Entscheidungsstichwort (Thema)

Deklaratorische oder konstitutive Kündigungsfrist

 

Leitsatz (redaktionell)

Rückwirkende tarifliche Neuregelung von Kündigungsfristen – Vertrauensschutz

 

Normenkette

BGB § 622

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Urteil vom 14.06.1996; Aktenzeichen 10 Sa 2033/95)

ArbG Bielefeld (Urteil vom 18.10.1995; Aktenzeichen 2 Ca 1052/95)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 14. Juni 1996 – 10 Sa 2033/95 – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der Kläger (geboren am 20. November 1937) war seit 1. April 1952 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Textilindustrie mit zuletzt ca. 120 Mitarbeitern, als Webermeister zu einem monatlichen Bruttoverdienst von zuletzt 4.434,00 DM tätig. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifbindung die Tarifverträge für die Textilindustrie Westfalen/Osnabrück Anwendung.

Der Betrieb der Beklagten bestand aus zwei Werken; in Werk I befand sich die Weberei, in Werk II die Veredelung, Färberei und Ausrüstung. Wegen der Betriebsstillegung des Werkes I zum 30. Juni 1995 kündigte die Beklagte nach Abschluß eines Interessenausgleichs und Sozialplans einem Großteil der gewerblichen Arbeitnehmer und auch den Webermeistern das Arbeitsverhältnis auf, und zwar dem Kläger mit Schreiben vom 30. März 1995 zum 30. September 1995.

Nachdem die Parteien ursprünglich um die Betriebsbedingtheit der Kündigung und daß ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats gestritten haben, macht der Kläger in der Revisionsinstanz nur noch die Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfrist nach § 622 BGB von sieben Monaten zum Monatsende geltend. Während der Kläger in der Berufungsinstanz die Auffassung vertreten hatte, für langjährig beschäftigte Arbeitnehmer sei kein Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten zu machen, so daß die gesetzlichen Kündigungsfristen gälten, die Kündigung also frühestens zum 31. Oktober 1995 das Arbeitsverhältnis aufgelöst habe, argumentiert der Kläger nunmehr, § 14 Nr. 2 des Manteltarifvertrages für die Angestellten der Textilindustrie in Westfalen und im ehemaligen Regierungsbezirk Osnabrück (MTV Angestellte) vom 17. Dezember 1985 enthalte nur eine deklaratorische Verweisung auf den Gesetzestext, so daß deshalb für die 1995 ausgesprochene Kündigung die gesetzliche Kündigungsfrist von sieben Monaten maßgebend sei. Daran habe sich auch durch eine Neufassung des Tarifvertrages (und neue Numerierung) aufgrund der Tarifvereinbarung über Jahresarbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung für die Textilindustrie vom 20. März 1996 bzw. 4. April 1996 nichts geändert. Die Kündigungsfristen seien im MTV Angestellte seit seinem Abschluß vom 9. Mai 1985 unverändert im Manteltarifvertrag enthalten und seien auch nicht Gegenstand der Tarifvereinbarung über Jahresarbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung von 1996 gewesen.

Der Kläger hat – soweit für die Revisionsinstanz von Belang – beantragt

festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 30. März 1995 nicht zum 30. September 1995 sondern zum 31. Oktober 1995 beendet wird.

Die Beklagte, die sich ursprünglich im Hinblick auf die parallel geführten Rechtsstreite der gewerblichen Arbeitnehmer auf die Wirksamkeit der tariflichen Kündigungsfristen für gewerbliche Arbeitnehmer und Angestellte berufen hatte, macht nunmehr geltend, aufgrund der Neufassung des MTV für die Angestellten in der Fassung vom 4. April 1996 (MTV Angestellte) handele es sich um eine konstitutive Regelung, der rückwirkende Kraft beizumessen sei, ohne daß der Kläger sich auf einen Vertrauensschutz berufen könne; der Kläger werde nämlich durch die rückwirkenden Änderungen des MTV Angestellte nicht schlechter gestellt als nach der früheren tariflichen Regelung.

Die frühere Regelung des MTV lautet wie folgt:

„§ 14 Beendigung des Arbeitsverhältnisses

1. Hinsichtlich der Kündigungsfristen gelten die gesetzlichen Bestimmungen. Die Kündigung muß schriftlich erfolgen.

2. Darüber hinaus gilt für den Arbeitgeber das Gesetz über die Fristen über die Kündigung von Angestellten vom 9.7.1926. Die Fristen betragen nach Vollendung des 25. Lebensjahres des Angestellten und anschließender ununterbrochener Betriebszugehörigkeit von

5 Jahren

3 Monate,

8 Jahren

4 Monate,

10 Jahren

5 Monate,

12 Jahren

6 Monate,

zum Quartalsschluß.

3. Die gesetzlichen Bestimmungen über die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses bleiben unberührt (§ 626 BGB).

4. …”

Demgegenüber lautet die Kündigungsfristenregelung in der Neufassung des MTV Angestellte vom 4. April 1996 wie folgt:

„§ 11 Beendigung des Arbeitsverhältnisses

1. Hinsichtlich der Kündigungsfristen gelten die gesetzlichen Bestimmungen. Die Kündigung muß schriftlich erfolgen.

2. Die Fristen betragen nach Vollendung des 25. Lebensjahres des Angestellten und anschließender ununterbrochener Betriebszugehörigkeit von

5 Jahren

3 Monate

8 Jahren

4 Monate

10 Jahren

5 Monate

12 Jahren

6 Monate

zum Quartalsschluß.

3. Die gesetzlichen Bestimmungen über die fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses bleiben unberührt (§ 626 BGB).

4. …”

Während das Arbeitsgericht die Kündigung für unwirksam erklärt hat, hat auf die Berufung der Beklagten das Landesarbeitsgericht die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Kläger eine Feststellung nach seinem oben wiedergegebenen, eingeschränkten Antrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Die Beklagte hat mit der nach dem MTV Angestellte zutreffenden Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Quartalsschluß gekündigt; § 622 Abs. 2 Nr. 7 BGB ist nicht einschlägig.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die von der Beklagten gemäß § 14 Nr. 2 MTV ausgesprochene Kündigung sei fristgemäß und nicht zu beanstanden, weil eine eventuelle Verfassungswidrigkeit des § 15 Nr. 1 MTV für gewerbliche Arbeitnehmer vom 9. Mai 1985 nicht automatisch zur Verfassungswidrigkeit auch der Kündigungsfristen für Angestellte nach dem für sie geltenden Manteltarifvertrag führe; immerhin sei die für den Kläger maßgebliche tarifliche Kündigungsfrist nur einen Monat kürzer als die gesetzliche Kündigungsfrist des § 622 Abs. 2 Nr. 7 BGB.

II. Dem folgt der Senat im Ergebnis, nicht jedoch in der Begründung.

1. Die Revision begegnet hinsichtlich ihrer Zulässigkeit zunächst einmal keinen durchgreifenden Bedenken, obwohl die Begründung des Klageantrages in der Revisionsinstanz gegenüber dem Vorbringen in den Tatsacheninstanzen zumindest teilweise ausgetauscht wird. Grundsätzlich unterliegt der Beurteilung des Revisionsgerichts nur dasjenige Parteivorbringen, das aus dem Tatbestand des Berufungsurteils oder dem Sitzungsprotokoll ersichtlich ist, § 561 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Insofern könnten Bedenken bestehen, weil der Kläger in den Tatsacheninstanzen nur geltend gemacht hat, hinsichtlich der Kündigungsfrist sei jedenfalls für langjährig beschäftigte Arbeitnehmer kein Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten zu machen, so daß die gesetzlichen Fristen gälten, mithin die Kündigung frühestens zum 31. Oktober 1995 zulässig sei. Auf den Einwand des Landesarbeitsgerichts (Berufungsurteil S. 17, 18), eine eventuelle Verfassungswidrigkeit der Kündigungsfristen für Arbeiter führe nicht automatisch zur Verfassungswidrigkeit auch der Kündigungsfristen für Angestellte nach dem MTV Angestellte, geht die Revision nicht weiter ein, sondern macht nunmehr geltend, die in Rede stehende Bestimmung des § 14 MTV Angestellte vom 17. Dezember 1985 enthalte keine konstitutive, sondern nur eine deklaratorische Verweisung auf den Gesetzestext, so daß aufgrund der Änderung des § 622 BGB nunmehr dessen Regelungen in der ab 7. Oktober 1993 geltenden Neufassung anzuwenden seien. Da der Kläger zumindest in der Berufungsinstanz die Einhaltung der gesetzlichen Kündigungsfristen – wenn auch mit einer anderen Begründung – für sich reklamiert hat, hat sich das Klagebegehren im Grunde nicht geändert, vielmehr ist nur eine andere „Anspruchsgrundlage” angeführt worden. Damit liegt keine Klageänderung in der Revisionsinstanz vor, die durch § 561 ZPO versperrt wäre (vgl. Senatsurteil vom 25. Juni 1981 – 2 AZR 219/79 – AP Nr. 1 zu § 256 ZPO 1977, zu 1 der Gründe; BAG Urteil vom 6. September 1988 – 3 AZR 141/87 – AP Nr. 9 zu § 9 BetrAVG; BGHZ 26, 31, 37; BGHZ 28, 131, 137; BGH Urteil vom 28. Februar 1991 – I ZR 94/89 – NJW RR 1991, 1136, 1137; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 55. Aufl., § 561 Rz 5; Zöller/Gummer, ZPO, 20. Aufl., § 561 Rz 10). Nach dieser Rechtsprechung ist darauf abzustellen, daß in der Revisionsinstanz eine Änderung der tatsächlichen Grundlage des Klagevorbringens nicht erfolgen darf. An der tatsächlichen Grundlage des Klagevorbringens, nämlich daß statt der tariflichen Kündigungsfrist die gesetzliche Kündigungsfrist für den Monat Oktober 1995 beansprucht wird, hat sich nichts geändert.

Keine Einschränkungen im Hinblick auf § 561 ZPO bestehen insoweit auch im Hinblick auf das mit der Revisionserwiderung eingeführte neue und unstreitige Vorbringen, wonach der Wortlaut der maßgeblichen Vorschrift des MTV Angestellte mit der Neufassung vom 4. April 1996 möglicherweise geändert worden ist. Insofern geht es nur um eine Frage der Rechtsanwendung; es gilt § 293 ZPO (siehe auch Senatsurteil vom 4. März 1993 – 2 AZR 355/92 – AP Nr. 40 zu § 622 BGB, zu II 2 b der Gründe, m.w.N.), wonach die Gerichte das anzuwendende statutarische Recht, wozu auch die Tarifverträge gehören, von Amts wegen zu ermitteln haben.

2. Die Revision ist jedoch in der Sache selbst nicht begründet. Die Beklagte hat dem Kläger mit der zutreffenden Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Quartal gekündigt. Diese Kündigungsfrist entspricht § 14 Nr. 2 des Manteltarifvertrages für die Angestellten der Textilindustrie in Westfalen/Osnabrück vom 17. Dezember 1985 ebenso wie § 11 des Manteltarifvertrages für die Angestellten in der Fassung vom 4. April 1996 (MTV Angestellte).

a) Zuzugeben ist der Revision, daß der MTV in der ursprünglichen Fassung nur eine sog. deklaratorische Verweisung auf den Gesetzestext des bei Abschluß des Tarifvertrages geltenden Gesetzes über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 19. Juli 1926 enthielt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. u.a. Senatsurteile vom 5. Oktober 1995 – 2 AZR 1028/94 – AP Nr. 48 zu § 622 BGB, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen und zuletzt vom 26. Juni 1997 – 2 AZR 759/96 – nicht veröffentlicht, zu II 2 der Gründe, m.w.N.) ist bei Tarifverträgen jeweils durch Auslegung zu ermitteln, inwieweit die Tarifvertragsparteien eine selbständige, d.h. in ihrer normativen Wirkung von der außertariflichen Norm unabhängige eigenständige Regelung treffen wollten. Dieser Wille muß im Tarifvertrag einen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden haben; das ist regelmäßig anzunehmen, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung treffen oder eine gesetzliche Regelung übernehmen, die sonst nicht für die betroffenen Arbeitsverhältnisse gelten würde. Für einen rein deklaratorischen Charakter der Übernahme spricht hingegen, wenn einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert übernommen werden. In einem derartigen Fall ist bei Fehlen gegenteiliger Anhaltspunkte davon auszugehen, daß es den Tarifvertragsparteien bei der Übernahme des Gesetzestextes darum gegangen ist, im Tarifvertrag eine unvollständige Darstellung der Rechtslage zu vermeiden; sie haben dann die unveränderte gesetzliche Regelung im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit deklaratorisch in den Tarifvertrag aufgenommen, um die Tarifgebundenen möglichst umfassend über die zu beachtenden Rechtsvorschriften zu unterrichten.

Davon ist auch für den in Rede stehenden MTV auszugehen: Das erwähnte Gesetz über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 9. Juli 1926 war ohnehin nicht tarifdispositiv gestaltet (vgl. BAGE 1, 14; 7, 395; Hueck/Nipperdey, Arbeitsrecht, 7. Aufl., 1. Bd, § 58 IV 1; Staudinger/Neumann, BGB, 12. Aufl., Vorbemerkung zu § 620 Rz 118, m.w.N.; Soergel/Kraft, BGB, 11. Aufl., § 622 Rz 19); § 622 Abs. 3 BGB a.F. enthielt insoweit nur eine Öffnungsklausel zugunsten abweichender tariflicher Vorschriften für Arbeiter, nicht dagegen für Angestellte. Bereits diese gesetzliche Ausgangslage spricht dafür, daß die Tarifpartner vorliegend keine eigenständige Regelung getroffen, sondern nur den ohnehin zwingenden Gesetzeswortlaut aus Gründen der vollständigen Darstellung der Rechtslage in ihren Tarifvertrag übernommen haben. Dem entspricht es, daß in § 14 Nr. 1 MTV ausdrücklich auf die gesetzlichen Bestimmungen verwiesen wird und daß in § 14 Nr. 2 das Gesetz über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 9. Juli 1926 angesprochen und die nach diesem Gesetz geltenden, verlängerten Kündigungsfristen nach Vollendung des 25. Lebensjahres wörtlich aufgeführt werden.

Mit dem Außerkrafttreten des Gesetzes über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 9. Juli 1926 aufgrund Art. 7 des Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz) vom 7. Oktober 1993 (BGBl. 1993, S. 1668) am 7. Oktober 1993 war daher der Hinweis in § 14 Nr. 2 MTV auf das früher geltende Gesetz gegenstandslos geworden mit der Folge, daß nunmehr – vorbehaltlich einer neuen Tarifregelung (vgl. dazu nachfolgend zu b) – das neue Recht des § 622 BGB n.F. an die Stelle des alten Rechts trat. Gerade wegen der deklaratorischen Verweisung in § 14 Nr. 2 MTV läßt sich auch nicht argumentieren, die in § 14 Nr. 2 MTV aufgeführten verlängerten Kündigungsfristen bestünden nunmehr nach Änderung des Gesetzesrechts in Anwendung des § 622 Abs. 4 BGB n.F. gleichsam automatisch als konstitutive Regelungen weiter.

b) Die verlängerten Kündigungsfristen sind jedoch aufgrund des MTV Angestellte in der Fassung vom 4. April 1996 rückwirkend, und zwar nunmehr als von § 622 Abs. 2 BGB n.F. zulässigerweise abweichende Regelungen in Kraft getreten. Gegen die rückwirkende Übernahme der früheren gesetzlichen Kündigungsfristen für Angestellte bestehen im vorliegenden Fall keine Bedenken. Denn in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. vor allem Grundsatzurteil vom 23. November 1994 – 4 AZR 879/93BAGE 78, 309, 326 f. = AP Nr. 12 zu § 1 TVG Rückwirkung, zu II 2 c cc der Gründe, m.w.N.; bestätigt durch Urteil vom 25. September 1996 – 4 AZR 209/95 – AP Nr. 30 zu § 5 TVG, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) ist anerkannt, daß Tarifverträge auch während ihrer Laufzeit den immanenten Vorbehalt ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit in sich tragen.

aa) Der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat (aaO) entschieden, daß auch ein zugunsten des Arbeitnehmers entstandener Besitzstand, der aus einer kollektiven Norm erwachsen ist, die Schwäche in sich trägt, in den durch den Grundsatz des Vertrauensschutzes gezogenen Grenzen zum Nachteil des Arbeitnehmers geändert zu werden. Er hat dazu ausgeführt, der zeitliche Geltungsbereich stehe zur Disposition der Tarifparteien: Ebenso wie sie vereinbaren könnten, daß ein Tarifvertrag nicht mit sofortiger Wirkung, sondern zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt in Kraft trete, könnten sie sein Inkrafttreten auf einen in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt datieren; es bedürfe keiner besonderen Ermächtigung der Tarifparteien zur Rechtssetzung mit rückwirkender Kraft. Wenn aber kollektiv-vertragliche Regelungen die Schwäche der rückwirkenden Abänderbarkeit durch eine gleichrangige Norm in sich trügen, sei die Schwäche auch den aus ihnen entstandenen Ansprüchen immanent; diese stünden somit unter dem „immanenten Vorbehalt” ihrer rückwirkenden Abänderbarkeit. Die Befugnis zur normativen Ordnung der vertraglichen Beziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber habe der Gesetzgeber den Tarifparteien übertragen, weil er davon ausgehe, daß sie in der Lage seien, die Belange der dieser Sonderrechtsordnung Unterworfenen zu wahren; es sei kein Grund ersichtlich, diese Befugnis der Tarifparteien dadurch zu beschränken, indem man ihnen die Kontrolle der Anpassung ihrer Sonderrechtsordnung an die weitere Entwicklung entziehe; der Ausschluß der Befugnis, einen bereits entstandenen Besitzstand rückwirkend herabzusetzen, wäre ein solcher Eingriff in die Gestaltungsbefugnis der Tarifparteien.

bb) Diesen grundsätzlichen Erwägungen schließt sich der Senat an. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, daß die Tarifvertragsparteien mit § 11 Nr. 2 MTV Angestellte die früher im Tarifvertrag nur deklaratorisch aufgeführten verlängerten Kündigungsfristen nunmehr konstitutiv, und zwar abweichend von § 622 Abs. 2 BGB geregelt haben, was § 622 Abs. 4 BGB zuläßt. Die rückwirkende Regelung folgt, wie die Revisionserwiderung zutreffend anmerkt, bereits daraus, daß die tarifliche Regelung noch während der Laufzeit des MTV Angestellte vereinbart wurde, ohne daß von der in § 22 MTV Angestellte vorgesehenen Kündigungsmöglichkeit Gebrauch gemacht wurde. Nach § 22 MTV Angestellte trat der Tarifvertrag am 1. Januar 1986 in Kraft. Da die Tarifpartner keine ausdrücklichen Regelungen über das Inkrafttreten der Neufassung getroffen haben – auch Protokolle liegen dazu ersichtlich nicht vor –, ist davon auszugehen, daß sie mit der inhaltsgleichen Übernahme des früheren, an dem Gesetz vom 9. Juli 1926 orientierten, Wortlauts in die jetzige Tarifregelung einen „nahtlosen” Anschluß an die mit dem Inkrafttreten des Kündigungsfristengesetzes gegenstandslos gewordene frühere Tarifregelung erreichen wollten. Daran hat sich entgegen der Meinung der Revision auch nicht dadurch etwas geändert, daß nach ihrer Darstellung anläßlich der Tarifvereinbarung über Jahresarbeitszeit und Arbeitszeitgestaltung die Kündigungsfristenregelung angeblich nicht Gegenstand der Verhandlungen war. Denn es fällt immerhin auf, daß der obsolet gewordene Hinweis auf das Kündigungsschutzgesetz von 1926 in der Neufassung des MTV Angestellte entfallen ist. Es liegt daher nicht nur eine redaktionelle Anpassung vor. Vielmehr geht der Senat, weil ergänzende Anmerkungen oder Protokollerklärungen der Tarifvertragspartner insoweit nicht vorliegen, davon aus, daß aufgrund des geänderten Wortlauts eine bewußte und gewollte Bestätigung der alten Kündigungsfristenregelung durch die Neufassung des MTV Angestellte vom 4. April 1996 erfolgt ist, was zu deren (Fort-)Geltung führt.

cc) Einen Vertrauensschutz, daß nach dem Außerkrafttreten des Gesetzes vom 9. Juli 1926 die gesetzlichen Kündigungsfristen für ihn galten, kann der Kläger nicht in Anspruch nehmen. Der Kläger als von der tariflichen Neuregelung nachträglich Betroffener erscheint deshalb nicht schutzwürdig, weil seit dem Außerkrafttreten des Gesetzes vom 9. Juli 1926 für den in Rede stehenden MTV Angestellte mit einer tariflichen Neuregelung zu rechnen war. Außerdem war die Rechtslage nach dem Außerkrafttreten des Gesetzes vom 9. Juli 1926 unklar (deklaratorische oder konstitutive Verweisung im MTV auf den damaligen Gesetzestext). Immerhin hat der Senat erst mit Urteil vom 5. Oktober 1995 (– 2 AZR 1028/94 – AP Nr. 48 zu § 622 BGB) deutlich zur Kündigungsfristenregelung im Sächsischen Metalltarifvertrag herausgestellt, würden einschlägige gesetzliche Vorschriften wörtlich oder inhaltlich unverändert in einen umfangreichen Tarifvertrag aufgenommen, so handele es sich um deklaratorische Klauseln, wenn der Wille der Tarifvertragsparteien zu einer gesetzesunabhängigen eigenständigen Tarifregelung im Tarifvertrag keinen hinreichend erkennbaren Ausdruck gefunden habe. Hierauf braucht aber nicht einmal entscheidend abgestellt zu werden. Denn jedenfalls der Kläger hat nicht zeitlich vor der tariflichen Neuregelung vom 4. April 1996, die zu einer Bestätigung der alten Kündigungsfristenregelung führte, auf eine andere Regelung vertraut. Das hat der Prozeßverlauf deutlich gezeigt. Der Kläger wird auch durch die rückwirkende Änderung des MTV Angestellte nicht schlechter gestellt als nach der bis 7. Oktober 1993 geltenden Rechtslage.

 

Unterschriften

Etzel, Bitter, Bröhl, Fischer, Baerbaum

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1126997

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