Entscheidungsstichwort (Thema)

Tarifliche Ausschlußfrist - Erkennbarkeit eines Anspruchs

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Begriff "erkennbar" im Sinne des § 34 Abs 2 Satz 3 Lohntarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundesbahn bezieht sich nicht auf die Kenntnis der Rechtsgrundlage des Anspruchs, sondern beinhaltet lediglich die Kenntnis der tatsächlichen Voraussetzungen einer Anspruchsgrundlage.

 

Normenkette

TVG § 1

 

Verfahrensgang

LAG Hamburg (Entscheidung vom 26.04.1988; Aktenzeichen 6 Sa 18/88)

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 05.01.1988; Aktenzeichen 2 Ca 529/86)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob Lohnansprüche der Kläger aufgrund tariflicher Ausschlußfristen verfallen sind.

Die Kläger sind bei der Beklagten als qualifizierte Facharbeiter beschäftigt und wurden u.a. zur Rufbereitschaft herangezogen. § 4 des Lohntarifvertrages für die Arbeiter der Deutschen Bundesbahn (LTV) regelt u.a.:

"...

(2) 2. Das Ende der Rufbereitschaft ist abweichend *14r60 von Nr. 1 nach den dienstlichen Bedürfnissen festzusetzen, wenn infolge von Betriebsruhe die Rufbereitschaft nur bis längstens

a) 19 Uhr oder b) Sonnabend 12 Uhr

erforderlich ist.

..."

Aufgrund dieser Vorschrift bezahlte die Beklagte, wenn Rufbereitschaft bis 21.00 Uhr angeordnet war, nur die tatsächlich geleistete Rufbereitschaftszeit.

Nach übereinstimmender Auffassung beider Parteien entsprach diese Berechnungsmethode nicht § 4 LTV. Vielmehr hätte im Hinblick auf § 4 Abs. 2 LTV den Klägern bei einer Anordnung von Rufbereitschaft über 19.00 Uhr hinaus eine Vergütung bis zum nächsten Morgen 6.00 Uhr nach den tariflich vorgeschriebenen Stundensätzen zugestanden.

Aufgrund dieser fehlerhaften Berechnung ergaben sich der Höhe nach unstreitige Lohnansprüche für den Kläger zu 1) für die Zeit von Juni 1985 bis August 1985 von 442,-- DM, für den Kläger zu 2) für die Zeit von Januar 1984 bis Oktober 1985 von 2.147,15 DM und für den Kläger zu 3) für die Zeit von Februar 1984 bis Oktober 1985 von 2.344,88 DM.

Die Kläger machten ihre Ansprüche erstmals im Mai 1986 gegenüber der Beklagten geltend. Die nach dem 1. November 1985 entstandenen Forderungen der Kläger erfüllte die Beklagte. Hinsichtlich der früher entstandenen Ansprüche beruft sich die Beklagte auf die tarifliche Ausschlußfrist gemäß § 34 Abs. 2 LTV, in dem es u.a. heißt:

"Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis verfallen, *10r60 wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlußfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit vom Arbeiter oder von der Deutschen Bundesbahn schriftlich geltend gemacht werden, soweit tarifvertraglich nichts anderes bestimmt ist.

Für denselben Sachverhalt reicht die einmalige Geltendmachung des Anspruchs aus, um die Ausschlußfrist auch für später fällig werdende Leistungen unwirksam zu machen. Später, aber innerhalb der gesetzlichen Verjährungsfrist geltend gemachte Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis werden nur dann berücksichtigt, wenn sie für den Beanstandenden nachweisbar erst zu dem späteren Zeitpunkt erkennbar wurden und ihre Berechtigung noch nachgeprüft werden kann."

Die Kläger erhielten gemäß § 26 Abs. 11 LTV monatlich eine Abrechnung, aus der sich die von ihnen geleisteten Rufbereitschaftszeiten sowie die hierfür gezahlte Vergütung ergaben.

Die Kläger haben die Auffassung vertreten, unbekannte Ansprüche fielen nicht unter die tarifliche Ausschlußfrist des § 34 Abs. 2 LTV. Die Ansprüche seien auch nicht erkennbar gewesen, weil die tatsächlich geleisteten Rufbereitschaftszeiten vergütet worden seien. Ihre Ansprüche hätten sich erst aus einer Interpretation der Tarifnorm im Verlauf des vorliegenden Rechtsstreits ergeben. Sie hätten davon ausgehen müssen, tarifgerecht vergütet zu werden. Auch die Tarifvertragsparteien hätten sich in Unkenntnis der Rechtslage befunden. Dies könne aber nicht zu Lasten der Arbeitnehmer gehen.

Die Kläger haben beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger zu 1) *10r60 442,-- DM brutto für die Zeit von Juni 1985 bis August 1985 zuzüglich 4 % Zinsen seit dem 14. Mai 1986, an den Kläger zu 2) 2.147,15 DM brutto für die Zeit von Januar 1984 bis Oktober 1985 zuzüglich 4 % Zinsen seit dem 2. Mai 1986 und an den Kläger zu 3) 2.344,88 DM brutto für die Zeit von Februar 1984 bis Oktober 1985 zuzüglich 4 % Zinsen seit dem 14. Mai 1986 zu zahlen;

2. die Beklagte zu verurteilen, eine entsprechende *10r60 Nachberechnung des Urlaubslohnzuschlages ab Juni 1985 vorzunehmen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klagen abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, die Ansprüche seien verfallen, weil sie für die Kläger erkennbar gewesen seien. Den Klägern sei aufgrund der Abrechnungen jeden Monat mitgeteilt worden, welche Zeiten der Rufbereitschaft sie geleistet hätten und in welchem Umfang sie dafür entlohnt worden seien.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klagen abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihr ursprüngliches Klagebegehren weiter. Die Beklagte bittet um Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Kläger ist nicht begründet.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Lohnansprüche der Kläger für die geleistete Rufbereitschaft seien gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 1 a LTV begründet. Danach sei Beginn und Ende der Rufbereitschaft genau festgelegt. Lediglich das Ende der Rufbereitschaft sei gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 1 a und b LTV infolge von Betriebsruhe auf längstens 19.00 bzw. 12.00 Uhr an Sonnabenden festgelegt worden. Diese Ansprüche der Kläger seien jedoch gemäß § 34 Abs. 2 Satz 1 LTV verfallen, da sie nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten schriftlich geltend gemacht worden seien. Eine Ausnahme von der Verfallfrist wie sie in § 34 Abs. 2 Satz 3 LTV geregelt sei, liege nicht vor, weil die Ansprüche für die Kläger im Zeitpunkt der Fälligkeit erkennbar gewesen seien. Bei dem Begriff "erkennbar" werde auf einen allgemeinen objektiven Maßstab abgestellt. Es komme nicht auf die unterschiedliche subjektive Möglichkeit des einzelnen Anspruchsberechtigten an, nach individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten die tariflichen Bestimmungen sowie die Lohnabrechnungen zu verstehen und nachzuvollziehen. Tarifliche Ausschlußfristen dienten nach ihrem Sinn und Zweck dazu, nach Ablauf einer bestimmten Zeit zwischen den Arbeitsvertragsparteien möglichst große Sicherheit und Klarheit zu schaffen. Dies könne nur durch einen allgemeinen objektiven Maßstab erreicht werden. Aus den zugegangenen Lohnabrechnungen hätten aber die Kläger durch einfaches Nachrechnen der angesetzten Zeiten entnehmen können, daß ihnen nur die Zeit ihrer tatsächlichen Rufbereitschaft bis 21.00 Uhr vergütet worden sei.

Die Beklagte verstoße auch nicht gegen Treu und Glauben, wenn sie sich auf die tariflichen Ausschlußfristen berufe. Ein rechtsmißbräuchliches Verhalten käme nur dann in Betracht, wenn die Beklagte die Kläger durch ein konkretes Verhalten an der rechtzeitigen Geltendmachung ihrer Ansprüche gehindert hätte. Dafür liege jedoch kein Anhaltspunkt vor.

Diese Ausführungen sind revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

II.1. Der gemäß § 4 Abs. 3 i.Verb.m. § 4 Abs. 2 Nr. 1 a und b LTV begründete Vergütungsanspruch der Kläger für die geleistete Rufbereitschaft sowie der Anspruch auf erhöhtes Urlaubsgeld gemäß § 28 e LTV sind gemäß § 34 Abs. 2 Satz 1 LTV verfallen, weil diese Ansprüche von den Klägern nicht innerhalb der Ausschlußfrist von sechs Monaten schriftlich geltend gemacht worden sind. Dazu gehören sämtliche bis Oktober 1985 fällig gewordenen Ansprüche, weil die Kläger erstmals im Mai 1986 diese Ansprüche geltend gemacht haben.

2. Entgegen der Auffassung der Revision ist der Verfall der von den Klägern geltend gemachten Ansprüche nicht durch die Ausnahmeregelung des § 34 Abs. 2 Satz 3 LTV verhindert worden. Danach werden "später, aber innerhalb der gesetzlichen Verjährungsfrist geltend gemachte Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis nur dann berücksichtigt, wenn sie für den Beanstandenden nachweisbar erst zu dem späteren Zeitpunkt erkennbar wurden und ihre Berechtigung noch nachgeprüft werden kann". Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht gegeben.

a) Mit dieser Ausnahmeregelung haben die Tarifvertragsparteien nicht auf die Kenntnis über die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs, sondern nur auf das tatsächliche Vorliegen der tariflichen Anspruchsvoraussetzungen abgestellt. Denn nachweisbar sind nach geltender Rechtsterminologie nur Tatsachen. Dies entspricht auch der ständigen Rechtsprechung des BAG (vgl. zuletzt Urteil vom 16. Mai 1984 - 7 AZR 143/81 - AP Nr. 85 zu § 4 TVG Ausschlußfristen), wonach die Unkenntnis des Anspruchs aufgrund fehlender oder irriger Einschätzung der Rechtslage unbeachtlich ist. Es ist nichts dafür ersichtlich, daß die Tarifvertragsparteien mit der getroffenen Regelung davon abweichen wollten.

Mit dem Begriff "erkennbar" haben die Tarifvertragsparteien somit geregelt, daß die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anspruchs objektiv schon zu einem früheren Zeitpunkt erkennbar gewesen sein müssen, dem Beanstandenden nachweisbar aber subjektiv erst zu dem späteren Zeitpunkt erkennbar waren. Damit wird nach dieser Tarifvorschrift nicht nur auf einen objektiven Tatbestand abgestellt, sondern auch dem Kenntnisstand des Beanstandenden Rechnung getragen. Dem Beanstandenden wird ermöglicht darzulegen und gegebenenfalls nachzuweisen, daß ihm bis zu dem späteren Zeitpunkt die tatsächlichen Anspruchsvoraussetzungen nicht erkennbar waren. Dies wäre z.B. dann der Fall, wenn die Beklagte keine oder für die Kläger zumindest nicht erkennbar unrichtige Lohnabrechnungen erstellt hätte (vgl. BAG Urteil vom 27. November 1984 - 3 AZR 596/82 - AP Nr. 89 zu § 4 TVG Ausschlußfristen, m.w.N.).

Aus dieser Gestaltung der tarifvertraglichen Regelung folgt entgegen der Auffassung der Revision, daß es beim Begriff der Erkennbarkeit nicht auf die jeweils unterschiedliche Möglichkeit für den Beanstandenden ankommt, nach seinen individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten die tatsächlichen Voraussetzungen eines Anspruchs zu erkennen. Diese rechtliche Wertung ergibt sich aus dem Grundsatz, daß tarifliche Ausschlußklauseln nach ihrem Sinn und Zweck dazu dienen, nach Ablauf einer bestimmten Zeit zwischen den Arbeitsvertragsparteien Rechtssicherheit und Rechtsklarheit zu schaffen. Dies kann aber nur durch einen allgemeinen und objektiven Maßstab erreicht werden (vgl. dazu BAGE 43, 71 = AP Nr. 78 zu § 4 TVG Ausschlußfristen). Die Tarifvertragsparteien haben dem durch Schaffung der Beweislastregelung Rechnung getragen.

b) Bei Anwendung des aufgezeigten Prüfungsmaßstabs ist es somit rechtlich unbeachtlich, daß die Kläger erst im Vorfeld des Rechtsstreits durch die Gewerkschaft erfuhren, ihnen stehe auch eine entsprechende Entlohnung für die Zeit bis zum nächsten Morgen gemäß § 4 Abs. 2 Nr. 1 LTV zu und sich die Beklagte erst aufgrund der Schreiben der Kläger und der Klageerhebung dieser Auffassung anschloß. Die Unkenntnis der Parteien über die zutreffende Auslegung der tariflichen Regelung und damit über den Anspruch aus § 4 Abs. 2 Nr. 1 a und b LTV stellt damit keine fehlende Erkennbarkeit im Sinne des § 34 Abs. 2 Satz 3 LTV dar.

Für die Kläger bestand auch die objektive Möglichkeit, die tatsächlichen Anspruchsvoraussetzungen zu erkennen. Denn nach nicht angegriffenen und damit für die Revisionsinstanz bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts war für die Kläger aus der monatlichen Lohnabrechnung zu entnehmen, daß ihnen nur die Zeit ihrer tatsächlichen Rufbereitschaft vergütet wurde, auch soweit diese über 19.00 Uhr hinaus andauerte. Die Kläger haben im vorliegenden Fall als Beanstandende jedoch nicht dargetan, daß die Ansprüche auf Vergütung der Rufbereitschaft erst zu dem späteren Zeitpunkt - nämlich im Mai 1986 - für sie subjektiv aufgrund fehlender Tatsachen erkennbar wurden.

c) Schließlich hat das Landesarbeitsgericht auch zutreffend angenommen, daß die Berufung der Beklagten auf die tarifliche Ausschlußfrist des § 34 Abs. 2 Satz 1 LTV nicht gegen Treu und Glauben verstößt. Die Kläger haben nichts dafür vorgetragen, daß die Beklagte durch tatsächliches Verhalten die Kläger an der rechtzeitigen Geltendmachung ihrer Ansprüche gehindert hätte.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1, § 100 Abs. 2 ZP0.

Dr. Jobs Dörner

zugleich für den an der Unter-

schriftsleistung durch Krankheit

verhinderten Dr. Röhsler

Ramdohr Kamm

 

Fundstellen

BAGE 66, 29-34 (LT1)

BAGE, 29

BB 1991, 1267

BB 1991, 1267-1268 (LT1)

DB 1991, 763-764 (LT1)

EBE/BAG 1991, 59-60 (LT1)

NZA 1991, 68-69 (LT1)

RdA 1990, 384

ZTR 1991, 120 (LT1)

AP § 1 TVG Tarifverträge Bundesbahn (LT1), Nr 8

AR-Blattei, Ausschlußfristen Entsch 130 (LT1)

AR-Blattei, ES 350 Nr 130 (LT1)

EzA § 4 TVG Ausschlußfristen, Nr 86 (LT1)

PersV 1991, 544 (L)

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