Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufungsbegründungsfrist. Verschulden. Fristversäumnis. Rechtsanwalt. Transportrechtssache. Freistellung einer Schadensersatzforderung. Akute Erkrankung. Arbeitsunfähigkeit. Wiedereinsetzungsantrag. Ärztliches Attest. Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Berufungsbegründungsfrist ist nicht ohne Verschulden i.S.d. § 233 ZPO versäumt, wenn ein Rechtsanwalt nicht alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Wahrung der Frist ergriffen hat und nicht festgestellt werden kann, dass die Frist auch bei Durchführung dieser Maßnahmen versäumt worden wäre.

 

Normenkette

ZPO § 233

 

Verfahrensgang

LG Bonn (Beschluss vom 21.08.2012; Aktenzeichen 8 S 118/12)

AG Siegburg (Entscheidung vom 14.03.2012; Aktenzeichen 118 C 408/11)

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 8. Zivilkammer des LG Bonn vom 21.8.2012 wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.

Beschwerdewert: 2.959,90 EUR.

 

Gründe

Rz. 1

I. Die Klägerin nimmt die Beklagte in einer Transportrechtssache auf Freistellung von einer Schadensersatzforderung in Anspruch. Das AG hat die Klage abgewiesen. Gegen dieses Urteil hat die Klägerin fristgerecht Berufung eingelegt. Das Berufungsgericht hat die Frist zur Begründung der Berufung antragsgemäß um einen Monat bis zum 12.7.2012 verlängert.

Rz. 2

Die Klägerin hat ihre Berufung mit einem am 26.7.2012 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet und zugleich wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, ihr Prozessbevollmächtigter habe die Berufungsbegründung nicht rechtzeitig fertigstellen können, weil er aufgrund einer akuten Erkrankung arbeitsunfähig gewesen sei.

Rz. 3

Das Berufungsgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin, mit der sie die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses erstrebt und den Wiedereinsetzungsantrag weiterverfolgt.

Rz. 4

II. Das Berufungsgericht hat die begehrte Wiedereinsetzung mit der Begründung abgelehnt, der Prozessbevollmächtigte der Klägerin - dessen Verschulden diese sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsse - habe die Berufungsbegründungsfrist schuldhaft versäumt. Aus dem eingereichten ärztlichen Attest gehe hervor, dass er am 12.7.2012 und damit am Tag des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist erkrankt sei. Da er die Berufungsbegründungsfrist bis zum letzten Tag ausgeschöpft habe, hätte er auch für den Fall einer unvorhergesehenen Erkrankung für eine Vertretung sorgen müssen.

Rz. 5

III. Die gegen diese Beurteilung gerichtete Rechtsbeschwerde ist zulässig (dazu 1), hat aber in der Sache keinen Erfolg. Die Begründung der angefochtenen Entscheidung ergibt zwar eine Rechtsverletzung (dazu 2); die Entscheidung stellt sich jedoch aus anderen Gründen als richtig dar (dazu 3).

Rz. 6

1. Die nach §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist gem. § 574 Abs. 2 Nr. 2 Fall 2 ZPO zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Der angefochtene Beschluss verletzt die Klägerin in ihrem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf wirkungsvollen Rechtsschutz und rechtliches Gehör. Dieser gebietet es, einer Partei die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht aufgrund von Anforderungen an die Sorgfaltspflichten ihres Prozessbevollmächtigten zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen sie auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen musste (st.Rspr.; vgl. nur BGH, Beschl. v. 4.2.2010 - I ZB 3/09, MDR 2010, 779, 780; Beschl. v. 5.6.2012 - VI ZB 16/12, NJW 2012, 2522 Rz. 6, jeweils m.w.N.).

Rz. 7

2. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung kann der Klägerin die beantragte Wiedereinsetzung nicht versagt und ihre Berufung daher nicht verworfen werden. Ein Verschulden des Prozessbevollmächtigten der Klägerin kann entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht darin gesehen werden, dass dieser für den Fall seiner unvorhergesehenen Erkrankung keinen Vertreter bestellt hat. Ein Rechtsanwalt, der die Frist zur Einlegung oder Begründung eines Rechtsmittels bis zum letzten Tag ausschöpft, hat zwar wegen des damit erfahrungsgemäß verbundenen Risikos erhöhte Sorgfalt aufzuwenden, um die Einhaltung der Frist sicherzustellen. Auf einen krankheitsbedingten Ausfall muss er sich aber nur dann durch konkrete Maßnahmen vorbereiten, wenn er einen solchen Ausfall vorhersehen kann (st.Rspr.; vgl. nur BGH, Beschl. v. 18.9.2008 - V ZB 32/08, NJW 2008, 3571 Rz. 7 und 9; Beschl. v. 5.4.2011 - VIII ZB 81/10, NJW 2011, 1601, jeweils m.w.N.). Er ist daher auch dann, wenn er eine Frist bis zum letzten Tag ausschöpfen will, nicht gehalten, für den Fall einer unvorhergesehenen Erkrankung vorsorglich einen Vertreter zu bestellen.

Rz. 8

3. Die Entscheidung des Berufungsgerichts stellt sich aber aus anderen Gründen als richtig dar. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat die Berufungsbegründungsfrist schuldhaft versäumt, weil er nach seiner unvorhergesehenen Erkrankung nicht versucht hat, eine Verlängerung dieser Frist zu erreichen. Ein Rechtsanwalt muss auch bei einer unvorhergesehenen Erkrankung alle ihm dann noch möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Wahrung einer Frist ergreifen (st.Rspr.; vgl. nur BGH, NJW 2008, 3571 Rz. 9 m.w.N.). Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat zwar im Rechtsbeschwerdeverfahren anwaltlich versichert, er sei aufgrund seiner Erkrankung nicht mehr imstande gewesen, selbst einfachste anwaltliche Tätigkeiten zu verrichten und habe seinen Versuch, die Berufungsbegründungsschrift abzufassen, deshalb bereits nach wenigen Minuten abbrechen müssen. Damit hat er aber nicht glaubhaft gemacht, dass es ihm nicht möglich und zumutbar war, beim Berufungsgericht eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zu beantragen und - im Blick darauf, dass das Berufungsgericht diese Frist bereits antragsgemäß um einen Monat verlängert hatte und eine weitere Verlängerung nur mit Einwilligung des Gegners möglich war (§ 520 Abs. 2 Satz 2 und 3 ZPO) - den Prozessbevollmächtigten der Beklagten um Zustimmung zur Fristverlängerung zu bitten. Es kann zwar nicht festgestellt werden, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten sich mit einer weiteren Fristverlängerung einverstanden erklärt hätte. Darauf kann sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin jedoch nicht mit Erfolg berufen. Hat ein Rechtsanwalt nicht alle ihm möglichen und zumutbaren Maßnahmen zur Wahrung einer Berufungsbegründungsfrist ergriffen, geht es zu seinen Lasten, wenn nicht festgestellt werden kann, dass die Frist auch bei Durchführung dieser Maßnahmen versäumt worden wäre.

Rz. 9

IV. Danach ist die Rechtsbeschwerde gegen den angegriffenen Beschluss zurückzuweisen (§ 577 Abs. 3 ZPO). Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 4711783

BB 2013, 1473

DB 2013, 8

EBE/BGH 2013

FamRZ 2013, 1222

NJW-RR 2013, 1011

JurBüro 2013, 504

ZAP 2013, 700

AnwBl 2013, 769

JZ 2013, 446

MDR 2013, 807

VersR 2014, 520

ZfS 2013, 508

NJW-Spezial 2013, 414

BRAK-Mitt. 2013, 225

PAK 2013, 137

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