Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung nach Einigungsvertrag. Verhandlungsgrundsatz

 

Leitsatz (amtlich)

  • Im Verfahren über die Wirksamkeit einer auf Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 und 5 zum Einigungsvertrag gestützten Kündigung gilt der Verhandlungs-/Beibringungsgrundsatz.
  • Werden von einer Partei Unterlagen der Behörde des Bundesbeauftragten für die personenbezogenen Unterlagen des früheren Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (Gauck-Behörde) vorgelegt, hat die Partei vorzutragen, welche substantiierte Behauptung mit welcher Urkunde der Akte konkretisiert werden soll. Will die Partei Beweis antreten, hat sie vorzutragen, welche Behauptung mit welcher Urkunde der Akte bewiesen werden soll.
  • Sind der Gegenpartei die Unterlagen nicht bekannt, hat das Gericht ihr durch angemessene Zeit zu ermöglichen, hiervon Kenntnis nehmen und eine Stellungnahme abgeben zu können.
  • Die Unterlagen können der Partei vom Gericht nicht mit der Begründung vorenthalten werden, es werde nur das ihr Günstige berücksichtigen. Die Parteien bestimmen, welche Umstände sie als ihnen günstig ansehen.
 

Normenkette

Einigungsvertrag Anlage I Kapitel XIX Sachgebiet A Abschn. III Nr. 1 Abs. 4-5; ArbGG § 64 Abs. 6; ZPO §§ 136, 138, 523

 

Verfahrensgang

BezirksG Chemnitz (Urteil vom 11.05.1992; Aktenzeichen 2 Sa 19/92)

KreisG Reichenbach (Urteil vom 24.01.1992; Aktenzeichen Ca 459/91)

 

Tenor

  • Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bezirksgerichts Chemnitz vom 11. Mai 1992 – 2 Sa 19/92 – aufgehoben.
  • Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an die 2. Kammer des Landesarbeitsgerichts Chemnitz zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer dem Kläger mit Schreiben des Oberschulamtes Chemnitz vom 24. Mai 1991 ausgesprochenen Kündigung.

Der 1939 geborene Kläger war seit 1. August 1964 Lehrer an der Oberschule L…. Er unterrichtete in den Fächern Geographie und Sport.

Am 18. Oktober 1974 unterschrieb der Kläger bei der Kreisdienststelle R… des Ministeriums für Staatssicherheit (im folgenden MfS) eine als Verpflichtung bezeichnete Erklärung, wonach er seinen “Beitrag zur allseitigen Sicherung” leisten wolle. Das MfS beendete die Tätigkeit mit dem Kläger im Jahre 1985. Der Kläger unterschrieb am 25. April 1985 eine als “Entpflichtung” bezeichnete Erklärung.

In dem von den Landesbediensteten des Beklagten auszufüllenden Fragebogen gab der Kläger am 11. Februar 1991 an, er habe in dem Zeitraum von 1974 bis 1985 als inoffizieller Mitarbeiter (im folgenden IM) Kontakte zum MfS gehabt.

Mit Schreiben vom 24. Mai 1991 kündigte das Oberschulamt das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis. In dem Kündigungsschreiben heißt es:

“Nach den Ermittlungen des Oberschulamtes haben Sie von 1974 – 1985 für das damalige Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet.

Bei diesem Sachverhalt sind Sie für eine Verwendung als Lehrer und Erzieher im Schuldienst des Freistaates Sachsen nicht geeignet. Eine Fortsetzung des mit Ihnen bestehenden Arbeitsverhältnisses ist für den Freistaat Sachsen nicht zumutbar. Weder Ihre o.g. Stellungnahme noch Ihre Einlassungen bei o.g. Anhörung sind geeignet, den Ihnen zur Last gelegten Sachverhalt und seine Beurteilung zu entkräften.

Ihr Arbeitsverhältnis wird daher nach Anlage I, Kapitel XIX, Abschnitt III Ziff. 1 Abs. 5 zu Art. 20 Abs. 1 des Einigungsvertrages vom 31. 08. 1990 (BGBl 1990 II S. 885 ff.) gem. § 55 Abs. 2 Arbeitsgesetzbuch der DDR v. 16. 06. 1977 i.V.m. § 9 der Arbeitsordnung für pädagogische Kräfte vom 29. 11. 1979 (GBl. 1979 S. 444 ff.) mit Wirkung vom 31. 08. 1991 (Ende des Schuljahres 1990/91) unter Einhaltung einer dreimonatigen Kündigungsfrist ordentlich gekündigt.

Die zuständige Personalvertretung hat gegen die Ihnen mit Bezugsschreiben mitgeteilte Kündigungsabsicht keine Einwendungen erhoben.”

Mit der am 13. Juni 1991 eingereichten Klage hat der Kläger die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Er hat vorgetragen, er habe die Verpflichtungserklärung unter Zwang unterschrieben. Er habe vom ersten Tag an “dagegen gewirkt” und niemandem Schaden zugefügt. Er habe anderen bei der Republikflucht geholfen und sei selbst eine Woche republikflüchtig gewesen. Richtig sei, daß er 1981 einen Fußball-Fan belastet habe, der verbotene Lieder gesungen habe. Mitte der 80-iger Jahre habe er von sich aus die Tätigkeit für das MfS eingestellt und sich damit gegen das MfS aufgelehnt. Er habe eine starke Solidarität bei den Schülern und bei der Elternschaft erfahren. Auszeichnungen von der Staatssicherheit habe er nie erhalten. Ihm sei der Personalausweis weggenommen worden. Bei seiner Entpflichtung 1985 habe er unterschreiben müssen, nie etwas mit dem MfS zu tun gehabt zu haben.

Der Kläger hat, soweit in der Revision erheblich, beantragt

festzustellen, daß die Kündigung vom 24. Mai 1991 das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien zum 31. August 1991 nicht beendet habe.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat geltend gemacht, der Kläger stehe als Lehrer in besonderem Maße im Lichte der Öffentlichkeit. Das Vertrauensverhältnis zu den Schülern, Eltern und Lehrern sei durch die Tätigkeit des Klägers für das MfS gestört worden. Der Kläger sei nicht unter unabwendbarem Zwang zur Mitarbeit für das MfS gezwungen worden. Anlaß der Beendigung seiner Tätigkeit für das MfS sei ein Verstoß gegen die Reisebestimmungen der DDR gewesen. Der Kläger sei durch ein “Tribunal” der Lehrer verurteilt worden. Ihm, dem beklagten Land, sei eine weitere Beschäftigung des Klägers nicht möglich gewesen.

Das Kreisgericht hat die Klage abgewiesen. Im Verhandlungstermin vor dem Bezirksgericht Chemnitz hat der Beklagtenvertreter an Gericht und Klägervertreter Kopien von Auszügen aus Unterlagen der Behörde des Bundesbeauftragten für die personenbezogenen Unterlagen des früheren Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (im folgenden: Gauck-Behörde) übergeben. Der Vertreter des Klägers hat beantragt, den an diesem Tag übergebenen Schriftsatz und die zugleich überreichten Unterlagen der Gauck-Behörde als verspätet zurückzuweisen. Das Bezirksgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, deren Zurückweisung der Beklagte beantragt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an eine Kammer des inzwischen errichteten Landesarbeitsgerichts Chemnitz zurückzuverweisen, die bisher mit der Sache nicht befaßt war.

I. Das angefochtene Urteil ist schon deshalb aufzuheben, weil Verfahrensgrundsätze, einschließlich dem des rechtlichen Gehörs, grob verletzt worden sind.

1. Jede Partei ist Subjekt und nicht Objekt des Verfahrens. Ihre Stellung kommt durch den zivilprozessualen Verhandlungsgrundsatz, der auch im arbeitsgerichtlichen Erkenntnisverfahren gilt (Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, § 46 Rz 28), zum Ausdruck. Danach hat das Gericht nur von dem von den Parteien vorgetragenen Tatsachenstoff auszugehen. Der Beibringungsgrundsatz hat zur Folge, daß die Parteien darüber entscheiden, welche Tatsachen sie dem Gericht unterbreiten wollen (völlig unstreitig: BVerfGE 67, 39, 42 und BVerfG Beschluß vom 25. Juli 1979 – 2 BvR 878/74 – NJW 1979, 1925, 1927; BGH NJW 1990, 3151; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 51. Aufl., Grundzüge § 128 Rz 22 f.). Das Gericht muß sich hierbei auf die Prüfung der vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmittel beschränken (BAG Urteil vom 16. März 1972 – 5 AZR 435/71 – AP Nr. 1 zu § 542 ZPO). Daß das Gericht für eine Partei Akten, zu denen diese selbst nicht Stellung nehmen konnte, liest und entscheidet, was es daraus für die Partei Günstiges verwerten will, ist im Erkenntnisverfahren mit Beibringungsgrundsatz durch keine Verfahrensvorschrift gedeckt.

Der weiter geltende Grundsatz der Mündlichkeit bedeutet, daß erhebliches Parteivorbringen immer zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden muß. Einer Partei, die durch Vorbringen der Gegenseite in der mündlichen Verhandlung überrascht wird, ist grundsätzlich das Recht einzuräumen, hierzu Stellung zu nehmen (Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, § 46 Rz 29). Des weiteren hat der Vorsitzende in der Verhandlung dafür Sorge zu tragen, daß eine Sache erschöpfend erörtert wird, § 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 523, 136 Abs. 3 ZPO (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 51. Aufl., § 523 Rz 3).

2. Das Landesarbeitsgericht hat diese Grundsätze nicht beachtet.

a) Es hat ausgeführt, aus den von der Beklagten im Termin vorgelegten Unterlagen der Gauck-Behörden hätten keine für den Kläger nachteiligen Schlüsse gezogen werden dürfen, ohne daß der Kläger Gelegenheit gehabt hätte, Einsicht und Stellung zu nehmen. Zulässig sei es dagegen, sich aus den Unterlagen ergebende günstige Umstände für die klagende Partei zu berücksichtigen.

b) Diese Auffassung ist unzutreffend. Die von dem Beklagten im Termin vorgelegten Unterlagen waren dem Kläger bis dahin nicht bekannt. Der Vorsitzende hat hier durch Schließung der mündlichen Verhandlung seiner Pflicht nicht genügt, dafür Sorge zu tragen, daß die Sache umfassend erörtert wird. Es war offenkundig, daß der Kläger in dem Zeitraum zwischen Übergabe der Aktenvorgänge und dem Schluß der mündlichen Verhandlung nicht ausreichend Kenntnis von dem Akteninhalt nehmen konnte. Der Richter kann nicht aus der Partei nicht bekannten Unterlagen “günstige Umstände” für sie heraussuchen.

c) Das Landesarbeitsgericht hat sich zudem an seine eigene Vorgabe nicht gehalten. Es hat dem Kläger ungünstige Tatsachen in die Entscheidungsgründe Einfluß finden lassen. Sechzehn Zeilen vor der Aussage, es dürften für den Kläger keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden, hat das Berufungsgericht ausgeführt, die Unterlagen der Gauck-Behörde zeigten, daß der Kläger dem MfS über eine Person Details berichtet habe, die dieser schwer geschadet haben könnten.

II. Das Landesarbeitsgericht wird bei der erneuten Verhandlung folgendes zu beachten haben.

1. Das Berufungsgericht hat zutreffend angenommen, daß der Beklagte ordentlich gekündigt hat. Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Absatz 5 Ziffer 2 der Anlage I zum Einigungsvertrag (fortan: Abs. 5) sieht nur die Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung vor. Es steht dem Kündigenden zwar frei, bei einer außerordentlichen Kündigung eine Auslauffrist zu gewähren, wenn dies in seinem Interesse liegt. Im Kündigungsschreiben an den Kläger ist aber ausdrücklich ausgeführt, es werde ordentlich unter Einhaltung einer dreimonatigen Kündigungsfrist gekündigt. Die Wirksamkeit der angegriffenen Kündigung ist demnach nach Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Absatz 4 Ziff. 1 (fortan: Abs. 4) zu beurteilen.

2. Wird eine ordentliche Kündigung nach Abs. 4 Ziffer 1 damit begründet, der Arbeitnehmer sei persönlich nicht geeignet, weil er für das MfS tätig gewesen sei, müssen die Voraussetzungen nach Abs. 5 Ziffer 2 vorliegen. Die Anforderungen sind nicht etwa deshalb geringer, weil die Kündigung auf Abs. 4 gestützt ist (vgl. Senatsentscheidung vom 28. Januar 1993 – 8 AZR 415/92 – zur Veröffentlichung bestimmt). Nach Abs. 5 Ziffer 2 ist ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung insbesondere dann gegeben, wenn der Arbeitnehmer für das frühere Ministerium für Staatssicherheit/Amt für nationale Sicherheit tätig war und deshalb ein Festhalten am Arbeitsverhältnis unzumutbar erscheint.

3.a) Abs. 5 Ziff. 2 unterscheidet nicht zwischen hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Nach dem Senatsurteil vom 11. Juni 1992 (– 8 AZR 474/91 – zur Veröffentlichung bestimmt) muß zur Wirksamkeit einer Kündigung feststehen, daß der Arbeitnehmer für das MfS tätig war. Bei der erforderlichen Einzelabwägung sind zu berücksichtigen der Grund der Aufnahme der Tätigkeit, die Dauer der Tätigkeit und der Grund der Beendigung der Tätigkeit.

b) Werden von einer Partei zum Zwecke der Ergänzung ihres Vorbringens oder zu Beweiszwecken Akten der Gauck-Behörde vorgelegt, hat jede Partei im einzelnen vorzutragen, welche tatsächlichen Behauptungen aus welchen einzelnen Urkunden der Akten geltend gemacht werden sollen oder welche Behauptungen mit welcher Urkunde bewiesen werden sollen. Es reicht für einen substantiierten Vortrag nicht aus, daß pauschal auf die “Gauck-Akten” verwiesen wird. Eine Ausnahme von dieser Substantiierungspflicht kann allenfalls dann in Betracht kommen, wenn die Akten sehr dünn sind und es offensichtlich erkennbar ist, welcher Vortrag damit erbracht oder für welche Behauptung damit Beweis angetreten werden soll.

III.1. Der Kläger hat sich darauf berufen, er sei unter Druck zur Mitarbeit gezwungen worden, er habe seine Aufträge nicht zur Zufriedenheit des MfS ausgeführt, weshalb er 1985 entpflichtet worden sei. Er habe gegen rechtswidrige Zustände opponiert, er habe den Schießbefehl an der Mauer und die Benachteiligung kirchlich gebundener Schüler und Fragen zur Demokratie und zum Freiheitsbegriff zur Sprache gebracht. Schließlich sei er selbst überwacht worden, weil er in dem Verdacht gestanden habe, gegen die frühere DDR zu arbeiten. Der Beklagte macht demgegenüber geltend, der Kläger habe andere Personen belastet. Beide Parteien haben, soweit die Gauck-Akten berücksichtigt werden sollen, substantiiert darzutun, aus welchen Unterlagen die Richtigkeit ihres Vorbringens hergeleitet werden soll.

2. Das Berufungsgericht wird die Eignung oder Nichteignung des Klägers im Sinne des Absatzes 4 unter Berücksichtigung der für und gegen den Kläger sprechenden Umstände festzustellen haben.

IV. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an eine Kammer zu verweisen, die bisher mit der Sache nicht befaßt war.

 

Unterschriften

Michels-Holl, Dr. Müller-Glöge, Dr. Ascheid, Dr. Weiss, Wittendorfer

 

Fundstellen

Haufe-Index 846782

BB 1993, 1364

NZA 1993, 1036

AP, 0

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