Entscheidungsstichwort (Thema)

Bescheinigung nach § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG 1993: Rückwirkung der Bescheinigung auf den in ihr bezeichneten Zeitraum, Bescheinigung als anfechtbarer Verwaltungsakt, Abweichung vom BFH-Urteil vom 15.9.1994 XI R 101/92, keine Möglichkeit des Verzichts auf die Steuerbefreiung - Anfrage wegen Vorlage an den Großen Senat des BFH bei Änderung der Zuständigkeit nach dem Geschäftsverteilungsplan

 

Leitsatz (amtlich)

§ 4 Nr. 20 Buchst. a UStG 1993 ermächtigt die zuständige Landesbehörde zu bescheinigen, daß die begünstigten Unternehmer die in der Vorschrift bezeichneten Aufgaben erfüllt haben. Die Wirkung der Bescheinigung bezieht sich auf den in ihr bezeichneten Zeitraum vor der Bekanntgabe.

 

Orientierungssatz

1. Die in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG erwähnte Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde ist ein (mit dem Widerspruch) anfechtbarer Verwaltungsakt (vgl. BVerwG-Urteil vom 3.12.1976 VII C 73.75).

2. Der Senat weicht von dem Urteil des XI. Senats des BFH vom 15.9.1994 XI R 101/92 ab. Einer Anfrage wegen einer Vorlage an den Großen Senat bedurfte es im Streitfall nicht, weil die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Rechtsfrage nach dem Geschäftsverteilungsplan auf den erkennenden Senat übergegangen ist.

3. Die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG 1993 steht nicht zur Disposition des Steuerpflichtigen. Eine "Gestaltung", mit Hilfe einer "nachträglich" erwirkten Bescheinigung, Umsätze zunächst der Besteuerung zu unterwerfen, solange höhere Vorsteuerbeträge vorhanden sind, ermöglicht die Vorschrift nicht.

 

Normenkette

FGO § 11 Abs. 3 Sätze 2, 1; UStG 1993 § 4 Nr. 20 Buchst. a S. 2, Nr. 20a S. 2, § 9

 

Verfahrensgang

FG Münster (Urteil vom 18.11.1997; Aktenzeichen 15 K 2885/96 U)

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), ein als gemeinnützig anerkannter und als eingetragener Verein geführter Mädchenchor, unterwarf seine Entgelte aus Konzerten, Fernsehauftritten und aus der Mitwirkung bei sonstigen Veranstaltungen in den Streitjahren 1993 und 1994 dem ermäßigen Steuersatz. Außerdem erklärte er Umsätze durch Lieferungen, für die er eine Steuer nach dem allgemeinen Steuersatz anmeldete.

Für 1993 meldete der Kläger einen Vorsteuerüberschuß von ... DM an. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) stimmte der Steueranmeldung für 1993 am 27. Juni 1994 zu. Für 1994 erklärte der Kläger in der am 2. Juni 1995 bei dem FA eingereichten Steueranmeldung einen Vorsteuerüberschuß von ... DM. Nachdem das FA eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung (Umsatzsteuer-Sonderprüfungsbericht vom 17. Februar 1995) durchgeführt hatte, änderte es die Steuerfestsetzung für 1993 nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) und setzte die Umsatzsteuer für 1993 ebenso wie für 1994 auf 0 DM fest.

Das FA hatte mit Schriftsatz vom 9. Dezember 1994 bei der Bezirksregierung eine Bescheinigung beantragt und unter dem 2. Februar 1995 auch erhalten, nach der der Kläger die gleichen kulturellen Aufgaben erfülle wie der Bund, die Länder, die Gemeinden oder Gemeindeverbände. Als Geltungsdauer wurde die Zeit vom 20. März 1991 bis 31. Dezember 1994 bescheinigt. Das FA vertrat nunmehr die Auffassung, der Kläger habe steuerfreie Umsätze nach § 4 Nr. 20 Buchst. a des Umsatzsteuergesetzes 1993 (im folgenden nur: UStG) ausgeführt, die den Ausschluß vom Vorsteuerabzug bewirkten.

Die mit Rechtsbehelfsbelehrung versehene Bescheinigung ging am 28. Februar 1995 bei dem Kläger ein.

Die gegen die Steuerfestsetzungen 1993 und 1994 eingelegten Einsprüche des Klägers blieben erfolglos.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es war der Ansicht, die Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde entfalte keine Rückwirkung. Deswegen seien, so führte das FG u.a. weiter aus, die Umsätze des Klägers steuerpflichtig und ließen den Vorsteuerabzug zu. Wegen der weiteren Begründung wird auf das in Entscheidungen der Finanzgerichte 1998, 510 veröffentlichte Urteil Bezug genommen.

Mit der (zugelassenen) Revision rügt das FA Abweichung der Vorentscheidung von dem Beschluß des Senats vom 6. Dezember 1994 V B 52/94 (BStBl II 1995, 913). Danach wirke die Bescheinigung für den in ihr angegebenen Zeitraum auch rückwirkend.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist der Revision entgegengetreten.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Die Vorentscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Umsätze des Klägers in den Streitjahren 1993 und 1994 sind entgegen der Auffassung des FG nicht steuerpflichtig. Die vorhandenen Feststellungen reichen nicht aus, um abschließend zu entscheiden.

1. Der Kläger hat (auch) steuerfreie Umsätze nach § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG ausgeführt, die den Vorsteuerabzug ausschließen.

a) Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 UStG fallenden Umsätzen sind nach § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG steuerfrei die Umsätze von Chören, soweit sie Einrichtungen des Bundes, der Länder, der Gemeinden oder der Gemeindeverbände sind. Das gleiche gilt für Umsätze gleichartiger Einrichtungen anderer Unternehmer, wenn die zuständige Landesbehörde bescheinigt, daß sie die gleichen kulturellen Aufgaben wie die in Satz 1 bezeichneten Einrichtungen erfüllen.

Die zuständige Landesbehörde für die Ausstellung der in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG bezeichneten Bescheinigung (in Nordrhein-Westfalen der Regierungspräsident gemäß § 1 der Verordnung über die Zuständigkeiten nach § 4 Nr. 20 Buchstabe a und Nr. 21 Buchstabe b des Umsatzsteuergesetzes vom 14. März 1989, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 1989, 104) hat mit Wirkung für die Streitjahre erklärt, daß der Kläger die gleichen kulturellen Voraussetzungen wie die in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 1 UStG bezeichneten Einrichtungen erfülle. Die übrigen Voraussetzungen für die Steuerbefreiung der in § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG bezeichneten Umsätze des Klägers sind nicht im Streit.

b) Die in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG erwähnte Bescheinigung der zuständigen Landesbehörde ist materiell-rechtliche Voraussetzung für die Steuerbefreiung der in der Vorschrift bezeichneten Umsätze. Die Bescheinigung ist ein (mit dem Widerspruch) anfechtbarer Verwaltungsakt (vgl. auch Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 3. Dezember 1976 VII C 73.75, BStBl II 1977, 334 zu der vergleichbaren Bescheinigung nach § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG). Der Verwaltungsakt wird in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, bekanntgegeben wird (§ 43 Abs. 1 Satz 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes --VwVfG--). Er wird mit dem Inhalt wirksam, mit dem er bekanntgegeben wird (§ 43 Abs. 1 Satz 2 VwVfG).

Zweifel an der Wirksamkeit (vgl. § 43 Abs. 3 i.V.m. § 44 Abs. 1 bis 4 VwVfG) einer Bescheinigung nach § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG, der das Ergebnis einer Prüfung für einen Zeitraum vor ihrer Bekanntgabe zugrunde liegt, sind nicht gegeben. Nach der Auffassung des Senats ermächtigt § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG die zuständige Landesbehörde zu bescheinigen, daß die begünstigten Unternehmer (u.a. Chöre) die in der Vorschrift bezeichneten Aufgaben erfüllt haben. Die Annahme, daß die Ermächtigung nur für die Beurteilung der Tätigkeit ab oder nach der Bekanntgabe der Bescheinigung erteilt werden darf, wäre mit dem Sinn der Vorschrift nicht vereinbar (vgl. unten c). Somit ist nach der vorliegenden Bescheinigung der Bezirksregierung vom 2. Februar 1995 davon auszugehen, daß der Kläger für die Zeit vom 20. März 1991 bis 31. Dezember 1994 die gleichen kulturellen Aufgaben erfüllt hat wie der Bund, die Länder, die Gemeinden oder Gemeindeverbände.

c) Der Senat hält an seiner (zu § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG ergangenen) Rechtsprechung im Beschluß in BStBl II 1995, 913 fest, nach der für die Beurteilung der Leistungen als steuerfrei der in der Bescheinigung angegebene Zeitraum heranzuziehen ist (ebenso Bundesministerium der Finanzen vom 30. November 1995, BStBl I 1995, 827).

Dem entsprechen Zweck und Systematik der Vorschrift. Die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG steht nicht (weder durch Verzicht nach § 9 UStG oder auf andere Weise) zur Disposition des Steuerpflichtigen (vgl. auch FG München, Urteil vom 20. September 1993 14 K 3507/89, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 1994, 358, m.w.N.). Die Verbindung der übrigen Voraussetzungen der Steuerbefreiung mit der Bescheinigung einer allgemeinen Verwaltungsbehörde soll deren Fachwissen für die Finanzbehörde nutzbar machen. Dies dient im Streitfall dem Zweck, die Wettbewerbsgleichheit zwischen den in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 1 UStG bezeichneten Einrichtungen der öffentlichen Hand mit den in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG beschriebenen gleichartigen Einrichtungen anderer Unternehmer herzustellen (vgl. Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages vom 30. März 1967 zum Entwurf eines Umsatzsteuergesetzes, BTDrucks V/1581 zu § 4 Nr. 20 und Art. 13 Teil A Abs. 2 Buchst. a Gedankenstrich 4 und Buchst. b Gedankenstrich 2 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG). Diese Unternehmer sollen mit ihren Umsätzen nicht mit Steuer belastet werden, aber auch nicht berechtigt sein, die damit zusammenhängenden Vorsteuern abzuziehen. Eine "Gestaltung", mit Hilfe einer "nachträglich" erwirkten Bescheinigung, Umsätze zunächst (mit dem ermäßigten Steuersatz) der Besteuerung zu unterwerfen, solange höhere Vorsteuerbeträge vorhanden sind, ermöglicht die Vorschrift nicht. Das Umsatzsteuergesetz bietet auch keine Rechtsgrundlage dafür, Umsätze erst vom Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung (während eines Jahres) als steuerfrei zu behandeln (vgl. auch Völkel, UR 1989, 113).

d) Der Senat weicht von dem Urteil des XI. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 15. September 1994 XI R 101/92 (BFHE 176, 146, BStBl II 1995, 912) ab. Einer Anfrage wegen einer Vorlage an den Großen Senat (§ 11 Abs. 3 Satz 1 FGO) bedarf es nicht, weil die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Rechtsfrage auf den erkennenden Senat übergegangen ist (§ 11 Abs. 3 Satz 2 FGO). Der XI. Senat ist nach dem Geschäftsverteilungsplan des BFH für 1998 (BStBl II 1998, 43) nur noch für die Umsatzsteuersachen zuständig, die in den Kalenderjahren bis 1997 eingegangen sind. Er hat über eine Streitsache, die die vorstehend behandelte Rechtsfrage betrifft, --was eine Anfrage ergab-- nicht mehr zu entscheiden. Die Möglichkeit, daß die Rechtsfrage --wie bei verfahrensrechtlichen Streitfragen-- jederzeit wieder beim XI. Senat auftreten kann, besteht nicht (vgl. dazu BFH-Beschluß vom 1. Dezember 1986 GrS 1/85, BFHE 148, 414, BStBl II 1987, 264).

2. Die vorhandenen Feststellungen reichen nicht aus, um abschließend zu entscheiden. Das FG hat --von seinem Standpunkt aus folgerichtig-- keine Feststellungen über die vom Kläger zum allgemeinen Steuersatz angemeldeten Lieferungen und etwa damit zusammenhängende Vorsteuerbeträge getroffen. Dies muß das FG nachholen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 56328

BFH/NV 1999, 573

BStBl II 1999, 147

BFHE 187, 334

BFHE 1999, 334

BB 1999, 1148

BB 1999, 1148-1149 (Leitsatz und Gründe)

BB 1999, 1540

BB 1999, 1540 (Leitsatz)

BB 1999, 197

DB 1999, 619

DStRE 1999, 116

DStRE 1999, 116-117 (Leitsatz und Gründe)

DStZ 1999, 307

HFR 1999, 285

StE 1999, 72

UR 1999, 115

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge