Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegfall der Tarifbindung infolge Verbandsaustritts

 

Leitsatz (redaktionell)

§ 4 Abs 5 TVG (Nachwirkung von Tarifverträgen) ist auf jeden Fall des Wegfalls der Tarifbindung anzuwenden.

 

Normenkette

TVG § 3 Abs. 3, § 4 Abs. 5

 

Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 07.06.1991; Aktenzeichen 15 Sa 18/91)

ArbG Stuttgart (Entscheidung vom 30.01.1991; Aktenzeichen 3 Ca 4941/90)

 

Tatbestand

Die Klägerin ist die Witwe des am 11. Mai 1990 verstorbenen Dieter N (nachfolgend: Erblasser), der bei der Beklagten seit 1964 bis zu seinem Tode als kaufmännischer Angestellter beschäftigt war. Der Erblasser war Mitglied der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall), die Beklagte bis zu ihrem Austritt zum 31. Dezember 1988 Mitglied des Landesverbandes mechanischer Metallhandwerke Baden-Württemberg.

Die IG Metall hat mit dem Landesverband mechanischer Metallhandwerke Baden-Württemberg am 4. Dezember 1985 einen Manteltarifvertrag für Arbeiter und Angestellte im Mechaniker-Handwerk in Baden-Württemberg (nachfolgend: MTV 1986) abgeschlossen, unter dessen Geltungsbereich der Erblasser und die Beklagte fielen. Der MTV 1986 sah u.a. beim Tode eines Arbeitnehmers für die unterhaltsberechtigten Angehörigen einen Unterstützungsanspruch gegen den Arbeitgeber vor.

Die IG Metall kündigte mit Schreiben vom 16. September 1988 mit Wirkung zum 31. Dezember 1988 die tariflichen "Bestimmungen für die Arbeitszeit" des MTV 1986. Die Möglichkeit einer solchen Teilkündigung war im MTV 1986 ausdrücklich vorgesehen. Am 2. Februar 1989 schlossen daraufhin die Tarifvertragsparteien einen Manteltarifvertrag für Arbeiter und Angestellte im Mechaniker-Handwerk in Baden-Württemberg (nachfolgend: MTV 1989), der in den §§ 7 bis 9 (Arbeitszeit), § 11 (Entgeltzahlung), §§ 12.3.1, 12.3.2 (Lohn- und Gehaltsfortzahlung im Krankheitsfall) sowie § 21 (Inkrafttreten, Außerkrafttreten und Kündigung des Tarifvertrags) vom MTV 1986 abweichende Regelungen enthält, jedoch im übrigen mit diesem wörtlich übereinstimmt.

Die Klägerin macht gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zahlung einer Unterstützung bei Todesfall gemäß § 13.3 MTV 1986 in unstreitiger Höhe von 16.942,50 DM geltend. Sie hat vorgetragen, der MTV 1986 habe bis zum 11. Mai 1990 auf das zwischen der Beklagten und dem Erblasser bestehende Arbeitsverhältnis Anwendung gefunden. Der Verbandsaustritt der Beklagten zum 31. Dezember 1988 habe hieran nichts geändert, da gemäß § 3 Abs. 3 TVG die Tarifbindung bis zur Beendigung des Tarifvertrags bestehen bleibe. Der MTV 1986 habe aber weder aufgrund der Teilkündigung durch die IG Metall noch aufgrund der Änderung der arbeitszeitlichen Bestimmungen durch den MTV 1989 geendet.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin

16.942,50 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich

daraus ergebenden Nettobetrag seit Rechtshängig-

keit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, sie sei nicht mehr an den MTV 1986 gebunden. Der MTV 1989 habe den MTV 1986 vollständig ersetzt.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben.

Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage mit Recht stattgegeben. Die Klägerin kann von der Beklagten die Zahlung von 16.942,50 DM brutto nebst Zinsen verlangen. Denn die Beklagte schuldet der Klägerin "Unterstützung bei Todesfall" nach § 13.3 MTV 1986. Diese tarifliche Bestimmung fand beim Tode des Erblassers auf das Rechtsverhältnis der Parteien Anwendung. Die Höhe der Klageforderung ist unstreitig.

Der MTV 1986 galt bis 31. Dezember 1988 für das Arbeitsverhältnis zwischen dem Erblasser und der Beklagten kraft beiderseitiger Verbandszugehörigkeit mit unmittelbarer und zwingender Wirkung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG).

Für die Klageforderung ist die Bestimmung des § 13.3 MTV 1986 heranzuziehen, die u.a. vorsieht:

"Unterstützung bei Todesfall

Beim Tode eines Arbeitnehmers gewährt der Arbeit-

geber an unterhaltsberechtigte Angehörige eine

Unterstützung in Höhe des Lohnes/Gehaltes für die

Dauer von 1 1/2 Monaten,

...

nach zehnjähriger Betriebszugehörigkeit für die

Dauer von drei Monaten, gerechnet vom Todestage

an.

..."

Diese Tarifvorschrift war auch nach dem Verbandsaustritt der Beklagten zumindest kraft Nachwirkung auf das Arbeitsverhältnis zwischen dem Erblasser und der Beklagten anwendbar und galt insoweit noch beim Tode des Erblassers (§ 4 Abs. 5 TVG). Nach § 4 Abs. 5 TVG gelten die Rechtsnormen eines Tarifvertrags nach seinem Ablauf weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Unter "Ablauf" ist nach dem Wortsinn zwar nur die Beendigung des Tarifvertrags in zeitlicher Hinsicht zu verstehen (Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl. 1977, § 4 Rz 181 in Verb. mit Rz 8). Nach Sinn und Zweck der Vorschrift ist sie aber auf jeden Fall des Wegfalls der Tarifbindung entsprechend anzuwenden, d. h. auch auf den Wegfall der Tarifbindung infolge Verbandsaustritts im Sinne des § 3 Abs. 3 TVG (Wiedemann/Stumpf, aaO, § 3 Rz 38, § 4 Rz 188; Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, TVG, 2. Aufl., § 3 Rz 27). § 4 Abs. 5 TVG hat eine Ordnungsfunktion. Der Gesetzgeber wollte mit dieser Vorschrift ersichtlich erreichen, daß die Arbeitsverhältnisse auch nach Beendigung des Tarifvertrags nicht inhaltsleer werden oder durch dispositives Gesetzesrecht ergänzt werden müssen, sondern daß der Tarifvertrag weiterwirkt, bis eine andere kollektiv- oder einzelvertragliche Abrede an seine Stelle tritt (Wiedemann/Stumpf, aaO, § 4 Rz 185). Die Arbeitsbedingungen sollen auch nach Beendigung eines Tarifvertrags für alle Beteiligten überschaubar sein. Das liegt im Interesse beider Arbeitsvertragsparteien. Dann kann es aber nicht darauf ankommen, aus welchen Gründen im Einzelfall bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis die Tarifbindung entfällt.

Geht man davon aus, daß der MTV 1986 durch den MTV 1989, den die Tarifvertragsparteien am 2. Februar 1989 insgesamt neu abgeschlossen haben, abgelöst wurde, ist der MTV 1986 mit Inkrafttreten des MTV 1989 außer Kraft getreten. Damit hat auch die Tarifbindung der Beklagten nach ihrem Verbandsaustritt geendet (§ 3 Abs. 3 TVG). Die Voraussetzungen für eine Nachwirkung im Sinne des § 4 Abs. 5 TVG sind damit gegeben.

Geht man davon aus, daß der MTV 1989 den MTV 1986 nur hinsichtlich der geänderten Bestimmungen abgelöst hat, der MTV 1986 aber hinsichtlich der übrigen Bestimmungen, also auch hinsichtlich der hier streitigen "Überbrückung bei Todesfall" weitergalt, könnte dies gleichwohl zu einer Beendigung der Tarifbindung im Sinne des § 3 Abs. 3 TVG geführt haben. Aus Gründen der Rechtsklarheit spricht viel dafür, jede Änderung eines Tarifvertrags als Beendigung im Sinne des § 3 Abs. 3 TVG - auch hinsichtlich der unveränderten Bestimmungen - anzusehen (in diesem Sinne: Wiedemann/Stumpf, aaO, § 3 Rz 36; Schaub, Arbeitsrechtshandbuch, 6. Aufl. 1987, § 206 II 1 c, S. 1352; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., Bd. II 1. Halbband, § 23 V 3 b, S. 490 f.; Nikisch, Arbeitsrecht, 2. Aufl., Bd. II, § 71 IV 3 c, S. 272 f.). Damit sind auch für diesen Fall nach Beendigung der Tarifbindung die Voraussetzungen für eine Nachwirkung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG gegeben. Geht man wegen einer teilweisen Weitergeltung des MTV 1986 insoweit von einer fortbestehenden Tarifbindung der Beklagten aus, gelten die unveränderten Vorschriften des MTV 1986 sogar noch mit unmittelbarer und zwingender Wirkung weiter (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG).

Damit kann dahingestellt bleiben, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der MTV 1986 nach Inkrafttreten des MTV 1989 noch weitergalt. Zumindest für das Rechtsverhältnis zwischen dem Erblasser und der Beklagten galten die unveränderten Normen des MTV 1986 - hier: § 13.3 MTV - sei es kraft Tarifbindung, sei es kraft Nachwirkung weiter.

Diese Normen sind bis zum Tode des Erblassers nicht durch eine andere Abmachung im Sinne des § 4 Abs. 5 TVG ersetzt worden. Eine andere Abmachung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG kann durch Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung oder einzelvertragliche Abrede getroffen werden (Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, aaO, § 4 Rz 61). Da der Sinn der Nachwirkung aber in der Verhinderung eines inhaltslosen Arbeitsverhältnisses liegt (vgl. Wiedemann/ Stumpf, aaO, § 4 Rz 185), kann als eine "andere Abmachung" nur eine rechtlich relevante Vereinbarung angesehen werden (vgl. BAGE 29, 182, 188 = AP Nr. 4 zu § 4 BAT). Das ist eine Vereinbarung, die auf das konkrete Arbeitsverhältnis Anwendung findet (vgl. Senatsurteil vom 27. November 1991 - 4 AZR 211/91 -, zur Veröffentlichung vorgesehen). Hieran fehlt es vorliegend. Der MTV 1989 galt wegen fehlender Tarifbindung der Beklagten nicht für das Arbeitsverhältnis zwischen dem Erblasser und der Beklagten. Eine einzelvertragliche Vereinbarung haben der Erblasser und die Beklagte nicht getroffen. Damit ist die Beklagte zur Zahlung der "Unterstützung bei Todesfall" nach § 13.3 MTV 1986 verpflichtet.

Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.

Schaub Schneider Dr. Etzel

Dr. Konow Schwitzer

 

Fundstellen

Haufe-Index 439226

BB 1992, 1213

BB 1992, 1213-1214 (LT1)

DB 1992, 1297 (LT1)

DStR 1992, 624-624 (T)

NZA 1992, 700

NZA 1992, 700-701 (LT1)

RdA 1992, 286

SAE 1993, 132-133 (LT1)

AP § 3 TVG (LT1), Nr 13

AR-Blattei, ES 1550.6 Nr 33 (LT1)

EzA § 4 TVG Nachwirkung, Nr 14 (LT1)

EzBAT § 1 BAT Nachwirkung, Nr 1 (LT1)

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