Entscheidungsstichwort (Thema)

Ortszuschlag. Grundwehrdienst leistender Sohn

 

Orientierungssatz

1. Angestellte, die eine andere Person nicht nur vorübergehend in ihre Wohnung aufgenommen haben und ihr Unterhalt gewähren, weil sie gesetzlich oder sittlich dazu verpflichtet sind, haben nach § 29 Abschnitt B Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 BAT-O Anspruch auf Ortszuschlag der Stufe 2. Für die gesetzliche Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung sind die Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches maßgebend.

2. Der Angestellte ist regelmäßig nicht gesetzlich dazu verpflichtet, einem erwachsenen Sohn während der Grundwehrdienstzeit Barunterhalt zu gewähren. Der Unterhalt des wehrpflichtigen Soldaten ist auf Grund der ihm nach soldatenrechtlichen Vorschriften zustehenden Geld- und Sachbezüge gedeckt.

3. Eine sittliche Verpflichtung des Angestellten zur Gewährung von Unterhalt iSv. § 29 Abschnitt B Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 BAT-O kommt in der Regel nur gegenüber Personen in Betracht, denen gegenüber keine Rechtspflicht zur Gewährung von Unterhalt besteht. Ist ein Angestellter einem Verwandten in gerader Linie nach § 1601 BGB mangels Bedürftigkeit (§ 1602 Abs. 1 BGB) nicht zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, kann eine sittliche Verpflichtung zu Unterhaltsleistungen nur aus besonderen Umständen des Einzelfalles erwachsen.

 

Normenkette

BGB § 611 Abs. 1, §§ 1601-1602, 1610 Abs. 1, 1 Abs. 2, § 1612 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Sätze 1-2; Soldatengesetz § 30 Abs. 1 Sätze 1-2, § 31 S. 2; Wehrsoldgesetz §§ 4-5; BAT-O § 26 Abs. 1, § 29

 

Verfahrensgang

ArbG Berlin (Urteil vom 01.11.2002; Aktenzeichen 91 Ca 5663/02)

 

Tenor

1. Die Sprungrevision der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 1. November 2002 – 91 Ca 5663/02 – wird zurückgewiesen.

2. Die Klägerin hat die Kosten der Sprungrevision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe des Ortszuschlags.

Die Klägerin ist beim beklagten Land als Angestellte beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach den Bestimmungen des Tarifvertrags zur Anpassung des Tarifrechts – Manteltarifrechtliche Vorschriften – (BAT-O) vom 10. Dezember 1990. Danach bemisst sich die Vergütung eines Angestellten nach der Grundvergütung und einem Ortszuschlag (§ 26 BAT-O). Die Höhe des Ortszuschlags richtet sich nach § 29 Abschnitt B entsprechend den Familienverhältnissen des Angestellten nach Stufen. Dazu ist im BAT-O im Einzelnen bestimmt:

㤠29 Ortszuschlag.

B. Stufen des Ortszuschlages

(2) Zur Stufe 2 gehören

4. andere Angestellte, die eine andere Person nicht nur vorübergehend in ihre Wohnung aufgenommen haben und ihr Unterhalt gewähren, weil sie gesetzlich oder sittlich dazu verpflichtet sind oder aus beruflichen oder gesundheitlichen Gründen ihrer Hilfe bedürfen. Dies gilt bei gesetzlicher oder sittlicher Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung nicht, wenn für den Unterhalt der aufgenommenen Person Mittel zur Verfügung stehen, die, bei einem Kind einschließlich des gewährten Kindergeldes und des kinderbezogenen Teils des Ortszuschlages, das Sechsfache des Unterschiedsbetrages zwischen der Stufe 1 und der Stufe 2 des Ortszuschlages der Tarifklasse I c übersteigen. …”

Die Klägerin lebt mit ihrem Sohn in häuslicher Gemeinschaft. Das beklagte Land zahlte ihr bis zum 30. Juni 2001 Ortszuschlag der Stufe 2. Während des Grundwehrdienstes ihres Sohnes vom 1. Juli 2001 bis zum 31. März 2002 erhielt die Klägerin Ortszuschlag der Stufe 1. Für diesen Zeitraum verlangte sie die Zahlung des Differenzbetrages zwischen den Stufen 1 und 2 von insgesamt 935,50 Euro.

Die Klägerin hat gemeint, ihr habe der Ortszuschlag der Stufe 2 auch während der Grundwehrdienstzeit ihres Sohnes zugestanden. Sie habe ihrem Sohn Unterhalt gewährt. Dieser habe weiterhin bei ihr gewohnt. Zur Unterhaltsgewährung sei sie gesetzlich, jedenfalls aber sittlich verpflichtet gewesen.

Die Klägerin hat beantragt,

das beklagte Land zu verurteilen, an sie 935,50 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 16. März 2002 zu zahlen.

Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der zugelassenen Sprungrevision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter. Das beklagte Land beantragt, die Sprungrevision der Klägerin zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Sprungsrevision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Die Klägerin hat nach § 611 Abs. 1 BGB iVm. § 26 Abs. 1 und § 29 BAT-O für die Dauer des Grundwehrdienstes ihres Sohnes keinen Anspruch auf Ortszuschlag der Stufe 2. Sie war im Anspruchszeitraum zwar „andere Angestellte” iSv. § 29 Abschnitt B Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 BAT-O (BAG 16. September 1993 – 6 AZR 78/93 – AP BAT § 29Nr. 10, zu II 1 der Gründe; 21. Januar 1988 – 6 AZR 567/86 – BAGE 57, 218, 222) und hatte ihren Sohn auch in ihre Wohnung aufgenommen. Dem Anspruch steht jedoch entgegen, dass sie ihrem Sohn während des Grundwehrdienstes weder gesetzlich noch sittlich zur Unterhaltsgewährung verpflichtet war.

1. Bei der Beurteilung, ob der Angestellte gemäß § 29 Abschnitt B Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 BAT-O einer anderen Person Unterhalt gewährt, weil er dazu gesetzlich verpflichtet ist, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (16. September 1993 – 6 AZR 78/93 – AP BAT § 29 Nr. 10, zu II 2 a der Gründe;21. Januar 1988 – 6 AZR 567/86 – BAGE 57, 218, 222; 24. Januar 1984 – 3 AZR205/82 – BAGE 45, 36, 41, 47) vom Unterhaltsbegriff des Bürgerlichen Gesetzbuches und seinen gesetzlichen Bestimmungen über den Unterhalt unter Verwandten auszugehen.

a) Verwandte in gerader Linie sind nach § 1601 BGB verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Das Maß des zu gewährenden Unterhalts bestimmt sich gemäß § 1610 Abs. 1 BGB nach der Lebensstellung des Bedürftigen. Der Unterhalt umfasst den gesamten Lebensbedarf (§ 1610 Abs. 2 BGB). Nach § 1612 Abs. 1 Satz 1 BGB ist der Unterhalt grundsätzlich durch Entrichtung einer Geldrente zu gewähren. § 1612 Abs. 2 Satz 1 BGB schränkt diesen Grundsatz bei unverheirateten Kindern dahin ein, dass die Eltern eine andere Art des Unterhalts bestimmen können. Liegen keine besonderen Gründe vor (§ 1612 Abs. 2 Satz 2 BGB), kann der Unterhalt auch in Natur geleistet werden. Ungeachtet dieses elterlichen Bestimmungsrechts kann der Anspruch eines volljährigen Kindes nicht mehr allein durch persönliche Betreuung erfüllt werden. Vielmehr wird der Unterhaltsbedarf mit zunehmenden Alter von einem Betreuungsbedarf in einen Barbedarf überführt. An dieser gesetzlichen Wertung haben die Tarifvertragsparteien die unterhaltsbezogenen Vergütungsbestandteile ausgerichtet (vgl. BAG 16. September 1993 – 6 AZR 78/93 – AP BAT § 29 Nr. 10, zu II 2 a derGründe; 24. Januar 1984 – 3 AZR 198/83 – BAGE 45, 48, 54, 55).

b) Für die Dauer des Grundwehrdienstes war die Klägerin gesetzlich nicht verpflichtet, ihrem Sohn Unterhalt zu gewähren. Dieser war nicht unterhaltsberechtigt. Nach § 1602 BGB ist unterhaltsberechtigt, wer außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten. Daran fehlte es. Der Unterhalt des Sohnes der Klägerin war während der Wehrdienstzeit auf Grund der einem wehrpflichtigen Soldaten zustehenden gesetzlichen Leistungen gedeckt (BAG 16. September 1993 – 6 AZR 78/93 – AP BAT § 29Nr. 10; BGH 29. November 1989 – IVb ZR 16/89 – NJW 1990, 713). Dafür hatte nach § 31 Satz 2 des Soldatengesetzes (SG) der Bund zu sorgen. Wehrdienstleistende haben nach § 30 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 SG Anspruch auf Geld- und Sachbezüge sowie unentgeltliche truppenärztliche Versorgung. Ihnen werden nach § 4 des Wehrsoldgesetzes die Unterkunft und nach § 5 des Wehrsoldgesetzes Dienstbekleidung und Ausrüstung unentgeltlich bereitgestellt. Mit diesen Leistungen wird ihr Unterhalt gesichert (BAG 16. September 1993 – 6 AZR 78/93 – AP BAT § 29 Nr. 10; BGH29. November 1989 – IVb ZR 16/89 – NJW 1990, 713). Ein weitergehender, gesetzlich anerkannter Unterhaltsbedarf des Wehrdienstleistenden besteht nicht. Das schließt eine gesetzliche Unterhaltspflicht der Eltern nach § 1601 BGB aus.

c) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist ohne Bedeutung, dass ihr Sohn während des Wehrdienstes bei ihr gewohnt hat. Für den Anspruch auf den erhöhten Ortszuschlag der Stufe 2 nach § 29 Abschnitt B Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 BAT-O ist die Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung maßgebend. Ohne eine solche Verpflichtung begründet allein das Vorhalten von Wohnraum, das ohnehin Voraussetzung für die tatsächliche Aufnahme der anderen Person in der Wohnung des Angestellten ist, oder das Erbringen tatsächlicher Unterhaltsleistungen keinen Anspruch auf diesen Ortszuschlag. Die Tarifvertragsparteien haben in § 29 Abschnitt B Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 BAT-O für den Anspruch auf den erhöhten Ortszuschlag der Stufe 2 neben einer Aufnahme in die Wohnung zusätzlich auf eine gesetzliche Unterhaltsverpflichtung abgestellt. Sie wollten damit einem Angestellten, der eine andere Person in seine Wohnung aufnimmt, alleine deswegen noch keine Vorteile verschaffen. Nach dem Willen der Tarifvertragsparteien muss eine Unterhaltspflicht hinzukommen. Das verdeutlicht der Zweck dieser Leistung. Der erhöhte Ortszuschlag soll zum Ausgleich von Nachteilen beitragen, die in unterhaltsbezogenen wirtschaftlichen Belastungen ihren Grund haben und ihren Maßstab finden (vgl. BAG 24. Januar 1984 – 3 AZR 198/83 – BAGE 45, 48, 55 mwN). Ist der Angestellte nicht mit einer solchen Unterhaltsverpflichtung belastet, kann er den erhöhten Ortszuschlag der Stufe 2 nicht beanspruchen.

d) Die Annahme der Klägerin, der Senat habe in der Entscheidung vom 16. September 1993 (– 6 AZR 78/93 – AP BAT § 29 Nr. 10) im vergleichbaren Fall eines Zivildienstleistenden übersehen, dass Volljährigen vorrangig Barunterhalt und nicht mehr Betreuungsunterhalt zu gewähren sei, trifft nicht zu. Der Senat hat ausdrücklich angenommen, dass ein Barbedarf des Zivildienstleistenden grundsätzlich nicht besteht, weil dieser in entsprechender Anwendung der Bestimmungen des Soldatengesetzes Anspruch auf Geld- und Sachbezüge hat.

2. Ohne Erfolg beruft sich die Klägerin auf eine sittliche Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung.

a) Der auf dem Verwandtschaftsverhältnis beruhende gesetzliche Unterhaltsanspruch ist im Wesentlichen auch sittlich begründet (Palandt/Diederichsen BGB 62. Aufl. Einf v § 1601 BGB Rn. 1). Ist ein Verwandter in gerader Linie nach § 1601 BGB mangels eigener Leistungsfähigkeit oder mangels Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten (§ 1602 Abs. 1 BGB) nicht gesetzlich zur Gewährung von Unterhalt verpflichtet, ist eine sittliche Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung iSv. § 29 Abschnitt B Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 BAT-O regelmäßig ausgeschlossen. Eine sittliche Pflicht zur Unterhaltsgewährung kommt in der Regel nur gegenüber Personen in Betracht, denen gegenüber keine gesetzliche Pflicht zur Gewährung von Unterhalt besteht.

b) Die sittliche Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung setzt voraus, dass der Entzug der Unterhaltsleistungen nach dem Urteil aller billig und gerecht Denkenden gegen ein Gebot des Anstandes verstoßen würde (BVerwG 13. September 1990 – 2 C4.88 – EzBAT BAT § 29 Nr. 14). Damit erfordert eine solche Pflicht, dass im Unterlassensfall dem Angestellten sittliches Fehlverhalten vorgeworfen werden könnte und dieser sich deshalb zur Gewährung von Unterhalt gehalten sieht. Sittlich zu billigende oder besonders anerkennenswerte Gründe reichen hierfür nicht aus (BFH 12. Dezember2002 – III R 25/01 – BFHE 201, 188; 30. Oktober 2003 – III R 23/02DStR 2004, 217). Das sittliche Gebot muss ähnlich einem Rechtszwang von außen her als eine konkrete Erwartung der Gesellschaft in der Weise in Erscheinung treten, dass die Nichtgewährung von Unterhalt Nachteile im sittlich-moralischen Bereich oder auf gesellschaftlicher Ebene zur Folge haben kann (BFH 12. Dezember 2002 – III R 25/01 – aaO). Der Vorwurf sittlichen Fehlverhaltens wegen unterlassener Unterhaltsgewährung scheidet regelmäßig aus, wenn ein Dritter kraft Gesetzes unterhaltspflichtig ist und der geschuldete Unterhalt auch verwirklicht werden kann (vgl. BVerwG 13. September 1990 – 2 C4.88 – aaO). Diese Grundsätze gelten auch bei der Anwendung des § 29 Abschnitt B Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 BAT-O, wenn der Angestellte für den Anspruch auf den erhöhten Ortszuschlag auf eine sittliche Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung verweist (vgl. BAG 16. September 1993 – 6 AZR 78/93 – AP BAT § 29 Nr. 10, zu II 3 a der Gründe;24. Januar 1984 – 3 AZR 205/82 – BAGE 45, 36, 47).

c) Besteht kein Unterhaltsbedarf eines erwachsenen Kindes gegenüber seinen Eltern, kann sich deren sittliche Verpflichtung zum Unterhalt nur aus besonderen Umständen des Einzelfalles ergeben. Das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalles hat das Arbeitsgericht mit Recht verneint. Für das Wohl des Sohnes der Klägerin hatte während des Grundwehrdienstes der Bund zu sorgen. Im Einzelnen standen dem Sohn der Klägerin Wehrsold, besondere Zuwendungen, Verpflegung, Heilfürsorge, Dienstbekleidung und Unterkunft zu. Diese gesetzlichen Leistungen deckten seinen notwendigen Unterhaltsbedarf. Die Klägerin hätte mit einem Entzug von Leistungen an ihren Sohn deshalb nicht gegen das Gebot des Anstandes verstoßen. Es ist zwar achtens- und anerkennenswert, wenn Eltern wehr- oder zivildienstleistende Kinder finanziell unterstützen und weiterhin bei sich wohnen lassen. Für die in § 29 Abschnitt B Abs. 2 Nr. 4 Satz 1 BAT-O vorausgesetzte sittliche Verpflichtung zur Gewährung von Unterhalt reicht das jedoch nicht aus.

 

Unterschriften

Schmidt, Dr. Armbrüster, Brühler, Schipp, Klapproth

 

Fundstellen

Haufe-Index 1153745

NWB 2004, 2139

NZA 2004, 751

ZTR 2004, 422

AP, 0

NJOZ 2004, 2420

Tarif aktuell 2004, 9

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