Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitgeberanteile zur gesetzlichen Sozialversicherung gehören nicht zum Arbeitslohn; Tatbestandswirkung von Entscheidungen des Sozialversicherungsträgers

 

Leitsatz (amtlich)

1. Arbeitgeberanteile zur gesetzlichen Sozialversicherung eines Arbeitnehmers gehören nicht zum Arbeitslohn. § 3 Nr. 62 Satz 1 EStG hat insofern nur deklaratorische Bedeutung.

2. Entscheidungen des zuständigen Sozialversicherungsträgers über die Sozialversicherungspflicht von Beschäftigungsverhältnissen können infolge ihrer Tatbestandswirkung im Besteuerungsverfahren zu beachten sein.

 

Normenkette

EStG § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 3 Nr. 62

 

Verfahrensgang

FG München (Entscheidung vom 10.12.1996; Aktenzeichen 13 K 1924/94; EFG 1998, 196)

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war Geschäftsführer und Gesellschafter der A-GmbH (GmbH). Bis einschließlich 30. Juni 1989 waren er und sein Bruder B in Höhe von jeweils 45 v.H. sowie ihre Mutter C in Höhe von 10 v.H. am Stammkapital der GmbH beteiligt. Ab dem 1. Juli 1989 war sein Bruder Alleingesellschafter der GmbH.

Bei einer 1989 durchgeführten Lohnsteuer-Außenprüfung wurde festgestellt, dass die GmbH vom 1. Juli 1986 bis zum 31. Mai 1989 für den Kläger Zuschüsse zur Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung an die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) geleistet und hierfür keine Lohnsteuer einbehalten hatte. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) war der Ansicht, dass die Arbeitgeber-Zuschüsse zur Sozialversicherung Arbeitslohn darstellten und nicht gemäß § 3 Nr. 62 des Einkommensteuergesetzes (EStG) steuerfrei seien. Die Steuerfreiheit setze voraus, dass der Arbeitgeber zu einer solchen Leistung gesetzlich verpflichtet sei. Eine Verpflichtung bestehe für Angestellte i.S. der §§ 2 und 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Sei der Angestellte aber zu 50 v.H. und mehr an einer GmbH beteiligt oder besitze er eine Sperrminorität, so liege kein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis vor. Da im vorliegenden Fall Gesellschafterbeschlüsse nach der GmbH-Satzung grundsätzlich einstimmig zu fassen seien, habe der Kläger eine Sperrminorität besessen und damit jeden Beschluss der Gesellschaft verhindern können. Folglich sei der Kläger ―entgegen der Entscheidung der AOK― nicht sozialversicherungspflichtig gewesen. Damit liege steuerpflichtiger Arbeitslohn vor.

Aufgrund der Feststellungen der Lohnsteuer-Außenprüfung erhöhte das FA die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit um die von der Arbeitgeberin gewährten Zuschüsse für 1987 in Höhe von 7 939 DM, für 1988 in Höhe von 9 653 DM und für 1989 in Höhe von 4 868 DM und änderte dementsprechend nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) die bisherigen Einkommensteuerfestsetzungen der Streitjahre. Der hiergegen erhobene Einspruch blieb ohne Erfolg.

Mit der Klage machten die Kläger im Wesentlichen geltend, die AOK habe die Gesellschafter-Geschäftsführer aufgrund mehrmaliger Überprüfung ―zuletzt im August 1988― als sozialversicherungspflichtig angesehen. Hieran sei das FA gebunden. Die AOK habe die tatsächlichen Verhältnisse ihrer Entscheidung zugrunde gelegt. Entgegen der GmbH-Satzung seien die Beschlüsse der GmbH nach der Höhe der Stammeinlagen mehrheitlich gefasst worden.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1998, 196 veröffentlichten Gründen statt. Es könne offen bleiben, ob der Kläger sozialversicherungspflichtig gewesen sei. Jedenfalls begründeten rechtsirrtümlich geleistete Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung keinen geldwerten Vorteil, der dem Arbeitnehmer als Einnahme aus dem Dienstverhältnis zufließe.

Mit der Revision begehrt das FA die Aufhebung der Vorentscheidung und die Abweisung der Klage. Das FG habe den Begriff der Einnahmen i.S. von § 8 Abs. 1 EStG zu eng ausgelegt. Bei der Beurteilung der Frage, ob bei der Leistung von Sozialversicherungsbeiträgen durch den Arbeitgeber für einen nicht sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer bei diesem ein Zufluss von Einnahmen vorliege, habe es gegen den vom Veranlassungsprinzip geprägten Einnahmebegriff des Bundesfinanzhofs (BFH) verstoßen. Unter Berücksichtigung dieses Einnahmebegriffs liege steuerpflichtiger Arbeitslohn vor, der auch zugeflossen sei.

Daher hätte sich das FG auch mit der Frage auseinander setzen müssen, ob wegen des maßgeblichen Einflusses des Klägers auf die Geschäfte der GmbH eine Sozialversicherungspflicht bestanden habe. Eine solche Verpflichtung habe nach den damals einschlägigen sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften nicht bestanden. Da die GmbH nicht verpflichtet gewesen sei, für ihn Leistungen zur Sozialversicherung zu erbringen, seien die Zahlungen der GmbH auch nicht nach § 3 Nr. 62 EStG steuerfrei.

Zudem sei das FA an die Beurteilung der AOK nicht gebunden. Deren Entscheidung über die Sozialversicherungspflicht sei insbesondere kein Grundlagenbescheid mit Bindungswirkung für den Einkommensteuerbescheid. Die Frage, ob Sozialversicherungspflicht bestehe, sei zwar grundsätzlich von der AOK nach sozialversicherungsrechtlichen Grundsätzen zu beurteilen. Soweit aber begründete Zweifel an deren Entscheidung bestünden, habe die Finanzverwaltung ein eigenes Prüfungsrecht.

Der Kläger und seine Ehefrau, die Klägerin, treten der Revision entgegen. Sie sind weiter der Ansicht, mangels eigener Sachkompetenz des FA bestehe regelmäßig eine faktische Bindung an die Entscheidung der AOK. Nur in Ausnahmefällen, d.h. bei offenkundig falschen Entscheidungen, sei eine abweichende Beurteilung durch das FA möglich. Hiervon könne im Streitfall nicht ausgegangen werden. Die Frage einer möglichen Erstattung sei seitens der AOK definitiv zurückgewiesen worden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet; sie ist deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).

Das FA war nicht gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 berechtigt, die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 1987 bis 1989 zu ändern. Nach dieser Vorschrift sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Die bei der Lohnsteuer-Außenprüfung festgestellte Tatsache, dass im Gesellschaftsvertrag eine einstimmige Beschlussfassung und damit zu Gunsten jedes Gesellschafters eine Sperrminorität vorgesehen war, ist nicht rechtserheblich.

Wie vom FG zu Recht erkannt, stellt die Entrichtung des gesetzlich geschuldeten Arbeitgeberanteils zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung eines Arbeitnehmers keinen gegenwärtig zufließenden Arbeitslohn dar. Eine steuerbare Einnahme i.S. des § 8 Abs. 1 EStG liegt hierdurch nicht vor. Dies gilt im Streitfall wegen der Tatbestandswirkung der Entscheidung der AOK auch dann, wenn die GmbH nach den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften zur Leistung eines solchen Arbeitgeberanteils nicht verpflichtet war.

1. Für den Fall, dass die GmbH gesetzlich verpflichtet war, den Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Sozialversicherung des Klägers zu zahlen, liegt kein Arbeitslohn vor, weil die Entrichtung des Arbeitgeberanteils nicht als Gegenleistung für die Arbeitsleistung zu beurteilen ist (vgl. zum Arbeitslohnbegriff z.B. BFH-Urteil vom 22. März 1985 VI R 170/82, BFHE 143, 544, BStBl II 1985, 529). § 3 Nr. 62 Satz 1 EStG, der die Steuerfreiheit gesetzlich geschuldeter Zukunftssicherungsleistungen vorsieht, hat insoweit lediglich deklaratorische Bedeutung.

a) Der Arbeitgeber hat seinen Anteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag aufgrund einer eigenen, ihm aus sozialen Gründen unmittelbar auferlegten öffentlichen Verpflichtung zu erbringen. Darüber hinaus handelt es sich bei dem Arbeitgeberanteil um eine aus der Höhe der beitragspflichtigen Lohnsumme des Betriebs berechnete zusätzliche, unmittelbar drittnützige Abgabenlast auf den privatrechtlich dem Unternehmer zugeordneten Unternehmensertrag. Dieser Anteil lastet auf den ―mit Hilfe u.a. der Gesamtheit der Arbeitnehmer erwirtschafteten― Roherträgen des Betriebs oder Unternehmens des Arbeitgebers. Er ist im Rahmen des sog. Generationenvertrages wegen des seit 1969 geltenden Umlageverfahrens nicht "fremdnützig" für den Arbeitnehmer, sondern ausschließlich für Dritte bestimmt, weil er unmittelbar den aktuellen Rehabilitanten und Rentnern zugewandt wird. Der einzelne pflichtversicherte Arbeitnehmer hat durch die Zahlung des Arbeitgeberanteils weder einen individuellen mitgliedschafts- oder beitragsrechtlichen Vorteil noch einen leistungsrechtlichen oder sonstigen Vermögenszuwachs. Weder seine spätere Rente noch sein Teilhaberrecht (prozentuale Rangstelle) noch ein sonstiges Recht werden (auch nur der rechtlichen Möglichkeit nach) erhöht. Der Arbeitgeberanteil ist vielmehr "systemnützig" und bringt den einzelnen Arbeitgebern und ihren Belegschaften Vor- und Nachteile; er wird von der Gesamtheit der pflichtversicherten Arbeitnehmer mitverdient und entsprechend berechnet (ausführlich Bundessozialgericht ―BSG―, Urteil vom 29. Juni 2000 B 4 RA 57/98 R, BSGE 86, 262, 285 ff., 294 ff., 298, 310, zur Rentenversicherung).

b) Dass die Entrichtung des Arbeitgeberanteils nicht als gegenwärtig zufließender Arbeitslohn zu werten ist, entspricht der herrschenden Meinung (z.B. Pflüger in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, 21. Aufl., § 19 EStG Anm. 600, unter Sozialversicherung; von Beckerath in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 3 Rdnr. A 256, B 62/17, unter GmbH-Geschäftsführer: Arbeitgeberanteile zur gesetzlichen Rentenversicherung; Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 21. Aufl., § 19 Rz. 50, unter Arbeitgeberanteil zur Gesamtsozialversicherung; Hartz/Meeßen/Wolf, ABC-Führer, Lohnsteuer, Zukunftssicherung von Arbeitnehmern Rz. 12; Blümich/Thürmer, Einkommensteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, 15. Aufl., § 19 EStG Rz. 280, unter Sozialversicherungsbeiträge; Barein in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, 15. Aufl., § 19 EStG Rz. 192; vgl. BFH-Urteil vom 2. August 1968 VI R 124/67, BFHE 93, 304, BStBl II 1968, 800, zum Vorliegen von Sondervergütungen i.S. des § 15 Nr. 2 EStG; a.A. Küttner/Thomas, Personalbuch 2002, 9. Aufl., Sozialversicherungsbeiträge, Rz. 15, 17, Krankenversicherungsbeiträge, Rz. 3 ff.; Thomas, Kommentierte Finanzrechtsprechung, F.6 EStG § 19, 1/94, S. 143;Giloy in Kirchhof/Söhn, a.a.O., § 19 Rdnrn. B 765, B 1000, unter Arbeitgeber-Beiträge; Birk, Altersvorsorge und Alterseinkünfte im Einkommensteuerrecht, 1987, S. 41 f.; vgl. auch Großer Senat des BFH vom 19. Oktober 1970 GrS 1/70, BFHE 101, 62, BStBl II 1971, 177, zum Vorliegen von Sondervergütungen nach § 15 Nr. 2 EStG wegen des Erfordernisses der steuerlichen Gleichstellung von Mit- und Einzelunternehmer; offen gelassen vom Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 6. März 2002 2 BvL 17/99, unter A. I. 5. c aa, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2002, 331, Der Betrieb 2002, 557).

2. Sollte die GmbH gesetzlich nicht verpflichtet gewesen sein, einen Arbeitgeberanteil zur gesetzlichen Sozialversicherung des Klägers zu zahlen, ergibt sich kein anderes Ergebnis, da wegen der Besonderheiten des Streitfalls § 3 Nr. 62 EStG entsprechende Anwendung findet.

a) Die AOK hatte aufgrund mehrfacher Überprüfung die beiden Gesellschafter-Geschäftsführer als sozialversicherungspflichtig angesehen und damit die GmbH zur Leistung der Beiträge veranlasst. Eine unmittelbare Rechtswirkung für das Besteuerungsverfahren ist für die entsprechenden Entscheidungen der AOK zwar gesetzlich nicht ausdrücklich vorgesehen. Indessen müssen Rechtsakte anderer Verwaltungen von den Finanzbehörden grundsätzlich respektiert werden, sofern sie nicht offensichtlich rechtswidrig sind (sog. Tatbestandswirkung). Das gilt insbesondere dann, wenn ―wie vorliegend― die Adressaten diese Rechtsakte über Jahre hinweg befolgt und entsprechende Leistungen erbracht haben. Nur schwere und offensichtliche Verstöße können dazu führen, eine solche Entscheidung für das Besteuerungsverfahren beiseite zu schieben (BFH-Urteile vom 29. Oktober 1965 VI 142/64 U, BFHE 84, 53, BStBl III 1966, 19; vom 7. März 2002 III R 44/97, BFH/NV 2002, 1109; vgl. auch Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 88 AO 1977 Tz. 33 ff.; Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl., § 43 Rn. 16 ff.).

b) Im Streitfall lässt die Entscheidung der AOK einen offensichtlichen und schweren Mangel nicht erkennen. Sie mag zwar wegen der von den Gesellschaftern vereinbarten Sperrminorität rechtlich angreifbar sein. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist aber eine stillschweigende Änderung des Gesellschaftsvertrages durch eine langjährige Gesellschafterpraxis grundsätzlich möglich (vgl. Urteil vom 29. März 1996 II ZR 263/94, Neue Juristische Wochenschrift 1996, 1678, 1680; vgl. auch Palandt/Sprau, Bürgerliches Gesetzbuch, 61. Aufl., § 705 Rz. 15), so dass im Streitfall die Gesellschafter ―durch eine langjährige Beschlussfassung nach Stimmenmehrheit― den Gesellschaftsvertrag insoweit stillschweigend geändert haben könnten.

c) Ob darüber hinaus eine Bindungswirkung an die Entscheidung der AOK besteht und damit ein Grundlagenbescheid i.S. des § 171 Abs. 10 AO 1977 gegeben ist, braucht nicht entschieden zu werden (vgl. hierzu FG Düsseldorf, Urteil vom 17. Dezember 1993 14 K 5416/91 H (L), EFG 1994, 566; Urteile des FG Baden-Württemberg vom 29. März 1990 III K 356/86, rkr., EFG 1990, 620, und vom 8. September 1994 3 K 285/88, rkr., EFG 1995, 194; Oberfinanzdirektion Düsseldorf, Verfügung vom 3. Januar 2000, Finanz-Rundschau 2000, 637; zweifelnd: BFH-Urteil vom 28. Mai 1998 X R 7/96, BFHE 186, 521, BStBl II 1999, 95).

 

Fundstellen

Haufe-Index 856626

BFH/NV 2003, 97

BStBl II 2003, 34

BFHE 199, 524

BFHE 2002, 524

BB 2003, 242

DB 2002, 2515

DStR 2002, 2072

DStRE 2002, 1496

HFR 2003, 150

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