Verfahrensgang

LG Koblenz (Urteil vom 11.04.2011)

 

Tenor

Auf die Revisionen der Angeklagten S., R., L., B., K., Br., Sü. und Re. wird das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 11. April 2011, soweit es sie und die Mitangeklagten D., G., T., Ho., H., Sch., Rei., St., W. und Ku. betrifft, mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben mit Ausnahme des Schuldspruchs bezüglich der Mitangeklagten D., Ho. und Rei. in den Fällen C. I., II. und III. der Urteilsgründe, der in diesen Fällen verhängten Einzelstrafen sowie der Einziehung des Wurfsterns, der Schlagringe, der Patronen und der Kartuschen mit Magazin.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Rz. 1

Das Landgericht hat die Angeklagten S., R., L., B., K., Br., Sü. und Re. sowie die nichtrevidierenden Mitangeklagten D., G., T., Ho., H., Sch., Rei., St. und W., die unter der Bezeichnung „Widerstand-Radio” ein Internetradio zur Verbreitung rechtsradikalen Gedankenguts betrieben, wegen der „Bildung einer kriminellen Vereinigung” in Tateinheit mit Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole, öffentlicher Aufforderung zu Straftaten, Volksverhetzung, Gewaltdarstellung, Billigung von Straftaten, Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener verurteilt. Weiter hat es die Mitangeklagten Ku. und W. – diesen in einem weiteren Fall – der „Bildung einer kriminellen Vereinigung”, die Mitangeklagten D., Ho. und Rei. der Straftaten nach dem Waffengesetz sowie den Mitangeklagten D. der gemeinschädlichen Sachbeschädigung für schuldig befunden. Es hat gegen alle Angeklagten (Gesamt-)Freiheitsstrafen verhängt und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die Revisionen der Angeklagten S., R., L., B., Ku., Br., Sü. und Re. haben mit der Sachrüge Erfolg; auf die Verfahrensbeanstandungen kommt es daher nicht mehr an. Die Aufhebung des Urteils erstreckt sich in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang auf die nichtrevidierenden Mitangeklagten.

Rz. 2

I. Der Schuldspruch unterliegt in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang der Aufhebung, weil die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht den Mindestanforderungen entspricht, die an die richterliche Überzeugungsbildung zu stellen sind.

Rz. 3

1. Das Landgericht hat bei der Verurteilung der Angeklagten wegen „Bildung einer kriminellen Vereinigung” und – mit Ausnahme des Mitangeklagten Ku. – wegen zahlreicher mitverwirklichter Äußerungs- und Propagandadelikte unter anderem Feststellungen zu 150 Liedern größtenteils rechtsradikalen Inhalts getroffen, deren textliche Darstellung – teilweise in deutscher Übersetzung der englischen Originalfassung – über siebzig Urteilsseiten umfasst. Es hat weiter bei einem Großteil der Angeklagten über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahr mit minutengenauer Darstellung der Spielzeiten eine Vielzahl von über das „Widerstand-Radio” gesendeten Liedern und Äußerungen der Angeklagten nach Datum und Uhrzeit festgestellt. Im Rahmen der Beweiswürdigung hat es lediglich ausgeführt, die getroffenen Feststellungen beruhten „auf den glaubhaften geständigen Einlassungen der Angeklagten in der Hauptverhandlung, den verlesenen Registerauszügen und den glaubhaften Bekundungen der Zeugen KOK Scha. und KOK Sto., die insbesondere über den Gang des Ermittlungsverfahrens berichtet haben.”

Rz. 4

2. Das Landgericht hat sich damit – auf die Sachrüge beachtlich – seine Überzeugung von der Täterschaft der Angeklagten auf unzureichender Basis verschafft. Hierzu gilt:

Rz. 5

a) Das deutsche Strafprozessrecht wird von dem Grundsatz beherrscht, dass die Gerichte von Amts wegen den wahren Sachverhalt aufzuklären haben (§ 244 Abs. 2 StPO). Auf dieser Grundlage (§ 261 StPO) ist der Schuldspruch zu treffen und sind die entsprechenden Rechtsfolgen festzusetzen. Dieser Grundsatz darf – schon wegen der Gesetzesbindung des Richters (Art. 20 Abs. 3 GG) – nicht dem Interesse an einer einfachen und schnellstmöglichen Erledigung des Verfahrens geopfert werden. Es ist daher unzulässig, dem Urteil einen Sachverhalt zu Grunde zu legen, der nicht auf einer Überzeugungsbildung unter vollständiger Ausschöpfung des Beweismaterials beruht. Dies gilt auch dann, wenn sich der Angeklagte – unter Umständen im Rahmen einer Verfahrensabsprache – geständig zeigt. Zwar unterfällt auch die Bewertung eines Geständnisses dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung. Das Tatgericht muss allerdings, will es die Verurteilung des Angeklagten auf dessen Einlassung stützen, von deren Richtigkeit überzeugt sein (BGH, Urteil vom 10. Juni 1998 – 2 StR 156/98, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 31). Es ist deshalb stets zu untersuchen, ob das abgelegte Geständnis mit dem Ermittlungsergebnis zu vereinbaren ist, ob es in sich stimmig ist und ob es die getroffenen Feststellungen trägt (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 11. Dezember 2008 – 3 StR 21/08, NStZ 2009, 467 mwN). Die Beschränkung der Beweiswürdigung im Wesentlichen auf den bloßen Hinweis, der Angeklagte sei geständig gewesen, genügt insbesondere dann nicht, wenn aufgrund der Komplexität und der zahlreichen Details des festgestellten Sachverhalts Zweifel bestehen können, dass der Angeklagte an das Tatgeschehen eine auch in den Einzelheiten genügende Erinnerung hat (BGH, Beschluss vom 5. Dezember 1995 – 4 StR 698/95, StV 1996, 214, 215).

Rz. 6

b) Nach diesen Maßstäben hält die Beweiswürdigung rechtlicher Prüfung nicht stand. Das Landgericht hat es ausweislich der Urteilsgründe unterlassen, die Geständnisse der Angeklagten näher zu verifizieren. Damit beruht seine Überzeugung nicht auf einer tragfähigen Grundlage. Insbesondere mit Blick auf die jeweils genauen Texte einer großen Zahl teilweise fremdsprachiger Lieder sowie die Frage, welcher Angeklagte genau bei welcher Moderation genau welche Lieder zu Gehör brachte, liegt es auf der Hand, dass die Angeklagten sich insoweit nicht an die exakten Einzelheiten des zudem einige Zeit zurückliegenden Geschehens erinnern konnten.

Rz. 7

3. Die Aufhebung des Schuldspruchs wirkt gemäß § 357 StPO auch zugunsten des Angeklagten Br., der seine Revision auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Mai 2006 – 1 StR 57/06, BGHSt 51, 34, 39), sowie zugunsten der nichtrevidierenden Mitangeklagten D., G., T., Ho., H., Sch., Rei., St., W. und Ku., soweit sie wegen der nämlichen Tat, die sich hier nach der Mitgliedschaft an derselben kriminellen Vereinigung bestimmt, verurteilt worden sind. Der materiell-rechtliche Fehler einer unzureichenden Überzeugungsbildung betrifft den Angeklagten Br. sowie die genannten Mitangeklagten – die Mitangeklagten W. und Ku. (auch) wegen der Verurteilung unter I.2 der Urteilsformel – in gleicher Weise. Bezüglich der Mitangeklagten D., Ho. und Rei. erstreckt sich die Aufhebung indessen nicht auf die Verurteilung in den Fällen C. I., II. und III. der Urteilsgründe, die jeweils nicht die nämliche Tat im Sinne des § 357 StPO betrifft.

Rz. 8

Dass sich die Anforderungen an die Urteilsgründe hinsichtlich der nichtrevidierenden Mitangeklagten nur nach dem Maßstab des § 267 Abs. 4 StPO bestimmen, steht einer Erstreckung nicht entgegen, denn es handelt sich hier nicht nur um einen bloßen Erörterungsmangel (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. November 2004 – 5 StR 376/03, NStZ 2005, 223, insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 49, 342 ff.; vom 4. Februar 1997 – 5 StR 12/97; vom 22. September 2011 – 2 StR 383/11, StV 2012, 133, 134). Vielmehr ist das Landgericht aufgrund einer unzureichenden Beweiswürdigung zu einer Verurteilung sämtlicher Angeklagter gelangt. Von der Verpflichtung des Tatgerichts, seine Überzeugung auf eine tragfähige Grundlage zu stützen, vermag aber auch § 267 Abs. 4 StPO, der nur Darstellungspflichten betrifft, nicht zu befreien.

Rz. 9

 

Entscheidungsgründe

II. Die Aufhebung des Schuldspruchs zieht für die Angeklagten S., R., L., B., K., Br., Sü. und Re. sowie die Mitangeklagten G., T., H., Sch., St., W., Ku., D., Ho. und Rei. die Aufhebung auch des Rechtsfolgenausspruchs nach sich. Für die Mitangeklagten D., Ho. und Rei. bleibt es allerdings bei den in den Fällen C. I., II. und III. der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen und der auf diesen Taten beruhenden Einziehungsentscheidung.

Rz. 10

III. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:

Rz. 11

1. Das neue Tatgericht wird bei der rechtlichen Würdigung zu beachten haben, dass unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Senats zum Konkurrenzverhältnis (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 2009 – 3 StR 277/09, BGHSt 54, 216, 235) bei einer Verurteilung nach § 129 StGB im Schuldspruch die konkrete Begehungsform zu bezeichnen ist.

Rz. 12

Nach den bisherigen Feststellungen waren die Angeklagten Sü., G. und Ku. Gründer des „Widerstand-Radios” und beteiligten sich unmittelbar im Anschluss daran in der Folgezeit – teils unterschiedlich lang – als Mitglied an der Vereinigung. Sollte sich dies erneut bestätigen, stünde die Gründung, die im Verhältnis zur Beteiligung als Mitglied einen selbständigen Unrechtsgehalt aufweist, zu der mitgliedschaftlichen Betätigung in Tateinheit und wäre nicht nur bei der Bewertung des Schuldumfangs im Rahmen der Strafzumessung zu berücksichtigen. Vielmehr gebietet es das Erfordernis der Rechtsklarheit in diesem Fall, bereits im Schuldspruch zu verdeutlichen, dass über die mitgliedschaftliche Beteiligung hinaus eine weitere, eigenständige Tathandlung des § 129 Abs. 1 StGB verwirklicht wurde (vgl. BGH, Urteil vom 3. Dezember 2009, aaO).

Rz. 13

2. Sollte das neue Tatgericht im Rahmen der Hauptverhandlung erneut das Senden von Liedern und Äußerungen feststellen, wird es – genauer als bisher – jedes Lied und jede Äußerung, die es zur Grundlage des Schuld- und Strafausspruchs macht, unter Beachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. insbesondere BVerfG, Beschlüsse vom 25. März 2008 – 1 BvR 1753/03, NJW 2008, 2907; vom 15. September 2008 – 1 BvR 1565/05, NJW 2009, 908; vom 18. Mai 2009 – 2 BvR 2202/08, NJW 2009, 2805) und des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urteil vom 3. April 2008 – 3 StR 394/07, juris) daraufhin zu untersuchen haben, ob hierdurch Äußerungs- und Propagandadelikte verwirklicht worden sind. Das gilt insbesondere für die Feststellung der in § 130 StGB unter Strafe gestellten Tathandlungen (vgl. BGH, Urteil vom 3. April 2008, aaO Rn. 13 ff.).

Rz. 14

3. Die im angefochtenen Urteil vorgenommene mittäterschaftliche Zurechnung zu Lasten aller Angeklagten, die während eines gemeinsamen Zeitraums Mitglied der Vereinigung waren, unabhängig davon, ob sie in eigener Person ein Äußerungs- und Propagandadelikt begangen haben, widerspricht – wie auch die konkurrenzrechtliche Bewertung der einzelnen Taten – der ständigen Rechtsprechung. Danach hat nicht allein der Zusammenschluss zu einer kriminellen Vereinigung zur Folge, dass jede von einem Vereinigungsmitglied begangene Straftat jedem sonstigen Mitglied im Sinne des § 25 Abs. 2 StGB zugerechnet werden kann. Vielmehr ist für jede einzelne Tat nach den allgemeinen Kriterien festzustellen, ob sich die anderen Mitglieder hieran als Mittäter, Anstifter oder Gehilfen beteiligt oder ob sie gegebenenfalls überhaupt keinen strafbaren Tatbeitrag geleistet haben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 23. Dezember 2009 – StB 51/09, NStZ 2010, 445, 447 f.; vom 24. Juli 2008 – 3 StR 243/08, StV 2008, 575; vom 13. Mai 2003 – 3 StR 128/03, StV 2004, 21, 22; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 25 Rn. 12a).

Rz. 15

Auf der Grundlage der bislang getroffenen Feststellungen ist schon mangels eigener Tathandlung bzw. die fremde Tat fördernder Handlung für eine Zurechnung der Moderationen anderer Beteiligter jeweils wechselseitig über § 25 Abs. 2 StGB oder § 27 StGB kein Raum. Auch der vom Generalbundesanwalt herangezogene Umstand, dass es einen wöchentlichen „Teamspeak” gab – in dem u.a. auch über Aufnahme neuer und Ablösung bisheriger Moderatoren einstimmig abgestimmt wurde – und dieser für alle Mitglieder verpflichtend war, erlaubt keine Zurechnung der jeweils getätigten Äußerungs- und Propagandadelikte eben dieser zu anderen Mitgliedern der Vereinigung. Es stand nach den Feststellungen vielmehr den Betreffenden frei, wann und wie oft sie Moderationen durchführten, wobei jeder Moderator Titel aus seinem eigenen Bestand spielte. Dass die Moderatoren sich untereinander mit Titeln aushalfen und Liedtitel auch in einem nur für sie zugänglichen internen Forum abgelegt waren, kann mangels näherer Feststellungen zur Art der Titel und des Zugriffs darauf die Zurechnung ebenfalls nicht begründen.

Rz. 16

Deshalb wird möglicherweise bei allen Beteiligten hinsichtlich der – tateinheitlich begangenen – Äußerungs- und Propagandadelikte vor allem darauf abzustellen sein, wie viele Verstöße sie durch eigenes Senden der Beiträge und Lieder verwirklicht haben. Zusätzlich wird zu prüfen sein, ob denjenigen Beteiligten, die einen wesentlichen Beitrag zur tatnotwendigen Infrastruktur geleistet haben, die von anderen Moderatoren gesendeten Inhalte als einheitliches Äußerungs- oder Propagandadelikt im Sinne eines uneigentlichen Organisationsdelikts zugerechnet werden können. Wegen der diesbezüglichen weiteren Einzelheiten verweist der Senat auf seinen Beschluss vom 19. April 2011 (3 StR 230/10, BGHR StGB § 129 Konkurrenzen 3).

Rz. 17

4. Schließlich wird das neue Tatgericht zugunsten des Angeklagten S. gegebenenfalls Anlass zur Prüfung einer Strafmilderung nach § 129 Abs. 6 Nr. 1, § 49 Abs. 2 StGB haben.

 

Unterschriften

Becker, Pfister, Hubert, Schäfer, Menges

 

Fundstellen

Haufe-Index 2952678

NStZ-RR 2012, 256

AO-StB 2013, 28

StV 2013, 197

StraFo 2012, 232

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