Entscheidungsstichwort (Thema)

Fristversäumung in Anwaltskanzlei. Nachgeschobenes Vorbringen für Wiedereinsetzungsantrag. Organisation des Fristenwesens

 

Leitsatz (redaktionell)

Erkennbar ungenaue Angaben oder unklare Angaben in einem Wiedereinsetzungsantrag, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten ist, dürfen auch noch nach Fristablauf erläutert oder vervollständigt werden.

 

Normenkette

ZPO §§ 139, 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2

 

Verfahrensgang

OLG Rostock (Beschluss vom 24.01.2003; Aktenzeichen 7 U 137/02)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschl. des 7. Zivilsenats des OLG Rostock v. 24.1.2003 aufgehoben.

Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.

Die Sache wird zur Verhandlung und Entscheidung über die Berufung der Klägerin an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I.

Die Klägerin verlangt als Zessionarin vom Beklagten Schadensersatz aus einem Anwaltsvertrag. Das LG hat die Klage abgewiesen. Das Urteil wurde der Prozessbevollmächtigten der Klägerin gemäß handschriftlichem Vermerk auf dem Empfangsbekenntnis am 26.7.2002 zugestellt. Die Klägerin hat unter Hinweis darauf, dass das Urteil am 29.7.2002 zugegangen sei, am 29.8.2002 Berufung eingelegt.

Mit richterlicher Verfügung v. 2.10.2002 wurde die Klägerin darauf hingewiesen, es sei beabsichtigt, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht rechtzeitig begründet worden sei. Mit Telefax v. 11.10.2002 hat die Klägerin die Berufungsbegründung nachgeholt, um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gebeten und zur Begründung ausgeführt: Zum Zeitpunkt des Eingangs des erstinstanzlichen Urteils sei in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten die langjährige Bürovorsteherin, Frau P., für die Notierung der Fristen zuständig gewesen. Dazu gebe es seit Dezember 1998 im Büro eine allgemeine Arbeitsanweisung, die in Ziff. 3 Abs. 2 bis 4 wie folgt laute:

Frau P. öffnet die Eingangspost und versieht diese mit dem Eingangsstempel. Sie ist angewiesen, den wesentlichen Inhalt der Post zu lesen, die Fristen zu berechnen und die Fristen auf dem jeweiligen Schriftstück und im Hauptterminkalender zu notieren. Dasselbe gilt für Termine.

Notiert werden im Terminkalender jeweils eine Vorfrist, eine Hauptfrist und der Fristablauf. Dabei sollen von der Vorfrist bis zum Fristablauf mindestens fünf Arbeitstage liegen. Fällt das Fristende auf einen Sonnabend, Sonntag oder Feiertag, ist das Fristende auf den nächstfolgenden Werktag zu notieren. Fällt eine Vorfrist auf einen Sonnabend, Sonntag oder Feiertag, so ist diese auf den Werktag vor dem Sonnabend, Sonntag oder Feiertag zu notieren. Die Hauptfristen sind zwei Tage vor Fristablauf in den Terminkalender einzutragen.

Zur besseren Kontrolle ist auf der Eingangspost jeweils die Frist oder der Termin durch Frau P. abzuhaken, und die einzelnen Fristtermine - Vorfrist und Fristablauf - sind auf der Post einzutragen. Diese Eintragung ist mit folgendem Vermerk zu versehen "Not. pa.". (Dies bedeutet Fristen bzw. Termine notiert P.).

Die Anwältin sei am 29.7.2002 mit Frau P. die Post durchgegangen und habe dabei auch den Tenor des Urteils des LG Stralsund gelesen, auf dem die Fristen notiert gewesen seien. Dabei sei ihr aufgefallen, dass für die Berufungsbegründungsfrist die Frist nicht auf den 29.9., sondern auf den 30.9.2002 notiert gewesen sei. Anhand eines Kalenders habe sie sodann überprüft, dass der 29.9. ein Sonntag sei. Frau P. habe dies in Gegenwart der Rechtsanwältin noch in Klammern hinter dem Fristablauf vermerkt. Außerdem sei die Notierung der Frist im Terminkalender mit dem Kürzel "Not. pa." auf dem Urteil vermerkt gewesen. Nach Erhalt der gerichtlichen Verfügung v. 2.10.2002 habe sich jedoch herausgestellt, dass im Fristenkalender nur die Berufungs-, nicht jedoch die Berufungsbegründungsfrist eingetragen gewesen sei. Die Bürovorsteherin werde immer wieder stichprobenweise überprüft, arbeite außerordentlich zuverlässig und könne sich den ihr unterlaufenen Fehler nicht erklären.

Das Berufungsgericht hat die Überzeugung gewonnen, dass das erstinstanzliche Urteil der Prozessbevollmächtigten erst am 29.7.2002 zugegangen ist, jedoch die Berufung mangels rechtzeitiger Begründung als unzulässig verworfen und der Klägerin Wiedereinsetzung versagt, weil deren Prozessbevollmächtigte die Fristversäumung mitverschuldet habe. Die Klägerin habe nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihre Anwältin eine klare und unmissverständliche Anweisung erteilt habe, unter allen Umständen zunächst die Fristen im Fristenkalender einzutragen und erst danach einen entsprechenden Vermerk auf der Akte anzubringen. Aus Ziff. 3 der Arbeitsanweisung ergebe sich nicht, dass die gebotene Reihenfolge zwingend vorgeschrieben gewesen sei.

II.

Die gegen den Beschluss des Berufungsgerichts gem. § 574 Abs. 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 S. 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Die Rechtsprechung des BGH bejaht diesen Zulassungsgrund, wenn die Entscheidung des Beschwerdegerichts auf der Verletzung von Verfahrensgrundrechten, namentlich des Rechts auf Gewähr rechtlichen Gehörs, beruht (BGH v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 [226 f] = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207) oder einer Partei den Zugang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug durch unzumutbare, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigende Anforderungen erschwert (BGH, Beschl. v. 23.10.2003 - V ZB 28/03, BGHReport 2004, 266 = MDR 2004, 408 = NJW 2004, 367 [368]; v. 9.12.2003 - VI ZB 26/03, BGHReport 2004, 622 = MDR 2004, 477). Einen entsprechenden Mangel der angefochtenen Entscheidung rügt die Rechtsbeschwerde mit Erfolg.

1. Die rechtlichen Anforderungen, die das Berufungsgericht an die Organisation des Fristeneintrags stellt, stehen allerdings in Einklang mit der Entscheidung des BGH v. 10.3.1992 - VI ZB 4/92, NJW-RR 1992, 826. Danach ist eine klare allgemeine Anweisung erforderlich, dass stets und unter allen Umständen zuerst die Fristen im Kalender einzutragen sind und erst sodann ein entsprechender Vermerk auf der Akte angebracht werden darf.

2. Ob - wie die Rechtsbeschwerde geltend macht - der Beschluss des BGH v. 5.2.2003 (BGH, Beschl. v. 5.2.2003 - VIII ZB 115/02, MDR 2003, 710 = BGHReport 2003, 697 = NJW 2003, 1815 [1816]) demgegenüber geringere Organisationsanforderungen stellt, kann auf sich beruhen; denn die Rechtsbeschwerde rügt jedenfalls zu Recht, dass sich die angefochtene Entscheidung mit wesentlichem Vorbringen der Klägerin nicht befasst.

a) Die Klägerin hat im Schriftsatz v. 20.11.2002 vorgetragen, sie habe der Bürovorsteherin die strikte Anweisung erteilt, das Kürzel "not. pa." erst dann auf dem Posteingang zu notieren, wenn vorher die Frist im Fristenkalender eingetragen worden sei. In der mit diesem Schriftsatz vorgelegten eidesstattlichen Erklärung äußert sich die Bürovorsteherin dazu wie folgt:

Ich habe die strikte Anweisung, bei der eingehenden Post die Fristen erst in den Terminkalender zu notieren und dann mein Kürzel "not. pa." auf den Posteingang zu notieren. Der Vermerk soll den Anwälten die Sicherheit geben, dass die von mir berechnete Frist in den Terminkalender eingetragen wurde.

Entspricht diese Schilderung der Wahrheit, ist die Organisation des Fristenwesens in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Klägerin rechtlich nicht zu beanstanden. In diesem Falle war ein Arbeitsablauf vorgegeben, der grundsätzlich geeignet war, eine ordnungsgemäße Fristenkontrolle sicherzustellen.

b) Dieses Vorbringen kann nicht deshalb unbeachtet bleiben, weil es erst nach Ablauf der gem. § 234 Abs. 1, § 236 Abs. 2 ZPO geltenden zweiwöchigen Antragsfrist bei Gericht eingegangen ist. Erkennbar ungenaue oder unklare Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten war, dürfen noch nach Fristablauf erläutert oder vervollständigt werden (BGH, Beschl. v. 6.5.1999 - VII ZB 6/99, MDR 1999, 1025 = NJW 1999, 2284; v. 5.10.1999 - VI ZR 22/99, BGHR ZPO § 234 Abs. 1 Begründung 12). Um entsprechende Ergänzungen ging es im Streitfall. Die Klägerin hatte fristgerecht die allgemeine Anweisung der Anwältin vorgelegt. Die eidesstattliche Versicherung der Rechtsanwältin v. 11.10.2002 bringt zum Ausdruck, sie habe darauf vertrauen dürfen, dass von der Bürovorsteherin als notiert bestätigte Fristen im Terminkalender eingetragen sind. Der nachgeschobene Schriftsatz enthielt zu dieser Frage kein neues Vorbringen, sondern nur eine Darstellung des für den Wiedereinsetzungsantrags maßgeblichen Sachverhalts, die exakter war als die bisherige Schilderung.

c) Dieses Vorbringen hat das Berufungsgericht entweder nicht zur Kenntnis genommen oder wegen des Eingangs nach Fristablauf entgegen der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung rechtsirrig nicht berücksichtigt. Die angefochtene Entscheidung beruht auf diesem Fehler; denn der Vortrag der Klägerin ist unter Einbeziehung des nachgeschobenen Schriftsatzes geeignet, ein fehlendes eigenes Verschulden der Rechtsanwältin an der Fristversäumung darzulegen.

d) Da eine weitere Tatsachenaufklärung nicht in Betracht kommt, kann der Senat über das Wiedereinsetzungsgesuch selbst abschließend entscheiden. Das Berufungsgericht hat - wie insbes. aus seinen Ausführungen zur Wahrung der Berufungsfrist deutlich wird - das Wiedereinsetzungsgesuch nicht zurückgewiesen, weil es die Glaubhaftigkeit der Darstellung der Klägerin bezweifelt hat, sondern allein deshalb scheitern lassen, weil es verfahrensfehlerhaft von einem unvollständigen Sachvortrag ausgegangen ist. Daher bedarf es keiner erneuten tatrichterlichen Würdigung. Die Klägerin hat hinreichend glaubhaft gemacht, dass die Anordnung der Fristeneintragung im Büro ihrer Prozessbevollmächtigten den Anforderungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung genügte und sie infolgedessen ohne Verschulden die Berufungsbegründungsfrist versäumt hat.

3. Der angefochtene Beschluss erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig (§ 577 Abs. 3 ZPO); denn die Feststellung des Berufungsgerichts, das erstinstanzliche Urteil sei der Klägerin erst am 29.7.2002 zugestellt worden, so dass sie die Berufungsfrist gewahrt habe, ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Zwar erbringt das Empfangsbekenntnis (§ 174 ZPO) grundsätzlich den vollen Beweis für den Zeitpunkt der Entgegennahme durch den Anwalt (vgl. BGH, Urt. v. 24.4.2001 - VI ZR 258/00, MDR 2001, 1007 = BGHReport 2001, 854 = NJW 2001, 2722 m.w.N.). Dies hat das Berufungsgericht indessen nicht verkannt. Seine Annahme, der Klägerin sei der Beweis des Gegenteils gelungen, beruht auf einer tatrichterlichen Würdigung, die vom Rechtsbeschwerdegericht hinzunehmen ist.

4. Die Sache ist zur Verhandlung und Entscheidung über die Berufung an das OLG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten dieses Verfahrens zusammen mit der Hauptsache (vgl. BGH, Beschl. v. 24.7.2000 - II ZB 20/99, MDR 2000, 1333 = NJW 2000, 3284 [3286]) zu befinden hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1193396

BGHR 2005, 52

FamRZ 2004, 1552

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