Entscheidungsstichwort (Thema)

Fehlerhafte Beschlussgrundlage im Umgangsrechtsstreit. Übergangsvorschrift. Wahrung der Beschwerdefrist. Grundsatz der Meistbegünstigung

 

Leitsatz (amtlich)

Hat das FamG seinen Beschluss in einer Umgangsrechtssache inhaltlich statt auf das gem. Art. 111 FGG-RG fortgeltende frühere Recht fehlerhaft auf das neue Verfahrensrecht gestützt, wird die Beschwerdefrist nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung auch durch die Einlegung einer Beschwerde beim AG gewahrt (im Anschluss an den BGH v. 6.4.2011 - XII ZB 553/10, FamRZ 2011, 966).

 

Normenkette

FamFG § 63 Abs. 1, § 64 Abs. 1; ZPO § 621e Abs. 1, 3, § 517

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches OLG (Beschluss vom 01.02.2011; Aktenzeichen 10 UF 254/10)

AG Schwarzenbek (Beschluss vom 05.10.2010; Aktenzeichen 22 F 132/09)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des 2. Senats für Familiensachen des OLG Schleswig in Schleswig vom 1.2.2011 aufgehoben, soweit er die Versagung der Wiedereinsetzung und die Verwerfung der Beschwerde betrifft.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das OLG zurückverwiesen.

Beschwerdewert: 3.000 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Die Beteiligte zu 1) wendet sich mit der Rechtsbeschwerde gegen die Zurückweisung ihres Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die damit einhergehende Verwerfung ihrer Beschwerde.

Rz. 2

Die Eltern streiten um das Umgangsrecht des Beteiligten zu 2) (im Folgenden: Vater) mit ihrem im Oktober 2008 geborenen Kind. Die Beteiligte zu 1) (im Folgenden: Mutter) und der Vater des betroffenen Kindes waren seit August 2008 verheiratet, trennten sich im Januar 2009 und wurden im Oktober 2010 geschieden.

Rz. 3

Mit einem am 20.2.2009 beim AG eingegangenen Schriftsatz beantragte der Vater eine gerichtliche Regelung seines Umgangsrechts. Mit Beschluss vom 8.9.2009 bestellte das AG den Beteiligten zu 3) zum Verfahrenspfleger. Mit Schriftsatz vom 9.12.2009 rügte dieser, dass eine Beiordnung als Verfahrensbeistand nach neuem Verfahrensrecht geboten gewesen sei und bat um eine Änderung des Beschlusses. Das AG wies ihn mit Verfügung vom 11.12.2009 darauf hin, dass wegen der Einleitung des Verfahrens im Februar 2009 weiterhin das frühere Verfahrensrecht anwendbar sei. Dieser Hinweis wurde den übrigen Beteiligten nicht übersandt.

Rz. 4

Mit Beschluss vom 5.10.2010 hat das AG der Antragsgegnerin das Aufenthaltsbestimmungsrecht für den Bereich des Umgangsrechts des Kindes mit dem Vater entzogen, insoweit eine Umgangspflegschaft angeordnet und die Beteiligte zu 4) zur Umgangspflegerin bestellt. Für den Fall einer verweigerten Herausgabe des Kindes an die Umgangspflegerin wurde zum Vollzug des Beschlusses das Betreten und Durchsuchen der Wohnung genehmigt. In dem Beschluss ist der Beteiligte zu 3) als "Verfahrensbeistand" bezeichnet. Die Durchsuchungsanordnung wurde auf § 91 FamFG, die Kostenentscheidung auf die §§ 80, 81 FamFG und die Festsetzung des Verfahrenswertes auf § 45 FamGKG gestützt. Der Beschluss endet mit einer Rechtsbehelfsbelehrung, die darauf hinweist, dass die nach § 58 Abs. 1 FamFG zulässige Beschwerde gem. § 64 Abs. 1 FamFG beim AG einzulegen sei.

Rz. 5

Der Beschluss wurde der Mutter am 13.10.2010 zugestellt. Mit einem am Montag, dem 15.11.2010 per Telefax beim AG eingegangenen Schriftsatz hat die Mutter Beschwerde gegen den Beschluss eingelegt und diese zugleich begründet. Der Schriftsatz wurde an das OLG weitergeleitet und ging dort am 19.11.2010 ein. Nachdem ihr die für das Beschwerdeverfahren beantragte Prozesskostenhilfe mit einem am 10.1.2011 zugestellten Beschluss versagt worden war, legte die Mutter mit einem am 24.1.2011 beim OLG eingegangenen Schriftsatz ergänzend "Berufung" ein, beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und begründete die "Berufung" und den Wiedereinsetzungsantrag.

Rz. 6

Das OLG hat den Antrag der Mutter auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist zurückgewiesen und ihre Beschwerde als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Mutter.

II.

Rz. 7

Für das Verfahren ist gem. Art. 111 Abs. 1 FGG-RG noch das bis Ende August 2009 geltende Prozessrecht anwendbar, weil der Rechtsstreit vor diesem Zeitpunkt eingeleitet worden ist (vgl. BGH v. 3.11.2010 - XII ZB 197/10, FamRZ 2011, 100).

Rz. 8

1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO i.V.m. §§ 621e Abs. 3 Satz 2, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Sie ist auch zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO).

Rz. 9

Das Beschwerdegericht hat durch seine Entscheidung das Verfahrensgrundrecht der Mutter auf Gewährung wirkungsvollen Rechtschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt, welches es den Gerichten verbietet, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BGH v. 2.4.2008 - XII ZB 189/07, FamRZ 2008, 1338 Rz. 8 m.w.N.).

Rz. 10

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

Rz. 11

a) Auch wenn die Mutter die nach dem hier anwendbaren früheren Recht geltende Frist zur Einlegung der Beschwerde beim Beschwerdegericht versäumt hat, darf ihr dies nach den Grundsätzen der Meistbegünstigung nicht zum Nachteil gereichen.

Rz. 12

Das Meistbegünstigungsprinzip greift zunächst in Fällen, in denen das Gericht eine der Form nach unrichtige Entscheidung gewählt hat. Dann steht den Parteien dasjenige Rechtsmittel zu, welches nach Art der ergangenen Entscheidung statthaft ist. Daneben bleibt das Rechtsmittel zulässig, das bei einer in der richtigen Form getroffenen Entscheidung gegeben gewesen wäre (BGHZ 152, 213 = NJW-RR 2003, 277 Rz. 46). Das Meistbegünstigungsprinzip stellt damit eine Ausprägung der verfassungsrechtlichen Grundsätze der allgemeinen Gleichheit vor dem Gesetz und des Vertrauensschutzes dar. Über die Fälle inkorrekter Entscheidung hinaus kommt es daher immer dann zur Anwendung, wenn für den Rechtsmittelführer eine Unsicherheit, das einzulegende Rechtsmittel betreffend, besteht, sofern diese auf einem Fehler oder einer Unklarheit der anzufechtenden Entscheidung beruht (BGHZ 152, 213 = NJW-RR 2003, 277 Rz. 46 und BGH Beschl. v. 21.10.1993 - V ZB 45/93, WM 1994, 180).

Rz. 13

Ebenso findet der Grundsatz der Meistbegünstigung Anwendung, wenn das Gericht nach dem von ihm angewandten Verfahrensrecht die Entscheidungsart zwar zutreffend gewählt, inhaltlich aber falsches Verfahrensrecht angewandt hat. Denn auch in diesen Fällen ist das Vertrauen der Beteiligten auf die Richtigkeit der gewählten Entscheidungs- bzw. Verfahrensform schutzwürdig (BGH v. 6.4.2011 - XII ZB 553/10, FamRZ 2011, 966 Rz. 13).

Rz. 14

b) Gemessen an diesen Anforderungen hätte das Beschwerdegericht das Rechtsmittel der Mutter nicht als unzulässig verwerfen dürfen. Denn gegen den Beschluss des AG war nach dem Meistbegünstigungsprinzip auch die Beschwerde nach neuem Verfahrensrecht gemäß den §§ 58 ff. FamFG statthaft, die gem. §§ 63 Abs. 1, 64 Abs. 1 FamFG binnen einer Frist von einem Monat bei dem Gericht einzulegen ist, dessen Beschluss angefochten wird.

Rz. 15

Zutreffend hatte das AG allerdings durch Beschluss entschieden, weil über Anträge zur Regelung des Umgangs mit einem Kind auch nach früherem Verfahrensrecht im Beschlusswege zu entscheiden war (vgl. jetzt § 38 Abs. 1 FamFG). Gleichwohl liegt der Entscheidung neues Verfahrensrecht zugrunde, wie sich aus ihrem Inhalt ergibt. Zwar hatte das AG den Beteiligten zu 4) (im Folgenden: Verfahrenspfleger) zuvor darauf hingewiesen, dass weiterhin altes Verfahrensrecht anwendbar sei und es deswegen bei der Bestellung als Verfahrenspfleger (nicht Verfahrensbeistand) verbleibe. In seiner späteren Entscheidung vom 5.10.2010 hat es diese Rechtsauffassung allerdings nicht umgesetzt, sondern den Verfahrenspfleger als Verfahrensbeistand bezeichnet und auch alle übrigen verfahrensrechtlichen Entscheidungen auf Vorschriften des FamFG gestützt. Zudem hat es dem Beschluss eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt, die erst nach neuem Verfahrensrecht (vgl. § 39 FamFG) vorgeschrieben ist. Auch der Inhalt der Rechtsmittelbelehrung, nämlich dass gegen die Entscheidung gem. § 58 Abs. 1 FamFG eine Beschwerde zulässig und diese gem. § 64 Abs. 1 FamFG beim AG einzulegen sei, spricht eindeutig für die Anwendung des neuen Verfahrensrechts. Unabhängig von der Beschlussform handelt es sich inhaltlich mithin um eine Entscheidung auf der Grundlage des neuen Verfahrensrechts. Das Vertrauen der Mutter auf die Richtigkeit des gewählten Verfahrensrechts ist deswegen nach der Rechtsprechung des Senats schutzwürdig.

Rz. 16

Die Anforderungen an eine zulässige Beschwerde nach neuem Verfahrensrecht sind hier gewahrt. Der Beschluss des AG war der Mutter am 13.10.2010 zugestellt worden. Am 15.11.2010 (einem Montag) ist ihre begründete Beschwerde beim AG eingegangen. Damit ist die Beschwerdefrist der §§ 63 Abs. 1, 64 Abs. 1 FamFG gewahrt.

Rz. 17

3. Weil die Beschwerde der Mutter nach dem Meistbegünstigungsgrundsatz zulässig ist, kommt es auf das Vorliegen einer schuldlosen Fristversäumung als Voraussetzung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht an (vgl. insoweit BGH v. 3.11.2010 - XII ZB 197/10, FamRZ 2011, 100 Rz. 9 f.; BGH, Urt. v. 25.11.2009 - XII ZR 8/08, FamRZ 2010, 192 Rz. 5 und BGHZ 184, 13 = FamRZ 2010, 357 Rz. 7; BGH Beschl. v. 1.3.2010 - II ZB 1/10, FamRZ 2010, 639).

Rz. 18

4. Gemäß § 621e Abs. 2 i.V.m. § 577 Abs. 4 ZPO ist der angefochtene Beschluss im ausgesprochenen Umfang aufzuheben und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen.

Rz. 19

Der Grundsatz der Meistbegünstigung führt allerdings nicht dazu, dass das Rechtsmittel auf dem vom erstinstanzlichen Gericht eingeschlagenen falschen Weg fortgeführt werden müsste; vielmehr hat das Rechtsmittelgericht das Verfahren so weiter zu betreiben, wie dies im Falle einer formell richtigen Entscheidung durch die Vorinstanz und dem danach gegebenen Rechtsmittel geschehen wäre (BGH v. 6.4.2011 - XII ZB 553/10, FamRZ 2011, 966 Rz. 12; v. 17.12.2008 - XII ZB 125/06, MDR 2009, 1000 Rz. 28). Das Beschwerdegericht wird das Verfahren deswegen nach dem bis Ende August 2009 geltenden Verfahrensrecht fortzuführen haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2734865

EBE/BGH 2011

FamRZ 2011, 1575

FuR 2011, 627

NJW-RR 2011, 1371

MDR 2011, 1131

NJ 2011, 3

FF 2011, 375

FamFR 2011, 422

FamRB 2011, 308

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