Entscheidungsstichwort (Thema)

Außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds wegen häufiger Krankheit

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Senat hält an der ständigen Rechtsprechung fest, daß bei der Zumutbarkeitsprüfung nach § 15 Abs 1 Satz 1 KSchG, § 626 Abs 1 BGB auf die (fiktive) Kündigungsfrist abzustellen ist, die ohne den besonderen Kündigungsschutz bei einer ordentlichen Kündigung gelten würde.

2. Das Arbeitsverhältnis eines Betriebsratsmitglieds kann in aller Regel nach § 15 Abs 1 Satz 1 KSchG, § 626 BGB nicht wegen häufiger krankheitsbedingter Fehlzeiten außerordentlich gekündigt werden.

 

Verfahrensgang

LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 05.08.1992; Aktenzeichen 5 Sa 146/92)

ArbG Elmshorn (Urteil vom 25.03.1992; Aktenzeichen 2a Ca 1632/91)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung.

Der am 3. März 1945 geborene, verheiratete, zwei Kindern unterhaltspflichtige Kläger ist Betriebsratsmitglied und seit 1984 bei der Beklagten als Produktionshelfer in der Buchbinderei beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft einzelvertraglicher Bezugnahme der Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Druckindustrie im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (MTV) Anwendung.

Der Kläger war im Jahre 1985 an 14 Arbeitstagen, im Jahre 1986 an 35 Arbeitstagen, im Jahre 1987 an 51 Arbeitstagen, im Jahre 1988 an 35 Arbeitstagen, wobei eine Fehlzeit von 15 Arbeitstagen auf einem Unfall beruhte, im Jahre 1989 an 38 Arbeitstagen, im Jahre 1990 an 115 Arbeitstagen und im Jahre 1991 (bis zum 28. November) an 91 Arbeitstagen arbeitsunfähig erkrankt.

Die Beklagte hatte in dieser Zeit Lohnfortzahlung in folgender Höhe geleistet: Jahr Lohnfortzahlung/DM Sozialversicherung/DM Gesamt/DM 1985 2.166,02 779,75 2.945,77 1986 6.113,46 2.268,08 8.381,54 1987 5.435,70 2.027,17 7.462,87 1988 5.413,71 2.046,36 7.460,07 1989 4.043,40 1.528,39 5.571,79 1990 7.578,00 2.788,72 10.366,72 1991 4.637,63 1.808,69 6.446,32 35.387,92 13.247,16 48.635,08 Mit Schreiben vom 28. November 1991, dem Kläger zugegangen am 2. Dezember 1991, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung, nachdem der Betriebsrat am 27. November 1991 einer außerordentlichen Kündigung zugestimmt hatte.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, es liege weder ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung vor noch habe die Beklagte die Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten.

Der Kläger hat in den Vorinstanzen beantragt,

1. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der

Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom

28. November 1991 nicht aufgelöst ist, sondern

fortbesteht,

2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu un-

veränderten Arbeitsbedingungen als Druckerei-

arbeiter weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hält ihre außerordentliche Kündigung für wirksam. Wegen der krankheitsbedingten Fehlzeiten und der damit verbundenen wirtschaftlichen Belastungen sei es ihr unzumutbar gewesen, das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fortzusetzen. Die Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB habe sie eingehalten, weil ein noch nicht abgeschlossener Dauertatbestand vorgelegen habe. Die Kündigung verstoße auch nicht gegen § 78 Satz 2 BetrVG. Der Kläger werde wegen seiner Mitgliedschaft im Betriebsrat jedenfalls dann nicht benachteiligt, wenn das Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche Kündigung mit einer der vereinbarten Kündigungsfrist entsprechenden Auslauffrist ende.

Das Arbeitsgericht hat der Klage im vollen Umfang stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage mit der Maßgabe abgewiesen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien bis zum 31. Dezember 1991 bestanden habe. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Feststellungsurteils, während die Beklagte Zurückweisung der Revision beantragt. Im Revisionsverfahren haben die Parteien die Weiterbeschäftigungsklage übereinstimmend für erledigt erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Die außerordentliche Kündigung ist unwirksam, weil ein wichtiger Grund im Sinne der § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG, § 626 Abs. 1 BGB fehlt, der es der Beklagten unzumutbar gemacht hat, das Arbeitsverhältnis bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortzusetzen.

I. Das Landesarbeitsgericht hat die außerordentliche Kündigung für wirksam erachtet und seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet:

Tatsachen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung der Kündigungsfrist berechtigen würden, lägen zwar nicht vor. Da wiederholte Erkrankungen aber eine außerordentliche Kündigung aus personenbedingten Gründen rechtfertigen könnten, habe die Beklagte das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund kündigen können, allerdings nur mit einer der tariflichen Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende entsprechenden sozialen Auslauffrist. Nach den vom Bundesarbeitsgericht entwickelten Grundsätzen wäre eine fristgemäße Kündigung wegen häufiger Kurzerkrankungen sozial gerechtfertigt gewesen. Aus der Häufigkeit und der Dauer der Erkrankungen des Klägers in den Jahren 1986 bis 1991 ergebe sich, daß auch künftig mit ähnlich hohen Ausfallzeiten durch Kurzerkrankungen zu rechnen sei. Die Besorgnis erheblicher weiterer Störungen im Betriebsablauf sei gegeben. Der Kläger arbeite in der Buchbinderei der Beklagten als Produktionshelfer. Falle einer der insgesamt fünf Helfer aus, müsse dessen Arbeit von den anderen Helfern miterledigt werden. Unter Umständen müsse ein Produktionshelfer von einer anderen Abteilung abgezogen werden, wodurch dort eine Lücke entstehe. Die aushelfende Tätigkeit der Arbeitskollegen könne Mehrarbeit mit zusätzlichen Kosten zur Folge haben. Im übrigen liege eine erhebliche wirtschaftliche Belastung der Beklagten auch in den Lohnfortzahlungskosten, mit denen sie angesichts der bisher geleisteten Zahlungen auch für die Zukunft zu rechnen habe. Diese betrieblichen Beeinträchtigungen brauche die Beklagte nicht mehr hinzunehmen, und zwar weder die erheblichen Störungen im Betriebsablauf noch die außergewöhnlich hohen Lohnfortzahlungskosten. Die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB habe die Beklagte eingehalten, obwohl sie bereits am 31. Januar 1991 eine fristgemäße krankheitsbedingte Kündigung ausgesprochen habe. Auch wenn die Beklagte bereits zu diesem Zeitpunkt davon ausgegangen sei, daß ihr die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit dem Kläger unzumutbar sei, habe sie nach Rücknahme der Kündigung vom 31. Januar 1991 angesichts wiederholter krankheitsbedingter Ausfälle des Klägers im Laufe des Jahres am 28. November 1991 erneut feststellen können, daß ihr die weitere Zusammenarbeit unzumutbar sei. Die Beklagte habe allerdings ihre außerordentliche Kündigung nur mit einer Auslauffrist zum 31. Dezember 1991 aussprechen können, die nach dem Rechtsgedanken des § 15 Abs. 4 KSchG der Kündigungsfrist entsprechen müsse, die bei einer ordentlichen Kündigung zu beachten sei. Im vorliegenden Fall betrage die maßgebliche tarifliche Kündigungsfrist gemäß § 14 Nr. 1 MTV einen Monat zum Monatsende. Das Kündigungsschreiben sei dem Kläger zwar erst am 2. Dezember 1991 zugegangen, so daß die Kündigungsfrist von einem Monat zum Monatsende mit dem 31. Januar 1992 abgelaufen wäre. Da es sich jedoch nur um eine außerordentliche Kündigung mit einer Auslauffrist gehandelt habe, sei die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. Dezember 1991 vertretbar.

II. Dem Landesarbeitsgericht kann im Ergebnis und in wesentlichen Teilen der Begründung nicht gefolgt werden. Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts ist die angegriffene Kündigung nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG unzulässig.

Nach dieser Vorschrift kann das Arbeitsverhältnis eines Betriebsratsmitglieds nur dann gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen. Ob die Beklagte die Ausschlußfrist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt hat, kann offenbleiben. Jedenfalls lag kein wichtiger Grund im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG vor.

1. In § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG sind ohne eigenständige Definition die in § 626 Abs. 1 BGB verwandten Formulierungen übernommen worden. Da der Gesetzgeber in § 626 BGB geregelt hat, unter welchen Voraussetzungen eine "Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist" gerechtfertigt ist, sind die in § 626 BGB enthaltenen und daraus abgeleiteten Regeln zur Zulässigkeit einer außerordentlichen Kündigung auch im Rahmen des § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG anzuwenden (vgl. u.a. Ascheid, Kündigungsschutzrecht, Rz 520; KR-Etzel, 3. Aufl., § 15 KSchG Rz 21; Hueck/v. Hoyningen-Huene, KSchG, 11. Aufl., § 15 Rz 86; Kittner/Trittin, Kündigungsschutzrecht, § 103 BetrVG Rz 22; Knorr/Bichlmeier/Kremhelmer, Kündigungsrecht, 3. Aufl., 18. Kapitel Rz 29; Rohlfing/Rewolle/Bader, KSchG, Stand Juni 1991, § 15 Erl. 7; Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 5. Aufl., Rz 998; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 7. Aufl., § 143 IV 3).

2. Der in § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG und § 626 Abs. 1 BGB verwandte Begriff des wichtigen Grundes ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Seine Anwendung durch die Tatsachengerichte kann im Revisionsverfahren nur daraufhin überprüft werden, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnormen der § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG, § 626 Abs. 1 BGB Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat und ob es alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände, die für oder gegen die außerordentliche Kündigung sprechen, widerspruchsfrei beachtet hat (ständige Rechtsprechung; vgl. u. a. BAG Urteil vom 6. August 1987 - 2 AZR 226/87 - AP Nr. 97 zu § 626 BGB, zu II 1 der Gründe; BAG Urteil vom 9. September 1992 - 2 AZR 190/92 - AP Nr. 3 zu § 626 BGB Krankheit, zu II 2 c der Gründe). Auch dieser eingeschränkten Überprüfung hält das angefochtene Urteil nicht stand.

3. Krankheit ist zwar nicht als wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB generell ungeeignet. Da aber schon an eine ordentliche Kündigung wegen Erkrankung eines Arbeitnehmers ein strenger Maßstab anzulegen ist, kommt eine außerordentliche Kündigung nur in eng zu begrenzenden Ausnahmefällen in Betracht (BAG Urteil vom 9. September 1992, aaO, zu II 2 b der Gründe, m.w.N.; BAG Urteil vom 4. Februar 1993 - 2 AZR 469/92 -, n.v., zu II 2 b der Gründe). Das Landesarbeitsgericht hat zwischen ordentlicher und außerordentlicher krankheitsbedingter Kündigung nicht hinreichend unterschieden. Die Prüfung in drei Stufen (negative Prognose hinsichtlich des voraussichtlichen Gesundheitszustandes; erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen durch die prognostizierten Fehlzeiten; Interessenabwägung) muß den hohen Anforderungen Rechnung tragen, die an eine außerordentliche Kündigung zu stellen sind. Zumindest bei der Interessenabwägung hat das Landesarbeitsgericht nicht den richtigen Maßstab angewandt.

a) Aufgrund der unstreitigen erheblichen krankheitsbedingten Fehlzeiten in der Vergangenheit ist das Landesarbeitsgericht zu der Überzeugung gelangt, im Zeitpunkt der Kündigung sei zu erwarten gewesen, daß der Kläger auch künftig in erheblichem Ausmaß fehlen werde. Diese Feststellung einer negativen Prognose ist nach § 561 ZPO für den Senat bindend, weil sie von der Revision mit Verfahrensrügen nicht angegriffen worden ist.

b) Ob die Prüfung der erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen rechtssystematisch zur Eignung als wichtiger Grund oder zur Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung gehört, kann ebenso wie in den Urteilen vom 9. September 1992 (aaO, zu II 2 d der Gründe) und vom 4. Februar 1993 (aaO, zu II 2 b der Gründe) offenbleiben. Jedenfalls bei der Interessenabwägung ist zu beachten, daß nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG, § 626 Abs. 1 BGB die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung aller Umstände bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar sein muß. Diese Voraussetzung ist nach den tatsächlichen Feststellungen und wertenden Ausführungen des Landesarbeitsgerichts nicht erfüllt.

aa) Entgegen der vom Landesarbeitsgericht nicht näher begründeten Auffassung ist bei der Prüfung, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses mit einem Betriebsratsmitglied zumutbar oder unzumutbar ist, von der Kündigungsfrist auszugehen, die ohne den besonderen Kündigungsschutz des § 15 KSchG für eine ordentliche Kündigung gelten würde (herrschende Meinung; vgl. u.a. BAG Urteil vom 8. August 1968 - 2 AZR 348/67 - AP Nr. 57 zu § 626 BGB, zu III der Gründe; BAGE 51, 200, 210 f. und 212 = AP Nr. 19 zu § 15 KSchG 1969, zu B II 3 b bb und 4 a der Gründe, mit zustimmender Anmerkung von Schlaeper = AR-Blattei Betriebsverfassung IX Entscheidungen 62 mit zustimmender Anmerkung von Löwisch/Abshagen; BAG Urteil vom 2. April 1987 - 2 AZR 418/86 - AP Nr. 96 zu § 626 BGB, zu A II 4 der Gründe = SAE 1988, 119 ff. mit zustimmender Anmerkung von Coester; BAGE 58, 37, 45 = AP Nr. 99 zu § 626 BGB, zu II 1 der Gründe; Ascheid, Kündigungsschutzrecht, Rz 521; KR-Etzel, 3. Aufl., § 15 KSchG Rz 23; Hueck/v. Hoyningen-Huene, KSchG, 11. Aufl., § 15 Rz 88; Kittner/Trittin, Kündigungsschutzrecht, § 103 BetrVG Rz 24; Knorr/Bichlmeier/Kremhelmer, Kündigungsrecht, 3. Aufl., 18. Kapitel, Rz 30; Rohlfing/Rewolle/Bader, KSchG, Stand Juni 1991, § 15 Erl. 7; Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 5. Aufl., Rz 999). Zu einer Änderung der ständigen Rechtsprechung besteht kein Anlaß.

(1) Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Betriebsratsmitglieds grundsätzlich unzulässig und auf Ausnahmefälle beschränkt. Eine ordentliche Kündigung kommt nur bei Stillegung des Betriebs oder einer Betriebsabteilung in Betracht (§ 15 Abs. 4 und 5 KSchG). Die Möglichkeit zur "Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung der Kündigungsfrist" ist aufrechterhalten, jedoch nicht erweitert worden. Entscheidend ist, ob der Arbeitgeber ohne den besonderen Kündigungsschutz des Betriebsratsmitglieds zu einer außerordentlichen Kündigung im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB oder lediglich zu einer ordentlichen Kündigung berechtigt wäre. Soweit nur eine ordentliche Kündigung möglich wäre, darf dem Betriebsratsmitglied, abgesehen von den Fällen des § 15 Abs. 4 und 5 KSchG, nicht gekündigt werden. Soweit ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB vorliegt, bleibt das Recht des Arbeitgebers zur außerordentlichen Kündigung unverändert bestehen. In § 15 Abs. 1 KSchG ist der Maßstab für die Zumutbarkeitsprüfung unverändert geblieben. § 626 Abs. 1 BGB, dessen Tatbestandsmerkmale in § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG übernommen worden sind, stellt darauf ab, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Arbeitsverhältnisses zugemutet oder nicht zugemutet werden kann. Während des Sonderkündigungsschutzes gelten Befristungsabreden uneingeschränkt fort. Auch die vereinbarten Kündigungsfristen bleiben wirksam, kommen allerdings nur bei Kündigungen nach § 15 Abs. 4 und 5 KSchG zum Zuge.

Hätte der Gesetzgeber im Rahmen des § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG einen anderen zeitlichen Bezugspunkt für die Zumutbarkeitsprüfung gewollt, so hätte eine ergänzende oder eigenständige Regelung des wichtigen Grundes nahegelegen, zumal die Wiederwahl eines Betriebsratsmitglieds ungewiß ist und das Ende der Amtszeit nicht die allein denkbare Anknüpfung wäre, wenn der Gesetzgeber auf einen längeren Vergleichszeitraum als den der Frist für eine ordentliche Kündigung hätte abstellen wollen. Für ein gesetzgeberisches Versehen gibt es keine Anhaltspunkte. Vielmehr ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber ohne Veränderung des Prüfungsmaßstabes dem Arbeitgeber ausschließlich das ohnehin bestehende Recht zur außerordentlichen Kündigung erhalten wollte.

(2) Diese Auslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck des Sonderkündigungsschutzes nach § 15 KSchG. Er besteht zum einen darin, dem geschützten Arbeitnehmer die ungestörte Erledigung der ihm übertragenen Aufgaben zu ermöglichen, insbesondere ihm die Furcht vor möglichen Repressalien des Arbeitgebers zu nehmen, zum anderen darin, daß der Betriebsrat für die Dauer der Wahlperiode möglichst unverändert bestehen bleibt und damit eine gewisse Stetigkeit in der Aufgabenwahrnehmung gewährleistet ist (vgl. BAGE 35, 17, 24 = AP Nr. 10 zu § 15 KSchG 1969, zu II 2 der Gründe, m.w.N.). Keinesfalls sollen die Betriebsratsmitglieder durch die Erfüllung der Betriebsratsaufgaben Nachteile erleiden, vor allem nicht durch eine Erleichterung der außerordentlichen Kündigung.

(3) Der besondere Kündigungsschutz nach § 15 KSchG bedeutet zwar, daß den Betriebsratsmitgliedern im Vergleich zu den übrigen Arbeitnehmern eine verbesserte Rechtsstellung eingeräumt worden ist. Dies widerspricht aber nicht § 78 Satz 2 BetrVG, wonach die Betriebsratsmitglieder wegen ihrer Tätigkeit weder benachteiligt noch begünstigt werden dürfen. Die Sonderregelung des § 15 KSchG trägt dem Umstand Rechnung, daß sich bei Betriebsratsmitgliedern im Gegensatz zu den übrigen Arbeitnehmern besondere Interessenkonflikte ergeben können und die Betriebsratsmitglieder wegen ihrer Betriebsratstätigkeit eines erhöhten Arbeitsplatzschutzes bedürfen.

(4) Die vom Landesarbeitsgericht vertretene Auffassung, die Beklagte habe zwar nicht ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist, jedoch mit einer sozialen Auslauffrist kündigen können, die der ordentlichen Kündigungsfrist entsprechen müsse, ist mit dem geltenden Recht nicht zu vereinbaren. § 15 KSchG stellt ausdrücklich darauf ab, ob der Arbeitgeber zur Kündigung "aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist" berechtigt ist. Eine erleichterte außerordentliche Kündigung mit einer sozialen Auslauffrist ist nicht vorgesehen und käme zudem einer ordentlichen Kündigung sachlich nahe. Das Landesarbeitsgericht hat in § 15 KSchG eine Gesetzeslücke hineininterpretiert, die es durch eine analoge Anwendung der Ausnahmevorschrift des § 15 Abs. 4 KSchG schließen möchte, obwohl dem § 15 Abs. 4 KSchG ein nicht vergleichbarer Sachverhalt und eine andere Interessenlage zugrunde liegt.

(5) Die Revisionsbeklagte kann sich nicht mit Erfolg auf die Urteile des Bundesarbeitsgerichts vom 22. August 1980 (- 7 AZR 589/78 - n.v.), vom 2. April 1981 (- 2 AZR 1025/78 - n.v.), vom 14. November 1984 (- 7 AZR 474/83 - AP Nr. 83 zu § 626 BGB, zu II 1 a der Gründe) und vom 9. September 1992 (- 2 AZR 190/92 - AP Nr. 3 zu § 626 BGB Krankheit, zu II 2 d cc der Gründe) berufen, die sich mit der sozialen Auslauffrist bei einer außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines tarifvertraglich unkündbaren Arbeitnehmers befassen. Bei der Auslegung dieser Tarifverträge war zu berücksichtigen, daß einerseits die ordentliche Kündigung auf Dauer ausgeschlossen war und sich andererseits die Unkündbarkeit nicht zum Nachteil älterer Arbeitnehmer mit längerer Betriebszugehörigkeit auswirken sollte. Demgegenüber schränkt § 15 KSchG zugunsten der genannten betriebsverfassungsrechtlichen Funktionsträger nur für eine bestimmte Zeit die Kündigungsmöglichkeiten ein und hält das Recht zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitgebers ohne Veränderung des Prüfungsmaßstabes aufrecht.

bb) Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht ausgeführt, daß die maßgebliche Kündigungsfrist nach § 14 Nr. 1 letzter Satz MTV in Verbindung mit § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB einen Monat zum Monatsende betragen hätte. Bei der nach § 626 Abs. 1 BGB, § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG vorzunehmenden Interessenabwägung ist weiterhin von der Kündigungsfrist des § 622 Abs. 2 BGB auszugehen. Der Rechtsstreit über die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung ist nicht wegen der Verfassungswidrigkeit des § 622 Abs. 2 BGB bis zur gesetzlichen Neuregelung der Kündigungsfrist auszusetzen (BAG Urteil vom 2. April 1987 - 2 AZR 418/86 - AP Nr. 96 zu § 626 BGB, zu II 4 a der Gründe, mit eingehender Begründung, an der festgehalten wird).

cc) Tatsachen, aufgrund deren der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der tariflichen Kündigungsfrist, also bis zum 31. Januar 1992 unzumutbar gewesen wäre, lagen nicht vor. Die von der Beklagten geschilderten Betriebsstörungen und wirtschaftlichen Belastungen reichen noch nicht aus. Dies hat auch das Landesarbeitsgericht erkannt und ausdrücklich betont, daß "Tatsachen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung der Kündigungsfrist berechtigen, nicht vorliegen". § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG verlangt jedoch gerade "Tatsachen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen". Damit sind nach der insoweit rechtsfehlerfreien Würdigung des Landesarbeitsgerichts die Tatbestandsvoraussetzungen der § 15 Abs. 1 Satz 1 KSchG, § 626 Abs. 1 BGB nicht erfüllt.

III. Die Beklagte trägt nach § 91 Abs. 1, § 91 a Abs. 1 ZPO die gesamten Kosten des Rechtsstreits.

Hinsichtlich der übereinstimmend für erledigt erklärten Weiterbeschäftigungsklage war über die Kosten unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden. Dabei kommt es in erster Linie darauf an, welche Partei im Rechtsstreit voraussichtlich unterlegen wäre. Da die Weiterbeschäftigungsklage nach den im Beschluß des Großen Senats vom 27. Februar 1985 (- GS 1/84 - BAGE 48, 122 = AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht) enthaltenen Grundsätzen zunächst zulässig und begründet war und sich erst im Laufe des Rechtsstreits erledigt hat, sind der Beklagten insoweit nach § 91 a Abs. 1 ZPO auch diese Kosten aufzuerlegen.

Hillebrecht Bitter Kremhelmer

Dr. Fischer Engel

 

Fundstellen

Haufe-Index 438022

BB 1993, 2381

BB 1993, 2381-2382 (LT1-2)

DB 1994, 1426-1427 (LT1-2)

DStR 1994, 404-404 (K)

NJW 1994, 816

AiB 1994, 190-191 (LT1-2)

BetrR 1994, 16-18 (LT1-2)

BetrVG, (3) (LT1-2)

ARST 1994, 27-30 (LT1-2)

EEK, II/218 (ST1-3)

EWiR 1994, 177 (L)

NZA 1994, 74

NZA 1994, 74-77 (LT1-2)

RzK, II 1b Nr 8 (LT1-2)

AP § 15 KSchG 1969 (LT1-2), Nr 35

AR-Blattei, ES 530.9 Nr 73 (LT1-2)

EzA § 15 nF KSchG, Nr 40 (LT1-2)

EzBAT § 54 BAT Betriebs- bzw Personalratsmitglieder, Nr 11 (LT1-2)

PersF 1994, 351 (T)

ZfPR 1994, 59 (L)

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