Leitsatz (amtlich)

Verkündungsmängel (hier: Verkündung nicht in öffentlicher Sitzung im angegebenen Sitzungssaal, sondern im Dienstzimmer des Richters) stehen dem wirksamen Erlass eines Urteils nur entgegen, wenn gegen elementare, zum Wesen der Verlautbarung gehörende Formerfordernisse verstoßen wurde.

Sind die Mindestanforderungen an eine Verlautbarung gewahrt, hindern auch Verstöße gegen zwingende Formerfordernisse das Entstehen eines wirksamen Urteils nicht. Zu den Mindestanforderungen gehört, dass die Verlautbarung vom Gericht beabsichtigt war oder von den Parteien derart verstanden werden durfte und die Parteien von dem Erlass und dem Inhalt der Entscheidung förmlich unterrichtet wurden (Bestätigung von BGH, Beschl. v. 14.6.1954 - GSZ 3/54, BGHZ 14, 39, 44; v. 8.2.2012 - XII ZB 165/11, NJW 2012, 1591 Rz. 13; Urt. v. 31.5.2007 - X ZR 172/04, BGHZ 172, 298 Rz. 12; v. 12.3.2004 - V ZR 37/03, NJW 2004, 2019, unter II 1b).

 

Normenkette

ZPO § 310 Abs. 1 S. 1; GVG § 169 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

LG Essen (Urteil vom 18.08.2016; Aktenzeichen 10 S 9/16)

AG Essen (Entscheidung vom 27.11.2015; Aktenzeichen 15 C 708/14)

 

Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil der 10. Zivilkammer des LG Essen vom 18.8.2016 wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 9.018,60 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Das AG hat die auf Räumung einer Mietwohnung und Ersatz vorgerichtlicher Kosten gerichtete Klage abgewiesen.

Rz. 2

Am Schluss der Berufungsverhandlung vom 21.7.2016 hat der Vorsitzende der Kammer Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 18.8.2016, 12 Uhr, bestimmt. Zu der anberaumten Zeit fand die Beklagte den am 21.7.2016 angekündigten Sitzungssaal verschlossen vor. Es gelang ihr nicht, die Tür zum Sitzungssaal zu öffnen. Die Beklagte begab sich später am gleichen Tag erneut zum Berufungsgericht. Dort informierte sie der Kammervorsitzende über den Erfolg der Berufung des Klägers und erklärte, dass die Tür zum Sitzungssaal in der Annahme, es sei niemand gekommen, nicht geöffnet worden sei.

Rz. 3

Das vom Vorsitzenden unterschriebene Verkündungsprotokoll vom 18.8.2016 weist die Anwesenheit der drei Kammermitglieder und eine Verkündung "des anliegenden Urteils" in öffentlicher Verhandlung aus. Die Zustellung des in den Gerichtsakten unmittelbar nach dem Verkündungsprotokoll abgehefteten Berufungsurteils verfügte die Geschäftsstelle am 25.8.2016; die Urteilszustellung erfolgte ausweislich der bei den Akten befindlichen Empfangsbekenntnisse am 8.9.2016 an den Prozessbevollmächtigten der Beklagten und am 12.9.2016 an den des Klägers.

Rz. 4

In den vom Senat eingeholten dienstlichen Stellungnahmen erklärten die Beisitzer der Berufungskammer, dass sie an der Verkündung - wie bei gesonderten Verkündungsterminen üblich - nicht teilgenommen hätten. Der Vorsitzende der Berufungskammer teilte mit, dass er an die konkrete Verkündung keine Erinnerung habe; üblicherweise werde der Sitzungssaal verschlossen, wenn vor der Verkündung eine längere Pause liege; zur Verkündung werde die Eingangstüre dann von der Kammer geöffnet und die Entscheidung verkündet, was ausweislich des Protokolls auch geschehen sei.

II.

Rz. 5

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Zulassung der Revision ist weder im Hinblick auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO) noch zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO).

Rz. 6

Insbesondere ist die Zulassung der Revision nicht deshalb - unter dem Gesichtspunkt der Sicherung der einheitlichen Rechtsprechung - geboten, weil es sich bei dem Berufungsurteil um einen allenfalls den Rechtsschein eines Urteils erzeugenden Entscheidungsentwurf (sog. Schein- oder Nichturteil) handelte. Denn das Berufungsurteil vom 18.8.2016 ist an diesem Tag jedenfalls in der Weise wirksam verkündet worden, dass es als Urteil existent geworden ist.

Rz. 7

Verkündungsmängel stehen nach der Rechtsprechung des BGH dem wirksamen Erlass eines Urteils nur entgegen, wenn gegen elementare, zum Wesen der Verlautbarung gehörende Formerfordernisse verstoßen wurde, so dass von einer Verlautbarung im Rechtssinne nicht mehr gesprochen werden kann. Sind deren Mindestanforderungen hingegen gewahrt, hindern auch Verstöße gegen zwingende Formerfordernisse das Entstehen eines wirksamen Urteils nicht (BGH, Beschl. v. 14.6.1954 - GSZ 3/54, BGHZ 14, 39, 44; v. 8.2.2012 - XII ZB 165/11, NJW 2012, 1591 Rz. 13; Urt. v. 12.3.2004 - V ZR 37/03, NJW 2004, 2019 unter II 1b). Zu den Mindestanforderungen gehört, dass die Verlautbarung vom Gericht beabsichtigt war oder von den Parteien derart verstanden werden durfte und die Parteien vom Erlass und Inhalt der Entscheidung förmlich unterrichtet wurden (BGH, Urt. v. 12.3.2004 - V ZB 37/03, a.a.O.; v. 31.5.2007 - X ZR 172/04, BGHZ 172, 298 Rz. 12; Beschl. v. 8.2.2012 - XII ZB 165/11, a.a.O.). Diese Rechtsprechung beruht auf der Überlegung, dass aus Gründen der Rechtssicherheit nicht jeder Verkündungsmangel dazu führen kann, ein Urteil als bloßes Schein- oder Nichturteil einzuordnen, das als solches nicht in Rechtskraft erwachsen kann und dessen Nichtexistenz somit auch noch nach vielen Jahren unabhängig von Rechtsmittelfristen geltend gemacht werden könnte (BGH, Beschl. v. 14.6.1954 - GSZ 3/54, a.a.O., S. 48 ff.).

Rz. 8

Nach diesen Grundsätzen ist das Berufungsurteil ordnungsgemäß "verlautbart" worden. Denn das vom Vorsitzenden unterzeichnete Protokoll vom 18.8.2016 über die "Verkündung des anliegenden Urteils" sowie das von allen Kammermitgliedern unterschriebene Urteil sind zeitnah zur Geschäftsstelle gelangt und den Parteien zugestellt worden. Die Beklagte war zudem nach ihren Angaben schon am Tag der Verkündung auf ihre Nachfrage vom Kammervorsitzenden über den Prozessausgang informiert worden. Es steht daher nicht in Zweifel, dass die Verlautbarung des Urteils vom Gericht beabsichtigt war und die Parteien vom Erlass der Entscheidung auch förmlich unterrichtet worden sind.

Rz. 9

Dass das Protokoll insoweit unrichtig ist, als nur der Vorsitzende, nicht aber die Beisitzer anwesend waren, ist schon deshalb unschädlich, weil die Verkündung in einem gesonderten Verkündungstermin vom Vorsitzenden in Abwesenheit der anderen Mitglieder des Prozessgerichts vorgenommen werden kann (§ 311 Abs. 4 ZPO) und dies auch der üblichen Praxis entspricht.

Rz. 10

Es kann auch dahinstehen, ob das Sitzungsprotokoll vom 18.8.2016 - wofür nach den vom Senat im Freibeweis festgestellten Umständen vieles spricht - auch insoweit unrichtig ist, als die Verkündung nicht im Sitzungssaal, sondern etwa im Dienstzimmer des Vorsitzenden stattgefunden hat. Denn in diesem Fall läge zwar ein Verstoß gegen die dienstliche richterliche Pflicht zur Verkündung des Urteils in öffentlicher Sitzung (§ 310 Abs. 1 Satz 1 ZPO; § 169 Satz 1 GVG) vor. Gleichwohl handelte es sich bei dem Berufungsurteil auch dann nicht um ein Scheinurteil. Vielmehr läge - ebenso wie bei einer Verkündung nicht in dem anberaumten Verkündungstermin, sondern in einem anderen, den Parteien nicht bekannt gegebenen Termin (vgl. BGH, Beschl. v. 14.6.1954 - GSZ 3/54, a.a.O.) oder im Falle der fehlerhaften Ersetzung der Verkündung des Urteils durch dessen Zustellung (BGH, Urt. v. 12.3.2004 - V ZR 37/03, a.a.O.; vgl. ferner BGH, Urt. v. 2.4.1955 - IV ZR 261/54, BGHZ 17, 118, 122) - auch (nur) ein solcher Verkündungsmangel vor, der die Mindestanforderungen an das Existentwerden eines Urteils nicht in Frage stellt. Dass das Berufungsurteil bei der Verkündung bereits vorlag (zur Notwendigkeit des Vorliegens zumindest der schriftlich niedergelegten Urteilsformel im Zeitpunkt der Verkündung vgl. nur BGH, Beschl. v. 21.4.2015 - VI ZR 132/13, NJW 2015, 2342 Rz. 10 m.w.N.) ist durch das Sitzungsprotokoll bewiesen und wird auch durch die von der Beschwerde vorgetragenen Umstände nicht in Frage gestellt.

Rz. 11

2. Von einer weiteren Begründung wird gem. § 544 Abs. 4 Satz 2, 2. Halbs. ZPO abgesehen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 11406640

NJW 2018, 559

FamRZ 2018, 367

NJW-RR 2018, 127

JZ 2018, 212

MDR 2018, 169

MDR 2018, 458

Mitt. 2018, 152

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