Leitsatz (amtlich)

Der Große Senat weicht von den Grundsätzen des Urteils des II. Senats II 97/53 S vom 7. April 1954 (Slg. Bd. 58 S. 664, BStBl 1954 III S. 165) ab; er hält es mit dem geltenden Recht für unvereinbar, Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen im Verwaltungsstrafverfahren durch die Steuergerichte nachprüfen zu lassen. Die Entscheidung der Frage, ob und in welchem Umfang Art. 19 Abs. 4 GG dem Beschuldigten nach Erlaß eines Beschwerdebescheids nach § 452 AO ein gerichtliches Nachprüfungsrecht gewährt, muß den ordentlichen Gerichten überlassen bleiben.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4, Art. 93, 95-96, 101; GVG §§ 13, 121 Abs. 2; BFH-Gesetz § 1; BVwGG § 81; AO §§ 52, 418, 420-422, 426, 450, 452-453, 458, 468, 472

 

Tatbestand

Die Beschwerdeführerin (Bfin.) ist durch Strafbescheid des Hauptzollamts vom 19. Oktober 1954 nach § 396 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) unter Zubilligung mildernder Umstände mit einer Geldstrafe von 50 DM wegen Hinterziehung von Eingangsabgaben bestraft worden; außerdem ist nach § 401 Abs. 2 AO auf eine Wertersatzstrafe von 45 DM erkannt worden; zwei Flaschen unverzollten ausländischen Trinkbranntweins, die bei der Bfin. noch vorgefunden wurden, sind nach § 401 Abs. 1 AO eingezogen worden.

Gegen den Strafbescheid hat die Bfin. nach § 450 AO Beschwerde eingelegt. Die Oberfinanzdirektion hat die Beschwerde mit Beschwerdeentscheidung vom 16. November 1954 als unbegründet zurückgewiesen. Die Bfin. hat daraufhin gegen die Beschwerdeentscheidung entsprechend der darin erteilten Rechtsmittelbelehrung Berufung an das Finanzgericht eingelegt und, wie schon im Beschwerdeverfahren, die Anwendung des § 4 Abs. 1 des Straffreiheitsgesetzes vom 17. Juli 1954 (Bundesgesetzblatt -- BGBl -- 1954 I S. 203) auf die ihr zur Last gelegte Straftat begehrt. Das Finanzgericht hat seine Zuständigkeit unter Bezugnahme auf das Urteil des II. Senats des Bundesfinanzhofs II 97/53 S vom 7. April 1954 (Slg. Bd. 58 S. 664, Bundessteuerblatt -- BStBl -- 1954 III S. 165) bejaht. In der Sache selbst hatte die Berufung keinen Erfolg; das Finanzgericht verneinte in Übereinstimmung mit der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion die Anwendbarkeit des Straffreiheitsgesetzes mit der Begründung, daß der Begehungszeitpunkt der Straftat nach dem 31. Dezember 1952 liege.

Das Finanzgericht hat in dem Urteil die Rechtsbeschwerde (Rb.) an den Bundesfinanzhof ausdrücklich zugelassen.

Die Bfin. hat frist- und formgerecht Rb. eingelegt und beantragt nach wie vor die Anwendung des Straffreiheitsgesetzes auf ihr Vergehen.

Der Bundesminister der Finanzen ist dem Verfahren gemäß § 287 Ziff. 2 AO beigetreten. Er hat in erster Linie beantragt, die Rb. als unzulässig zu verwerfen, weil dem Rechtsschutzbedürfnis dadurch Rechnung getragen sei, daß der Beschuldigte auf gerichtliche Entscheidung antragen könne. Für den Fall jedoch, daß Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) einen Rechtsweg gegen Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen in Steuerstrafsachen eröffne, führt nach Auffassung des Bundesministers der Finanzen dieser Rechtsweg zu den Steuergerichten. Der Bundesminister der Finanzen hat ferner ein Rechtsgutachten über die Zulässigkeit des Verwaltungsstrafverfahrens, insbesondere seine Vereinbarkeit mit dem GG, überreicht.

 

Entscheidungsgründe

Der Bundesfinanzhof hat durch Urteil II 97/53 S vom 7. April 1954 (Slg.Bd. 58 S. 664, BStBl 1954 III S. 165) ausgesprochen, daß gegen Entscheidungen der Oberfinanzdirektionen über Beschwerden gegen Strafbescheide der Finanzämter (Hauptzollämter) das Berufungsverfahren zulässig ist, wenn der Betroffene geltend macht, durch die Entscheidung in seinen Rechten, insbesondere auch durch Ermessenmißbrauch, verletzt zu sein. Das Urteil kommt zu seiner, von der Regelung der AO in den §§ 450 ff. abweichenden Auffassung im wesentlichen durch eine dem Art. 19 Abs. 4 GG gegebene weite Auslegung. Angesichts der Schwierigkeiten, die der Übernahme der Grundsätze des Berufungsverfahrens auf das Strafverfahren entgegenstehen, Schwierigkeiten, die insbesondere Kaatz (Finanz-Rundschau 1954 S. 395 ff.) überzeugend dargelegt hat, besteht Veranlassung, in erster Linie die Zuständigkeit der Steuergerichte zur Nachprüfung von Beschwerdeentscheidungen in Strafsachen zu erörtern. Ergibt die Prüfung dieser Frage, daß ein weiteres Rechtsmittel jedenfalls nicht vor den Steuergerichten angebracht werden kann, so kann offenbleiben, ob die Generalklausel des Art. 19 Abs. 4 GG im Sinne des Urteils II 97/53 S weitgehend auszulegen ist, oder ob diese Bestimmung nur die Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts gewährleisten will und diesem Rechtsschutzgedanken durch das in § 450 AO vorgesehene Wahlrecht Genüge getan ist. Denn bei Verneinung der Zuständigkeit führte das von der Bfin. einqeschlagene Berufungsverfahren zu einem sachlich unzuständigen Gericht, dem die Erörterung der Verfassungsmäßigkeit des Verwaltungsstrafverfahrens verwehrt ist.

War es vom Standpunkt des Urteils II 97/53 S vom 7. April 1954 aus nur folgerichtig, die Grundlage für die Zulässigkeit der Nachprüfung der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion im Art. 19 Abs. 4 GG zu suchen, so ist damit noch nicht dargetan, daß danach auch die Zuständigkeit der Steuergerichte begründet ist. Denn Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG eröffnet den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten, "soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist". Eine solche andere Zuständigkeit ist aber weder durch die AO begründet, noch kann sie aus den Grundsätzen abgeleitet werden, die der Große Senat im Gutachten Gr. S. D 1/51 S vom 17. April 1951 (Slg. Bd. 55 S. 277, BStBl 1951 III S. 107) entwickelt hat. Nach der AO ist das Berufungsverfahren nur für Steuer streitsachen vorgesehen; das erwähnte Gutachten und ihm folgend die Rechtsprechung aller Senate haben in Anwendung des Art. 19 Abs. 4 GG für Streitigkeiten über Abgaben nach §§ 3, 4 der damaligen Fassung der AO die Zulässigkeit des Berufungsverfahrens auch in den Fällen als gegeben erachtet, in denen nach der AO, insbesondere bei reinen Ermessensakten der Finanzverwaltungsbehörden, die Anrufung der Steuergerichte nicht vorgesehen ist. Die Tragweite des Gutachtens beschränkt sich mithin auf Fragen des Steuerrechts; es kann deshalb zur Begründung der hier streitigen Zuständigkeitsfragen nicht herangezogen werden. Da zudem Art. 19 Abs. 4 GG nur besagt, daß ein, nicht welcher Rechtsweg offensteht, wird man daraus folgern müssen, daß die Festlegung der Art des Rechtsweges Sache des Gesetzgebers ist, wie auch der Bonner Kommentar zum GG (Bemerkung II 4 h am Ende S. 19 zu Art. 19) bemerkt, daß es hier um eine Zuständigkeit geht, die vom Gesetzgeber begründet wird, "keineswegs aber etwa um Zuständigkeiten, die sich aus der Sache heraus ergeben". (Vgl. auch Goetzeler, Steuer und Wirtschaft -- StuW -- 1957 Sp. 227/228.) Der Auffassung des genannten Kommentars ist jedenfalls insoweit zuzustimmen, als es sich auf dem Gebiete des Strafverfahrens um die Begründung einer neuen Zuständigkeit handelt.

Schließlich hatte der Große Senat in seinem Gutachten Gr. S. D 1/51 S Fälle rein verwaltungsmäßigen Ermessens im Auge, nicht aber Fragen der Strafzumessung, die der Feststellung des staatlichen Strafanspruchs dienen, also eine echte Rechtsentscheidung zum Inhalt haben.

Das Urteil vom 7. April 1954 sieht die Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen nach § 452 AO als Verwaltungsakte an. Dem ist zuzustimmen, doch läßt sich andererseits nicht leugnen, daß sie nach ihrem sachlichen Inhalt dem Gebiet des Strafrechts angehören. Ihrem Inhalt nach bestätigen sie den Strafanspruch des Staates, indem sie dem Beschuldigten kriminelles Unrecht zur Last legen. Finanzgericht und Bundesfinanzhof würden also durch die ihnen im Urteil II 97/53 S auferlegte Aufgabe der Nachprüfung eines solchen Verwaltungsakts nicht mehr als Abgabengerichte, sondern als Strafgerichte tätig werden. Dem Urteil ist zu entnehmen, daß die Beschwerdeentscheidung hinsichtlich der Fragen der Rechtmäßigkeit ihrem ganzen Umfang nach nachzuprüfen ist; die Nachprüfung soll nicht etwa auf verfahrensrechtliche Verstöße (unzulässige Verböserung, ungenügende Sachaufklärung, mangelndes rechtliches Gehör) beschränkt sein. Das bedeutet, daß ein Steuergericht die richterlichen Aufgaben eines Strafgerichts übernehmen müßte, jedenfalls berufen sein soll, durch gerichtliches Urteil einen Schuldspruch auf dem Gebiete kriminellen Unrechts aufzuheben oder zu bestätigen, ohne durch ein Gesetz hierzu eingesetzt zu sein. Offen läßt das Urteil dabei die Frage, wie sich die Aufgaben der Nachprüfung auf die beiden Instanzen des steuerlichen Berufungsverfahrens verteilen sollen; es ist auch nicht ersichtlich, ob das Steuergericht die im Verwaltungsstrafverfahren verhängte Strafe ermäßigen darf. Selbst wenn man die letztgenannte Möglichkeit verneint, so würde schon die Bestätigung einer Verurteilung, die eine Nachprüfung des Schuld- und Strafausspruchs nach der objektiven und subjektiven Seite voraussetzt, einer Aburteilung gleichkommen.

Läßt sich die Zuständigkeit der Steuergerichte mithin nicht der AO oder einem anderen Steuergesetz entnehmen, so genügt es demgegenüber nicht, einen Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Art. 101 GG, wonach niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, zu verneinen. Nicht diese Frage ist entscheidend, sondern vorab müßte eine gesetzliche Regelung nachgewiesen werden können, nach der strafrichterliche Tätigkeit einem Steuergericht überhaupt zukommt. Entscheidend ist auch nicht, daß die AO selbst zur Ahndung kriminellen Unrechts das Verwaltungs strafverfahren vorsieht. Das Verwaltungsstrafverfahren stellt, und zwar nur für den Kreis der leichten Delikte, einen Versuch dar, den Straffall außergerichtlich zu bereinigen, wobei -- abgesehen von den Fällen der gesetzlichen ausschließlichen Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte (vgl. §§ 421 Abs. 1 Satz 2, 421 Abs. 2, 422, 426 Abs. 2, 472 Abs. 2 AO) -- sowohl die Verwaltungsbehörde in ihrer Rolle als Ankläger (§ 425 AO) als auch der Beschuldigte die Möglichkeit haben, das ordentliche Gericht anzurufen. Soweit also nach positiver gesetzlicher Regelung überhaupt Gerichte zu entscheiden haben, sind dies immer nur die ordentlichen Gerichte. Man wird mit Loewe-Rosenberg (Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, 19. Aufl., Anm. 6 zu § 13 des Gerichtsverfassungsgesetzes und 20. Aufl., Anm. 3 II zu § 13 des Gerichtsverfassungsgesetzes) deshalb auch anerkennen müssen, daß die Steuerdelikte der Strafgewalt der ordentlichen Gerichte nur bedingt entzogen sind, das Finanzamt (die Oberfinanzdirektion) also immer nur an Stelle des Strafgerichts in einem außergerichtlichen Vorverfahren und auch da nur entscheiden kann, wenn sich der Beschuldigte damit zufrieden gibt. Aus der Zulässigkeit des Verwaltungsstratverfahrens schlechthin auf die Zuständigkeit von Verwaltungs gerichten, hier Steuergerichten, zu schließen, ist demnach nicht angängig (so im Ergebnis auch Baring, Deutsches Verwaltungsblatt, 1955 S. 725/726, und Nieberl, Finanz-Rundschau 1955 S. 174 f.).

So räumt denn das Urteil vom 7. April 1954 (vgl. BStBl 1954 III S. 167 linke Spalte unten) entsprechend der vom Großen Senat vertretenen Auffassung ein, daß die AO die Zuständigkeit der Steuergerichte nicht ausdrücklich begründet habe und daß es hierzu einer erweiternden Auslegung des § 52 AO bedürfe. Diese Auslegung soll in dem Grundgedanken des Art. 96 GG ihre Rechtfertigung finden. Den Grundgedanken des Art. 96 sieht das Urteil darin, daß die Notwendigkeit genauer Sachkunde der Grund für die Errichtung der oberen Bundesgerichte gewesen sein soll. Nun ist dies sicherlich nicht der einzige tragende Gedanke des Art. 96 GG, sondern die Errichtung der oberen Bundesgerichte mit ihren abgegrenzten Zuständigkeiten hatte gerade die Wahrung der Rechtseinheit im Bundesgebiet zum Ziele (vgl. von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Anm. 3 zu Art. 96), wie dies auch im Art. 95 GG zum Ausdruck kommt. Im gleichen Zusammenhang beruft sich das Urteil auch auf das schon erwähnte Gutachten des Bundesfinanzhofs Gr. S. D 1/51 S vom 17. April 1951. Hier ging es jedoch lediglich darum, Versuchen einzelner allgemeiner Verwaltungsgerichte, in Steuersachen dort tätig zu werden, wo die AO den Rechtsschutz versagt, entgegenzutreten. Mit Recht hat dies das Gutachten auch unter Hinweis auf die Unzweckmäßigkeit dieses Vorgehens abgelehnt und damit gerade die Gefahr einer Zweigleisigkeit der Rechtsprechung gebannt, die das Urteil vom 7. April 1954 heraufbeschwört. Im Streitfalle handelt es sich aber darum, daß den ordentlichen Strafgerichten auf ihrem ureigenen Gebiete des Strafrechts eine Zuständigkeit vorenthalten werden soll.

Läuft die Begründung des Urteils mangels einer klaren gesetzlichen Vorschrift, die es für seine Auffassung in Anspruch nehmen könnte, nach Ansicht des erkennenden Großen Senats letztlich zum Teil auf Zweckmäßigkeitserwägungen hinaus, so bedarf es auch einer Erörterung der Frage, wie es denn mit dieser Zweckmäßigkeit bestellt ist. Im Schriftum ist zutreffend darauf hingewiesen worden, daß gerade Zweckmäßigkeitserwägungen in starkem Maße gegen die Lösung des Urteils sprechen, daß diese Lösung wegen der rechtlichen Gestaltung, die das Berufungsverfahren der AO als ein rein steuergerichtliches Verfahren erfahren hat, in seiner praktischen Durchführung sogar auf kaum lösbare Schwierigkeiten stoßen würde, weil das Berufungsverfahren in keiner Weise für ein Strafverfahren geeignet ist. Es sei nur hervorgehoben, daß das Berufungsverfahren weder die dem deutschen Strafprozeß eigentümlichen Grundsätze der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit zum Regelfall erhoben hat, noch die unumgänglich notwendige Einrichtung einer Anklagebehörde kennt (vgl. § 261 der Strafprozeßordnung gegenüber § 278 AO). Die sich aus den Besonderheiten des Strafverfahrens ergebenden Zweifelsfragen, die zwangsläufig mangels einer gesetzlich umrissenen und geeigneten Verfahrensordnung auftreten würden, wären unabsehbar und, wenn überhaupt, wohl nur im Wege einer auch auf straf verfahrens rechtlichem Gebiet bedenklichen Analogie zu lösen (vgl. auch die Stellungnahme, die der Bundesminister der Finanzen im Streitfall II 147/54 S vom 6. Juli 1955, Slg. Bd. 61 S. 132, BStBl 1955 III S. 249, 250 unter Abs. 3 des dort abgedruckten Schreibens abgegeben hat). Um nur einige dieser Zweifelsfragen zu erwähnen, sei darauf hingewiesen, daß es durchaus fraglich sein kann, welche Rechtsmittelfristen (der AO oder der Strafprozeßordnung) in diesem Verfahren gelten sollen, wie es mit der Vollstreckungsmöglichkeit eines Beschwerdebescheids steht, der keine oder eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung enthält, ob gegebenenfalls für den Beistand des Beschuldigten die Vorschriften der §§ 137 ff. der Strafprozeßordnung über die Verteidigung gelten und vor allem, wie oben schon angedeutet, ob die Steuergerichte nur aufheben und zurückverweisen oder auch bestätigen und mildern dürfen und wie sich diese Befugnisse auf die beiden Instanzen des steuergerichtlichen Rechtsmittelverfahrens verteilen sollen.

Ungeachtet der Tatsache, daß das Steuerstrafrecht wegen der blankettrechtlichen Natur der Steuerstrafvorschriften durch Vorschriften des materiellen Steuerrechts ausgefüllt werden muß, bleibt es doch Straf recht und wird hierdurch nicht Steuerrecht. Die ordentlichen Strafgerichte haben bisher -- und sie werden dies auch in Zukunft tun -- die Erkenntnisse der steuerlichen Rechtsprechung berücksichtigt, wie der Strafrichter auch sonst, da das Strafrecht alle Lebensbereiche umfaßt, die Erkenntnisse des Zivilrechts, des Arbeitsrechts, des Sozialrechts usw. zu berücksichtigen hat und zudem § 468 AO gerade ein Auseinanderfallen der strafrechtlichen Rechtsprechung und der Rechtsprechung der Steuergerichte verhindern soll. Eine dem § 468 AO entsprechende Vorschrift fehlt aber für den umgekehrten Fall, so daß nun Steuergerichte in Fragen des allgemeinen Strafrechts, der Anwendbarkeit von Straffreiheitsgesetzen, ja für den Fall tateinheitlichen Zusammentreffens mit anderen als Steuerdelikten (vgl. §§ 418, 422 AO) sogar in Fragen des besonderen Teils der Strafgesetzbücher gegenüber der Rechtsprechung des für Strafsachen zuständigen Bundesgerichtshofs zu abweichenden Entscheidungen kommen könnten und aller Voraussicht nach kommen würden (vgl. die Ausführungen von Fritz Hartung, Neue Juristische Wochenschrift 1955 S. 1129 ff., 1130). Es wäre sonst auch schwer verständlich, daß die AO von vornherein auf die Sachkunde der Steuergerichte verzichtet und sie mit Strafsachen nicht befaßt hat. Der Gesetzgeber hat dies bewußt unterlassen (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs III A 98/21 vom 8. Juni 1921, Slg. Bd. 6 S. 116). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß der Gesetzgeber auch bei Bußgeldbescheiden nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 25. März 1952 die Nachprüfung dieser Bescheide, obwohl es sich hier nicht um kriminelles Unrecht handelt, nicht den Verwaltungsgerichten, wie es vielleicht nahegelegen hätte, sondern den ordentlichen Strafgerichten übertragen hat (vgl. Rotberg, Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, Berlin 1952, Einführung S. 27 und Anm. zu § 75). Vor allem aber hat auch der Bundes gesetzgeber im Gesetz über den Bundesfinanzhof nach eingehenden Erwägungen keine strafrechtliche Zuständigkeit der Steuergerichte begründet. Dieses Gesetz, das in Vollzug des Art. 96 GG ergangen ist, regelt die Zuständigkeit des Bundesfinanzhofs, wie die Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes (§ 13) die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte regeln.

Sprechen demnach nicht einmal Zweckmäßigkeitsgründe für die Zuständigkeit der Steuergerichte und weisen auch die nach dem Inkrafttreten des GG erlassenen oder geänderten Gesetze, wie das Gerichtsverfassungsgesetz, immer nur die Straf gerichte als für Strafsachen zuständig aus, für deren Zuständigkeit schon die Vermutung spricht (vgl. Schwarz, Strafprozeßordnung, 20. Aufl., Anm. 1 zu § 12 des Gerichtsverfassungsgesetzes S. 612), so fehlt der im Urteil II 97/53 S ausgesprochenen erweiternden Auslegung des § 52 AO die rechtliche Grundlage. § 52 AO hat zudem nach seinem Inhalt und nach seiner Stellung im System der AO nichts mit dem Strafverfahren zu tun, so daß auch aus diesem Grunde der Weg der Analogie bedenklich und die Grenzen, die der Rechtsprechung in der Auslegung von Gesetzen gezogen sind, als überschritten erscheinen; denn die Entwicklung von Rechtsnormen für eine vollständige, bisher fehlende Verfahrensordnung bedeutet eine selbstschöpferische Aufgabe, die der Rechtsprechung verwehrt ist (vgl. Bachof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, Berlin 1954, S. 53/54). Die Begründung der Zuständigkeit auf dem Wege der Rechtsprechung würde zudem dem Art. 101 Abs. 2 GG widersprechen. Es wäre auch nicht verständlich, daß es dem Beschuldigten freistehen sollte, der Entscheidung durch den ordentlichen Strafrichter auszuweichen und die Überleitung in ein verwaltungsgerichtliches Verfahren zu erzwingen, das nirgendwo, auch nicht in den nach Erlaß des GG ergangenen Gesetzen, vorgesehen ist.

Für die hier zu treffende Entscheidung ist ausschlaggebend, daß über die Tragweite des Art 19 Abs. 4 GG nicht die Steuergerichte zu befinden haben, auch wenn diese Frage im Sinn des Urteils II 97/53 S beantwortet werden würde, weil nach dem geltenden Recht nur die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte festgestellt werden kann. Art. 19 Abs. 4 GG schafft weder eine zusätzliche gerichtliche Instanz (Bonner Kommentar Anm. II 4 e \'e0 S. 13 zu Art. 19) noch etwa neue Zuständigkeiten (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs III ZR 255/51 vom 15. Dezember 1952 in Neue Juristische Wochenschrift 1953 S. 506).

Der naheliegende Einwand, daß nach § 450 AO die Anrufung der ordentlichen Gerichte gerade ausgeschlossen werden soll, kann demgegenüber nicht durchgreifen. Denn sieht das Urteil vom 7. April 1954 zutreffend den Art. 19 Abs. 4 GG als eine der AO vorrangige aktuelle Rechtsnorm an und bejaht man mit dem Urteil die Notwendigkeit der Nachprüfung der im Verwaltungsstrafverfahren ergangenen Beschwerdeentscheidungen, so wäre das entgegenstehende Verbot des § 450 AO genauso gegenstandslos wie andere Normen der AO, die auch der Große Senat im Gutachten Gr. S. D 1/51 S mit Recht als außer Kraft gesetzt behandeln mußte. Auch das Urteil vom 7. April 1954 setzt sich über die positiv geregelte Rechtskraftwirkung der Beschwerdeentscheidung im § 458 AO hinweg. Es ist nicht einzusehen, warum gerade § 450 AO gegenüber dem GG aufrechterhalten werden soll, um damit dem Beschuldigten die Wahl zwischen zwei gerichtlichen Verfahren zu eröffnen, womit ein einmaliger verfahrensrechtlicher Vorgang präjudiziert würde. Eine so weitgehende Einflußnahme auf die Gestaltung des Verfahrens kann dem Art. 19 Abs. 4 GG jedoch nicht entnommen werden. Der Einwand verkennt ferner, daß der Lösung des Urteils II 97/53 S vom 7. April 1954 § 13 des Gerichtsverfassungsgesetzes entgegensteht und das Ergebnis sich mit der gerade auf die Vermeidung von Zweigleisigkeiten abstellenden Regelung in den Art. 93, 95, 96 GG, § 468 AO und § 121 Abs. 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes schwerlich vereinbaren läßt.

Nach alledem weicht der Große Senat insoweit von den Grundsätzen des Urteils vom 7. April 1954 ab, als er es mit dem geltenden Recht für unvereinbar hält (so auch Schwarz, Strafprozeßordnung, 18. Aufl., Anm. 2 zu § 452 AO S. 782), Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen im Verwaltungsstrafverfahren durch die Steuergerichte nachprüfen zu lassen. Die Frage, ob und in welchem Umfang Art. 19 Abs. 4 GG dem Beschuldigten ein gerichtliches Nachprüfungsrecht gewährt, muß nach § 13 des Gerichtsverfassungsgesetzes den ordentlichen Gerichten überlassen bleiben. Es sei darauf hingewiesen, daß auf Grund der vorstehenden Ausführungen nach Auffassung des Großen Senats auch die Möglichkeit einer Nachprüfung von Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektionen nach § 453 AO durch die Steuergerichte entfällt.

Es bleibt die nicht zweifelsfreie Frage zu prüfen, ob der erkennende Senat gemäß § 81 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht den Rechtsstreit an das in Betracht kommende ordentliche Gericht zu verweisen hat. Der Große Senat ist der Auffassung, daß diese Frage zu bejahen ist.

Daß eine Verpflichtung zur Verweisung besteht, wenn ein oberes Bundesgericht in einem anhängigen Rechtsstreit den beschrittenen Rechtsweg nicht für zulässig hält, kann angesichts der klaren Fassung des § 81 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht nicht zweifelhaft sein (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs V ZR 48/53 vom 18. Februar 1955, Neue Juristische Wochenschrift 1955 S. 502). Eine solche Verweisung setzt aber grundsätzlich die Prüfung voraus, ob überhaupt ein -- und gegebenenfalls welcher -- Rechtsweg gegenüber den Beschwerdeentscheidungen in Steuerstrafsachen gegeben ist (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs V ZR 27/56 vom 17. Oktober 1956, Neue Juristische Wochenschrift 1956 S. 1873 ff. Nr. 3 unter III Abs. 2 der Begründung). Eine bloße Feststellung der Unzulässigkeit des steuergerichtlichen Rechtsweges könnte unter den Umständen des Streitfalles einer Verweigerung des Rechtsschutzes überhaupt nahekommen. Die Besonderheit des Streitfalles liegt darin, daß wohl die Unzulässigkeit des von der Bfin. beschrittenen Rechtsweges nach Auffassung des Senats feststeht, daß aber zweifelhaft ist, ob die Bfin. überhaupt ein Rechtsmittel gegen die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion hat. In den bisher bekanntgewordenen Fällen, in denen ein oberes Bundesgericht eine Verweisung nach § 81 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht ausgesprochen hat, bestand über die Zulässigkeit eines Rechtsweges kein Zweifel. Die im Regelfall erforderliche Prüfung, ob ein Rechtsweg gegeben ist, hält jedoch der Senat hier nicht für geboten, weil er andernfalls in eine Prüfung strafverfahrensrechtlicher und verfassungsrechtlicher Fragen auf einem Gebiet eintreten müßte, das seiner sachlichen Zuständigkeit gerade entzogen ist. Die mit § 81 a. a. O. erstrebte Bindung des Gerichts, an das verwiesen wird, erblickt der Senat deshalb nur darin, daß dieses Gericht über den Streitfall entscheiden muß, die Bfin. also nicht wegen Versäumung von Fristen oder wegen sachlicher Unzuständigkeit a limine abweisen könnte. Dagegen ist das ordentliche Gericht in seiner Entscheidung insoweit frei, als es das Rechtsmittel der Bfin. gleichwohl als unzulässig verwerfen könnte, wenn es einen Rechtsweg -- z. B. wegen des der Beschuldigten im § 450 AO eingeräumten Wahlrechts -- nicht als gegeben ansieht.

Mit dieser beschränkten Bindung, die sich aus der verfassungsrechtlichen Natur des Streitfalles ergibt, wird der Senat jedenfalls dem mit § 81 Satz 2 des Gesetzes über das Bundesverwaltungsgericht verfolgten Ziel, dem Rechtsuchenden die Wirkungen der Rechtshängigkeit zu erhalten, gerecht. Demgemäß war die Sache an das Amtsgericht X zu erweisen, dessen Zuständigkeit sich aus § 476a AO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Dritten Teils der Reichsabgabenordnung vom 11. Mai 1956 (BGBl 1956 I S. 418) ergibt.

Dem Senat erschien es angezeigt, die Kosten des steuerlichen Berufungs- und Rechtsbeschwerdeverfahrens nach § 319 Abs. 1 AO zu erlassen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 425863

BStBl III 1958, 198

BFHE 66, 517

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