieser Argumentation fußende Berufung ... einen Teilbetrag i.H.v. 600,01 EURgeltend".

Mit dem angefochtenen Beschluss hat das LG die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Berufungsantrag erwecke zwar den Anschein, dass die Berufungssumme erreicht sei; aus der Begründung des Antrags ergebe sich aber eindeutig, dass die Klägerin die Berufung auf den Betrag von 591,56 EUR beschränkt habe.

Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin, deren Zurückweisung die Beklagte beantragt.

II.

1. Die kraft Gesetzes statthafte (§ 522 Abs. 1 S. 4 ZPO) Rechtsbeschwerde ist zulässig. Der Entscheidung des Berufungsgerichts ist - wenn auch unausgesprochen - der unrichtige (dazu unten 2.) Obersatz zu entnehmen, für die Beurteilung der Frage, ob die Berufungssumme erreicht ist, sei auch bei einer die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO übersteigenden Beschwer allein das in der Berufungsbegründung angekündigte Begehren maßgebend. Die hierdurch indizierte Wiederholungs- oder Nachahmungsgefahr (BGH, Beschl. v. 18.3.2004 - V ZR 222/03, MDR 2004, 895 = BGHReport 2004, 975 = NJW 2004, 1960, unter II 2) erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

Keiner Entscheidung bedarf, ob das LG den Berufungsantrag zutreffend dahin ausgelegt hat, dass der in zweiter Instanz weiterverfolgte Teil des Klagebegehrens sich auf 591,56 EUR beschränkt und damit hinter dem im Berufungsantrag selbst bezifferten Betrag von 600,01 EUR zurückbleibt. Denn auch wenn dem zu folgen sein sollte, ergibt sich daraus noch nicht, dass die Berufung der Klägerin unzulässig ist.

a) Übersteigt die Beschwer der in erster Instanz unterlegenen Partei - wie hier - die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, so kann grundsätzlich erst auf der Grundlage des in der mündlichen Berufungsverhandlung gestellten Antrags entschieden werden, ob der Wert des Beschwerdegegenstands die Berufungssumme erreicht. Ein zunächst beschränkter Berufungsantrag, der die Berufungssumme unterschreitet, kann bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht erweitert werden, soweit die Erweiterung von der fristgerecht eingereichten Berufungsbegründung gedeckt ist (BGHZ 12, 52 [67]; BGH, Beschl. v. 8.10.1982 - V ZB 9/82, MDR 1983, 388 = NJW 1983, 1063, unter II 2 m.w.N.). Das gilt nicht nur dann, wenn die Berufung zunächst unbeschränkt eingelegt wird und erst in der später eingereichten Berufungsbegründung Anträge angekündigt werden, die hinter der Beschwer zurückbleiben, sondern auch für den hier gegebenen Fall, dass die Berufung zugleich mit ihrer Einlegung begründet und dabei ein Berufungsantrag angekündigt wird, mit dem die in erster Instanz abgewiesene Klage nur teilweise weiterverfolgt wird. Ebenso wie eine zunächst unbeschränkt eingelegte, später eingeschränkte Berufung kann daher auch eine anfänglich beschränkte Berufung, die nach dem angekündigten Berufungsantrag die Berufungssumme nicht erreicht, dadurch zulässig werden, dass sie in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht in den Grenzen der rechtzeitig eingereichten Berufungsbegründung auf einen Umfang erweitert wird, der die Wertgrenze des § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO übersteigt. Denn entscheidend ist nicht, ob der Berufungskläger sein Rechtsmittel anfänglich oder nachträglich auf einen Betrag von nicht mehr als 600 EUR beschränkt, sondern vielmehr, ob die Berufung in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht wirksam auf einen Betrag von mehr als 600 EUR erweitert wird. Solange diese Möglichkeit besteht, darf die Berufung deshalb nicht mit der Begründung als unzulässig verworfen werden, die Berufungssumme sei nicht erreicht.

b) Gemessen an diesen Grundsätzen kann die Entscheidung des Berufungsgerichts keinen Bestand haben. Die Berufungsbegründung der Klägerin greift das klageabweisende Urteil erster Instanz in vollem Umfang an. Denn die Klägerin legt mit unterschiedlichen Berechnungsansätzen dar, dass ihr nach ihrer Auffassung Rückzahlungsansprüche zustehen, die die Wertgrenze von 600 EUR übersteigen. Dass sie nach dem Verständnis des Berufungsgerichts vom Inhalt der Berufungsbegründung bereit zu sein schien, sich stattdessen mit einem Betrag von nur 591,56 EUR zu begnügen, hinderte die Klägerin nicht, in der mündlichen Verhandlung unter Rückgriff auf eine der in der Berufungsbegründung vorgenommenen, ihr günstigeren Berechnungsvarianten einen darüber hinausgehenden Betrag geltend zu machen. Die Klägerin hat zudem schon in ihrer Entgegnung auf den Hinweis des Berufungsgerichts aus dessen Sicht eine Erhöhung des Berufungsantrags auf 600,01 EUR in der Weise angekündigt, dass sie den geforderten Betrag nunmehr als Teilbetrag des in erster Instanz errechneten Rückzahlungsanspruchs von 2.049,46 EUR deklariert hat.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1276691

BGHR 2005, 321

FamRZ 2005, 193

NJW-RR 2005, 714

ZAP 2005, 320

ZMR 2005, 178

MDR 2005, 409

MietRB 2005, 144

ProzRB 2005, 94

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge