Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Aussetzung der Vollstreckung. Geltendmachung nicht zu ersetzender Nachteile

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Geltendmachung eines nicht wiedergutzumachenden Schadens, der die Aussetzung der Vollstreckung gebietet.

 

Tenor

I. Die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 27.07.2009 (Az S 8 R 41/09) wird bis zur Erledigung des Rechtsstreits in der Berufungsinstanz ausgesetzt.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Das Sozialgericht Würzburg (SG) hat die Antragstellerin (ASt) mit Urteil vom 27.07.2009 verpflichtet, beim Antragsgegner (Ag) den Leistungsfall der teilweisen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit mit dem 10.06.2008 anzuerkennen und ab 01.07.2008 die entsprechenden gesetzlichen Leistungen zu gewähren.

Die ASt und der Ag haben gegen dieses Urteil Berufung eingelegt. Die ASt hat beantragt, das Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen (L 20 R 791/09). Ferner hat sie am 29.10.2009 beantragt, die Vollstreckung des Urteils auszusetzen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die erstinstanzliche Entscheidung sei unrichtig. Eine evtl. spätere Rückforderung der überzahlten Urteilsrente erscheine aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse des Ag nicht erfolgversprechend. Dieser habe bis zum 12.10.2009 Arbeitslosengeld bezogen. Nicht bekannt sei, ob der Ag nunmehr Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erhalte.

Der Ag hat beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Er hat mit Schriftsatz vom 25.02.2010 mitgeteilt, dass er Leistungen nach dem SGB II beziehe.

II.

Der Antrag auf einstweilige Anordnung der Aussetzung der Vollstreckung ist zulässig und begründet.

Nach § 154 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bewirkt die Berufung eines Versicherungsträgers Aufschub, soweit es sich um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlass des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen. Keine aufschiebende Wirkung tritt dagegen kraft Gesetzes für die Zeit nach Erlass des Urteils ein, wenn ein Versicherungsträger verurteilt wurde, dem Kläger eine Rente zu zahlen. Der Versicherungsträger ist daher verpflichtet, die sog. "Urteilsrente" einzuweisen, die der Kläger aber wieder zu erstatten hat, wenn das Urteil des Erstgerichts auf die Berufung hin oder in einem eventuellen Revisionsverfahren aufgehoben wird.

Auf Antrag oder von Amts wegen kann jedoch der Vorsitzende des für die Berufung zuständigen Senats des Landessozialgerichts gemäß § 199 Abs 2 Satz 1 SGG durch einstweilige Anordnung die Vollstreckung aus dem Urteil aussetzen, soweit - wie hier - die Berufung gemäß § 154 Abs 2 SGG keine aufschiebende Wirkung hat.

Die Entscheidung erfordert eine Folgenabwägung nach entsprechender Maßgabe der Vorschriften der Zivilprozessordnung. Für das Berufungsverfahren ist grundsätzlich darauf abzustellen, ob die Vollstreckung einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde (Beschlüsse des LSG Bayern vom 27.08.2008 - L 2 U 236/08 ER, 15.05.2009 - L 2 U 60/09 ER, 27.05.2009 - L 18 R 178/09 ER - mwN). Dem Interesse des Gläubigers entspricht es, dass es grundsätzlich bei der Vollstreckbarkeit des erstinstanzlichen Urteils verbleibt. Allerdings ist dem Versicherungsträger ausnahmsweise die Möglichkeit eröffnet, darzutun und glaubhaft zu machen, dass ihm in der konkreten Vollstreckungssituation nicht zu ersetzende Nachteile entstehen. Ausnahmsweise sind bei der Folgenabwägung die Erfolgsaussichten der Berufung zu berücksichtigen, wenn diese offensichtlich fehlen oder offensichtlich bestehen (Beschluss des LSG Bayern vom 02.03.2009 - L 17 U 453/08 ER - mwN).

Ein nicht zu ersetzender Nachteil liegt nur vor, wenn der durch die Vollstreckung eintretende Schaden nachträglich nicht mehr rückgängig gemacht und nicht ausgeglichen werden kann. Soweit es um die Schwierigkeiten bei der Rückgängigmachung einer gegebenenfalls zu Unrecht gewährten Urteilsrente geht, sind konkrete Tatsachen geltend und ggf. glaubhaft zu machen, die im Falle des Antraggegners auf solche Schwierigkeiten schließen lassen. Nicht ausreichend ist ein allgemein gehaltener Hinweis auf eine mögliche Überzahlung, deren Rückerstattung nicht realisierbar wäre.

Die ASt hat unter Hinweis darauf, dass der Ag arbeitslos ist und - bestätigt durch den Ag - derzeit Leistungen nach dem SGB II bezieht, ausreichend dargelegt, dass angesichts der Einkommensverhältnisse des Ag die Gefahr besteht, bei Obsiegen in der Hauptsache den Rückforderungsanspruch gegen den Ag nicht durchsetzen zu können. Sie hat einen nicht wiedergutzumachenden Schaden geltend gemacht, der die Aussetzung der Vollstreckung gebietet. Anhaltspunkte dafür, dass Erfolgsaussichten der Berufungen offensichtlich fehlen oder bestehen, sind nicht erkennbar.

Diese Anordnung ist unanfechtbar; sie kann jederzeit aufgehoben werden (§ 199 Abs 2 Satz 3 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2326056

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