Entscheidungsstichwort (Thema)

Bindungswirkung der Feststellung der Art der Steuerermäßigung im Grundlagenbescheid - Anwendung des § 175 Abs.1 Nr.1 AO 1977 nach fehlerhafter Auswertung eines Grundlagenbescheids

 

Leitsatz (amtlich)

Die Feststellung der Art der Steuerermäßigung im Grundlagenbescheid ist für die Folgebescheide bindend.

 

Orientierungssatz

1. Die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids beinhaltet auch, daß das für den Erlaß des Folgebescheids zuständige FA verpflichtet ist, die Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu ziehen. Das bedeutet, daß auch Fehler, die bei der Auswertung eines Grundlagenbescheids im Folgebescheid unterlaufen sind, nachträglich richtigzustellen sind. Eine zeitliche Beschränkung für die Anwendung des § 175 Abs.1 Nr.1 AO 1977 ergibt sich lediglich aus den Vorschriften über die Festsetzungsverjährung bzw. Feststellungsverjährung. Im übrigen ist eine Änderung des Folgebescheids nach § 175 Abs.1 Nr.1 AO 1977 nur ausgeschlossen, wenn die Voraussetzungen für eine Verwirkung vorliegen (Ausführungen mit Rechtsprechungshinweisen zum Zweck des § 175 AO 1977).

2. Die Feststellung der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte i.S. des § 180 Abs.1 Nr.2 Buchst.a AO 1977 beschränkt sich nicht auf die Art, Höhe, Steuerbarkeit und Steuerpflicht der Einkünfte, deren Verteilung auf die beteiligten Personen und die zeitliche Zuordnung der Einkünfte; es sind darüber hinaus auch die für die Besteuerungshöhe gemeinschaftlicher Einkünfte relevanten Feststellungen zu treffen, d.h., ob es sich um steuerbegünstigte Einkünfte handelt (hier: Steuerermäßigung nach der Verordnung über die steuerliche Begünstigung von Wasserkraftwerken).

 

Normenkette

AO 1977 § 175 Abs. 1 Nr. 1, § 179 Abs. 1, 2 S. 2, § 180 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a, § 182 Abs. 1; WasKwV § 4 Abs. 1

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute, die für die Streitjahre zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Kläger war in den Streitjahren an der O-KG als Kommanditist beteiligt. Die O-KG erwirtschaftete einen Teil ihres Gewinns aus Gewerbebetrieb aus dem Betrieb einer steuerbegünstigten Anlage gemäß der Verordnung über die steuerliche Begünstigung von Wasserkraftwerken vom 26. Oktober 1944 --WBVO-- (RGBl I 1944, 278, RStBl 1944, 657), zuletzt geändert durch das Steueränderungsgesetz (StÄndG) vom 16. August 1977 (BGBl I 1977, 1586, BStBl I 1977, 450) und durch Art.14 des Steuerbereinigungsgesetzes (StBereinG) 1985 vom 14. Dezember 1984 (BGBl I 1984, 1493, BStBl I 1984, 659). Gemäß § 4 Abs.1 WBVO ermäßigt sich die Einkommensteuer, die auf den Gewinn aus den steuerbegünstigten Anlagen entfällt, auf die Hälfte der gesetzlichen Beträge.

Die Kläger reichten ihre Einkommensteuererklärungen für 1984 am 3. April 1986, für 1985 am 11. März 1987 und für 1986 am 29. April 1988 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) ein. In den Feststellungsbescheiden 1984 bis 1986, die das FA als Betriebs-FA der O-KG erließ, stellte es u.a. die Gewinne aus dem Betrieb des Wasserkraftwerks als "begünstigte Einkünfte nach Kraftwerkverordnung" fest. In den FA-internen ESt 4 B-Mitteilungen wurden diese Einkünfte ebenfalls als "begünstigte Einkünfte nach Wasserkraftwerksverordnung" bezeichnet. Bei der Veranlagung der Kläger zur Einkommensteuer berechnete das FA die Steuer für die nach § 4 Abs.1 WBVO begünstigten Gewinnanteile nach § 34 Abs.1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Es setzte durch Bescheide vom 28. Oktober 1986 für 1984, 26. Juni 1987 für 1985 und 19. Juli 1988 für 1986 erstmals die Einkommensteuer fest. Aufgrund von geänderten Feststellungsbescheiden für die O-KG für die Streitjahre änderte das FA die Einkommensteuerbescheide für 1984 und 1986 durch Bescheide vom 24. August 1989. Auch in diesen Bescheiden wurde die Steuer für die nach der WBVO begünstigten Gewinnanteile gemäß § 34 Abs.1 EStG ermäßigt.

Am 16. Juli 1990 (für 1984) und am 25. Juli 1990 (für 1985 und 1986) erließ das FA nach § 175 Abs.1 Nr.1 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderte Bescheide. In den Erläuterungen wies es darauf hin, "daß die Bescheide zu ändern waren, da die Einkünfte, die nach der Wasserkraftwerksverordnung begünstigt sind, anders anzusetzen waren". In den Bescheiden ist die auf die nach der WBVO begünstigten Gewinnanteile entfallende Tarifermäßigung als "Ermäßigung für Erfinder" bezeichnet. Die im maschinellen Verfahren nach § 4 Nr.3 der Erfinderverordnung vorgenommene Steuerberechnung ergab die durch § 4 Abs.1 WBVO vorgeschriebene Steuerbetragsermäßigung.

Der Einspruch gegen diese steuererhöhenden Änderungsbescheide hatte keinen Erfolg. Während des Klageverfahrens erließ das FA am 7. April 1992 geänderte Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre 1984 und 1985. Diese haben die Kläger gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Klageverfahrens gemacht.

Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben. Es führt im wesentlichen aus, die Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide durch die Einkommensteueränderungsbescheide vom 16. Juli 1990 für 1984 und vom 25. Juli 1990 für 1985 und 1986 könne nicht auf § 175 Abs.1 Nr.1 AO 1977 gestützt werden. Die nach dieser Vorschrift bestehende Verpflichtung des FA, aus den in einem Grundlagenbescheid festgestellten Besteuerungsgrundlagen die Folgerungen in einem Folgebescheid zu ziehen, sei davon abhängig, in welchem Umfang die getroffenen Feststellungen für den Folgebescheid bindend seien. Die Bindungswirkung reiche grundsätzlich nur soweit wie der notwendige, nach den einschlägigen Gesetzesbestimmungen zulässige Inhalt des Grundlagenbescheids. Im Streitfall habe das FA als Betriebs-FA der O-KG zu Recht über die Frage, ob und in welchem Umfang in den einheitlich und gesondert festzustellenden Einkünften der O-KG nach § 4 Abs.1 WBVO begünstigte Gewinnanteile enthalten seien, im Feststellungsverfahren entschieden. Der Regelungsinhalt der Gewinnfeststellungsbescheide für die O-KG beschränke sich nach Auffassung des Senats jedoch lediglich auf die Ausgangsgrößen der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage und darauf, daß eine Tarifermäßigung nach § 4 Abs.1 WBVO zu gewähren sei. Im Grundlagenbescheid sei demnach nur darüber zu entscheiden, ob eine Steuerermäßigung zu gewähren sei. Die Frage, wie die Steuerermäßigung auf die als begünstigt festgestellten Einkünfte zu berechnen sei, sei dagegen keine im Grundlagenbescheid zu treffende Feststellung. Insoweit gehe es um die Berechnung der Steuer selbst, die zu den Essentialia des Folgebescheids gehöre und deshalb nur in diesem eigenständig entschieden werden müsse. Die angegriffenen Einkommensteueränderungsbescheide ließen sich auch nicht auf die Berichtigungsvorschrift des § 129 AO 1977 stützen. Darin, daß das FA statt der Steuerbetragsermäßigung des § 4 Abs.1 WBVO die Steuersatzermäßigung gemäß § 34 Abs.1 EStG berechnet habe, liege kein lediglich mechanisches Versehen; denn ein Rechtsirrtum des zuständigen Sachbearbeiters, welche der grundsätzlich möglichen Berechnungen der Steuer aufgrund einer Steuerermäßigung rechtmäßigerweise vorgenommen werden müßte, könne nicht ausgeschlossen werden.

Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA Verletzung des § 175 Abs.1 Nr.1 und des § 182 Abs.1 AO 1977.

Es beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage als unbegründet abzuweisen.

Die Kläger haben sich nicht geäußert.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Klageabweisung (§ 126 Abs.3 Nr.1 FGO).

Zu Unrecht hat das FG die Befugnis des FA, die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre durch die Bescheide vom 16. Juli und 25. Juli 1990 gemäß § 175 Abs.1 Nr.1 AO 1977 zu ändern, verneint.

Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid, dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Zweck des § 175 Abs.1 Nr.1 AO 1977 ist es, die Festsetzung der zutreffenden Steuer im Folgebescheid sicherzustellen, wobei der materiellen Richtigkeit des Folgebescheids der Vorrang vor der Bestandskraft eines bereits früher ergangenen Folgebescheids eingeräumt wird. Aus der Bindungswirkung des Grundlagenbescheids für den Folgebescheid (§ 182 Abs.1 AO 1977) ergibt sich, daß dieser die Aufgabe hat, dem Folgebescheid in verbindlicher Weise bestimmte Besteuerungsgrundlagen zuzuführen. Die Bindungswirkung beinhaltet deshalb auch, daß das für den Erlaß eines Folgebescheids zuständige FA verpflichtet ist, die Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu ziehen. Solange die im Grundlagenbescheid gesondert festgestellten Besteuerungsgrundlagen vom FA im Folgebescheid nicht berücksichtigt sind, ist die dem Grundlagenbescheid zugedachte Aufgabe nicht erfüllt. Das bedeutet, daß auch Fehler, die bei der Auswertung eines Grundlagenbescheids im Folgebescheid unterlaufen sind, nachträglich richtigzustellen sind (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 14. April 1988 IV R 219/85, BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711; vom 9. September 1988 III R 253/84, BFH/NV 1989, 138, und vom 17. Februar 1993 II R 15/91, BFH/NV 1994, 1, jeweils m.w.N.). Eine zeitliche Beschränkung für die Anwendung des § 175 Abs.1 Nr.1 AO 1977 ergibt sich lediglich aus den Vorschriften über die Festsetzungsverjährung und über die Feststellungsverjährung. Im übrigen ist eine Änderung des Folgebescheids nach § 175 Abs.1 Nr.1 AO 1977 nur ausgeschlossen, wenn die Voraussetzungen für eine Verwirkung vorliegen (Urteil in BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711).

Nach den vorgenannten Rechtsgrundsätzen erweisen sich die angefochtenen Einkommensteueränderungsbescheide als rechtmäßig. Das FA hatte vor Erlaß der Bescheide vom 16. Juli 1990 (1984) und 25. Juli 1990 (1985 und 1986) die in den Gewinnfeststellungsbescheiden der O-KG in verbindlicher Weise bestimmte Steuerermäßigung nach § 4 Abs.1 WBVO noch nicht berücksichtigt; nach dieser Vorschrift ermäßigt sich die Einkommensteuer auf die Hälfte des auf den Gewinn aus den steuerbegünstigten Anlagen entfallenden Betrags. Das FA hatte in den erstmaligen Einkommensteuerbescheiden für die Streitjahre und den Änderungsbescheiden vom 24. August 1989 (1984 und 1986) nicht die Steuerbetragsermäßigung gewährt, sondern die nach der WBVO begünstigten Einkünfte dem ermäßigten Steuersatz nach § 34 Abs.1 EStG unterworfen (vgl. zur Unterscheidung BFH-Urteil vom 27. Juni 1990 I R 15/88, BFHE 162, 222, BStBl II 1991, 150 unter 2.).

Die Einkünfte der Gesellschafter der O-KG waren gemäß § 180 Abs.1 Nr.2 Buchst.a, § 179 Abs.2 Satz 2 AO 1977 gesondert und einheitlich festzustellen. Die Feststellung der einkommensteuerpflichtigen Einkünfte i.S. des § 180 Abs.1 Nr.2 Buchst.a AO 1977 beschränkt sich nicht auf die Art, Höhe, Steuerbarkeit und Steuerpflicht der Einkünfte, deren Verteilung auf die beteiligten Personen und die zeitliche Zuordnung der Einkünfte; es sind darüber hinaus auch die für die Besteuerungshöhe gemeinschaftlicher Einkünfte relevanten Feststellungen zu treffen, d.h. ob es sich um steuerbegünstigte Einkünfte handelt (vgl. u.a. BFH-Urteile vom 26. Oktober 1972 I R 229/70, BFHE 107, 265, BStBl II 1973, 121; vom 26. November 1975 I R 44/74, BFHE 117, 539, BStBl II 1976, 304; vom 27. Juni 1978 VIII R 155/75, BFHE 125, 437, BStBl II 1978, 637; vom 11. Juli 1985 IV R 61/83, BFHE 144, 151, BStBl II 1986, 577, und vom 21. Februar 1991 IV R 93/89, BFHE 163, 554, BStBl II 1991, 455 zu steuerermäßigten Einkünften gemäß § 34 EStG, und vom 13. Februar 1980 I R 181/76, BFHE 129, 389, BStBl II 1980, 190, sowie vom 8. Februar 1995 I R 17/94, BFHE 177, 79, BStBl II 1995, 692 zur Steuerbegünstigung des § 34c Abs.4 EStG; vgl. auch die beispielhafte Aufzählung bei Söhn in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, Band IV § 180 AO 1977 Rdnr.146 a). Demgemäß ist die Feststellung, ob und in welchem Umfang in den Einkünften einer Personengesellschaft nach der WBVO begünstigte Einkünfte enthalten sind, im Feststellungsbescheid zu treffen. Denn darüber, ob Anlagen einer Personengesellschaft die Voraussetzungen der WBVO erfüllen, kann nur einheitlich für alle Gesellschafter entschieden werden. Regelungsinhalt der Feststellung eines bestimmten Betrags als "steuerbegünstigte Einkünfte nach der Kraftwerkverordnung" ist aber nicht nur, daß Einkünfte in der bestimmten Höhe aus dem Betrieb von Anlagen herrühren, die die Voraussetzungen der WBVO erfüllen, sondern auch, daß auf diese Einkünfte die Steuerbegünstigung des § 4 Abs.1 WBVO anzuwenden ist. Entgegen der Auffassung des FG sind auch die Art der Steuerbegünstigung, nicht nur die Ausgangsgrößen der einkommensteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage i.S. des § 2 Abs.1 EStG eine Besteuerungsgrundlage i.S. des § 157 Abs.2 AO 1977 (vgl. § 199 Abs.1 AO 1977). An die Feststellung der Art der Steuerermäßigung im Grundlagenbescheid ist das FA, das den Folgebescheid erläßt, gemäß § 182 Abs.1 AO 1977 gebunden. Im Streitfall mußte das FA aufgrund der Gewinnfeststellungsbescheide für die O-KG bei der Veranlagung der Kläger zur Einkommensteuer die Steuerbetragsermäßigung entsprechend § 4 Abs.1 WBVO gewähren.

Da die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer der Streitjahre bei Erlaß der Bescheide im Jahre 1990 noch nicht abgelaufen war (§ 169 Abs.2 Nr.2, § 170 Abs.2 Nr.1 AO 1977), war das FA berechtigt und verpflichtet, gemäß § 175 Abs.1 Nr.1 AO 1977 die angefochtenen Änderungsbescheide zu ändern, um die zutreffenden Folgerungen aus den Gewinnfeststellungsbescheiden zu ziehen.

Daß das FA in den angefochtenen Bescheiden für die Streitjahre die Steuerbegünstigung als Ermäßigung für Erfinder berechnet hat, ist im Ergebnis unschädlich, weil sich durch die Berechnung nach § 4 Nr.3 der Erfinderverordnung die durch § 4 Abs.1 WBVO vorgeschriebene Steuerbetragsermäßigung ergab.

 

Fundstellen

Haufe-Index 65836

BFH/NV 1997, 101

BStBl II 1997, 261

BFHE 181, 388

BFHE 1997, 388

BB 1997, 406

DB 1997, 558 (Leitsatz und Gründe)

DStR 1997, 558

DStRE 1997, 223 (Leitsatz)

DStZ 1997, 423

HFR 1997, 289

StE 1997, 131

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