Leitsatz (amtlich)

1. Eine schriftliche Kündigung des Arbeitgebers wird erst in dem Zeitpunkt wirksam, in dem sie dem Arbeitnehmer zugeht (§ 130 Abs. 1 BGB). Das gilt im Grundsatz auch dann, wenn der Zugang durch ein Verhalten des Arbeitnehmers verzögert wird. Allerdings muß der Arbeitnehmer die Kündigung dann zu einem früheren Zeitpunkt als zugegangen gegen sich gelten lassen, wenn es ihm nach Treu und Glauben verwehrt ist, sich auf die Verspätung des Zugangs zu berufen (BGH LM Nr. 1 zu § 130 BGB).

2. Ein Arbeitnehmer, der seine Wohnung wechselt, kann die Anschriftenänderung dem Arbeitgeber in der Weise mitteilen, daß er während seiner Erkrankung eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einreicht, in der die neue Anschrift eingetragen ist. Es bedarf dann nicht noch seines ausdrücklichen Hinweises auf den Wohnungswechsel.

3. Schickt der Arbeitgeber in einem solchen Falle sein Kündigungsschreiben an die frühere Anschrift des Arbeitnehmers und verzögert sich deshalb der Zugang der Kündigung, dann handelt der Arbeitnehmer nicht treuwidrig, wenn er sich auf den späteren Zugang beruft.

 

Normenkette

BGB §§ 130, 113, 167, 615; MuSchG 1968 §§ 3, 6, 9

 

Verfahrensgang

LAG Berlin (Urteil vom 28.10.1975; Aktenzeichen 8 Sa 67/75)

ArbG Berlin (Urteil vom 17.03.1975; Aktenzeichen 37 Ca 230/74)

 

Tenor

1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 28. Oktober 1975 – 8 Sa 67/75 – aufgehoben, soweit es die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und über die Kosten entschieden hat.

2. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 17. März 1975 – 37 Ca 230/74 – aufgehoben, soweit es über die Feststellungsklage und über die Kosten entschieden hat.

3. Es wird festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien über den 12. März 1974 hinaus fortbesteht.

4. Wegen der Lohnansprüche der Klägerin für die Zeit vom 13. März 1974 bis zum 31. Januar 1975 wird der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des gesamten Rechtsstreits, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen !

 

Tatbestand

Die 1957 geborene Klägerin wurde von der Beklagten im Oktober 1973 als Arbeiterin eingestellt. In der Lohnsteuerkarte der Klägerin für 1974 war als ihre Anschrift die Wohnung ihrer Eltern B., W., vermerkt. Seit 18. Februar 1974 war die Klägerin arbeitsunfähig erkrankt. Sie reichte bei der Beklagten zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 18. und 25. Februar 1974 ein, in denen als ihre Anschrift B., U., angegeben war.

Die Beklagte sandte mit Einschreibebrief vom 25. Februar 1974 der Klägerin eine Kündigung zum 11. März 1974. Das Kündigungsschreiben konnte unter der angegebenen Anschrift, B., W., nicht zugestellt werden, weil die Klägerin zu diesem Zeitpunkt bereits ihre elterliche Wohnung verlassen hatte und den Eltern ihr Aufenthalt nicht bekannt war. Ihre Eltern hatten deswegen der Post den Auftrag gegeben, Sendungen für die Klägerin an das Jugendamt, B., S., nachzusenden. Aufgrund dieses Nachsendungsauftrages wurde der Einschreibebrief mit dem Kündigungsschreiben einem Bediensteten des Bezirksamts St. am 28. Februar 1974 ausgehändigt. Die Beklagte, die über diesen Vorgang nicht unterrichtet war, erhielt noch zwei weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen der Klägerin vom 4. und 12. März 1974 für die Zeit bis zum 18. März 1974. In beiden Bescheinigungen war als gegenwärtige Wohnung der Klägerin B., Br. Straße …, eingetragen. Am 12. März 1974 wurde der Klägerin ein ärztliches Zeugnis erteilt, wonach sie sich im zweiten Schwangerschaftsmonat befände; der voraussichtliche Geburtstermin sei noch offen. Mit Einschreibebrief vom 18. März 1974 sandte die Beklagte der Klägerin unter der Anschrift B., Br. Straße … die Entlassungspapiere „für die zugestellte Kündigung vom 25. Februar 1974”. Das Kündigungsschreiben vom 25. Februar 1974 wurde dem Ehemann der Klägerin am 19. März 1974 durch das Jugendamt ausgehändigt.

Die Klägerin hat am 30. Mai 1974 vor dem Arbeitsgericht Klage auf Feststellung erhoben, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 18. März 1974 nicht aufgelöst worden sei. Sie hat ferner die Fortzahlung ihres Lohnes vom 7. März 1974 bis zum 31. Januar 1975 in Höhe von 7.708,– DM begehrt. Die Klägerin hat vorgetragen, sie habe von einer Kündigung der Beklagten erst am 18. März 1974 erfahren, als sie bei der Beklagten angerufen und vergeblich angeboten habe, ab 19. März 1974 ihre Arbeit wieder aufzunehmen. Der Beklagten sei aufgrund der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 18. Februar 1974 ihre damalige Anschrift U., bekannt gewesen. Auch von der weiteren Wohnung Br. Straße … habe einer der Gesellschafter der Beklagten gewußt, weil er sie dort Anfang Februar 1974 persönlich zur Arbeit abgeholt und nach Dienstschluß wieder nach Hause gefahren habe. Den Nachsendungsantrag an das Jugendamt hätten ihre Eltern ohne ihre Kenntnis gestellt. Die Kündigung der Beklagten sei nach § 9 MuSchG unwirksam, weil die Bescheinigung über ihre Schwangerschaft von ihrem Ehemann bereits am 12. März 1974 bei der Beklagten abgegeben worden sei.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, die Kündigung sei der Klägerin bereits am 26. Februar 1974 zugegangen, als der Einschreibebrief zur Zustellung an die Anschrift ihrer Eltern vorgelegen habe. Nur diese Wohnung bei ihren Eltern habe ihr die Klägerin mitgeteilt. Was es mit der Adresse B., U., auf sich habe, sei ihr bis heute unbekannt. Die Jetzige Wohnung B., Br., Straße …, habe die Klägerin erst nach ihrer am 1. März 1974 erfolgten Eheschließung bezogen. Zumindest mit der Aushändigung des Kündigungsschreibens an den zuständigen Vertreter des Jugendamtes am 28. Februar 1974 gelte die Kündigung gegenüber der Klägerin als zugestellt. Am 27. Februar 1974 sei bei einem telefonischen Anruf der Klägerin die Kündigung durch eine bevollmächtigte Angestellte noch einmal mündlich wiederholt worden. Die Schwangerschaftsbescheinigung habe der Ehemann der Klägerin erst am 15. März 1974 vorgelegt. Die Klägerin habe auch nicht ab 19. März 1974 ihre weitere Dienstleistung angeboten. Sie sei vielmehr am 25. März 1974 erschienen und habe ohne Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erklärt, sie sei weiterhin krank.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts teilweise abgeändert und festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis durch die mit Schreiben der Beklagten vom 25. Februar 1974 ausgesprochene Kündigung zum 12. März 1974 aufgelöst worden sei. Weiter hat es die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 131,20 DM brutto als Lohn für die Zeit vom 7. bis zum 12. März 1974 zu zahlen. Im übrigen ist die Berufung der Klägerin zurückgewiesen worden.

Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter, soweit sie damit nicht durchgedrungen ist, während die Beklagte um Zurückweisung der Revision bittet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt hinsichtlich der Feststellungsklage zu einer abschließenden ersetzenden Entscheidung zugunsten der Klägerin und wegen der von ihr weiter verfolgten Zahlungsansprüche zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht.

A. Die Feststellungsklage ist zulässig und in vollem Umfang begründet.

I. Der Antrag festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung vom 18. März 1974 nicht aufgelöst worden ist, enthält bei sachgerechter Auslegung eine nach § 256 ZPO zulässige Feststellungsklage.

Da das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien im Mai 1974 noch nicht länger als sechs Monate bestanden hatte, konnte die Klägerin zwar keine Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG erheben. Das Landesarbeitsgericht hat ihren Antrag aber zutreffend dahin ausgelegt, daß sie die Feststellung begehrt, daß das Arbeitsverhältnis über den 11. März 1974 hinaus fortbesteht Nachdem das Landesarbeitsgericht rechtskräftig festgestellt hat das Arbeitsverhältnis sei erst zum 12. März 1974 beendet worden, ist im Revisionsverfahren darüber zu entscheiden, ob das Arbeitsverhältnis auch über den 12. März 1974 hinaus fortbesteht.

An dieser Feststellung hat die Klägerin das nach § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse, weil hierdurch die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteien umfassender geklärt werden als durch die Entscheidung über die auf einen bestimmten Zeitraum begrenzten Ansprüche auf Fortzahlung des Lohnes. Die Rechtskraft eines Urteiles, das über Lohnansprüche entscheidet, erstreckt sich zudem nicht auf die Vortrage, ob zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis fortbestanden hat (vgl. das zum Abdruck im Nachschlagewerk des Gerichtes bestimmte Urteil des Fünften Senates vom 12. Januar 1977 – 5 AZR 593/75 – [zu 2 b der Gründe]).

II. Die Feststellungsklage ist auch begründet, weil die von der Beklagten mit Schreiben vom 25. Februar 1974 ausgesprochene Kündigung gegen das Kündigungsverbot des § 9 MuSchG verstößt und deshalb nichtig ist.

1. Das Landesarbeitsgericht ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, daß die Beklagte nur eine Kündigung, nämlich mit Schreiben vom 25. Februar 1974 erklärt hat. Nach der vom Landesarbeitsgericht als glaubwürdig unterstellten Aussage der Buchhalterin der Beklagten ist die Klägerin zwar am 27. Februar 1974 in einem Telefongespräch darauf hingewiesen worden, die Beklagte habe ein Kündigungsschreiben an sie abgesandt. Die Auslegung des Landesarbeitsgerichts, darin liege keine erneute mündliche Kündigung, wird von der Beklagten nicht mehr beanstandet und beruht auch nicht auf einem Rechtsfehler.

Der Klägerin ist bei diesem Gespräch nicht mitgeteilt worden, ob ihr ordentlich oder außerordentlich gekündigt werden sollte und zu welchem Zeitpunkt die Kündigung vorgesehen war. Es widerspricht schon deswegen dem Gebot der Deutlichkeit und Klarheit im Kündigungsrecht, den Hinweis auf eine bereits abgesandte schriftliche Kündigung als Ausspruch einer weiteren mündlichen Kündigung aufzufassen (vgl. BAG AP Nr. 50 zu § 1 KSchG und BAG AP Nr. 1 zu § 620 BGB Kündigungserklärung).

2. Das Landesarbeitsgericht hat es nicht als erwiesen angesehen, daß die Klägerin der Beklagten ihre Schwangerschaft bereits am 12. März 1974 angezeigt habe. Es hat bei seiner Beweiswürdigung die Beweislast nicht verkannt; denn die Klägerin mußte den Beweis für die rechtzeitige Mitteilung ihrer Schwangerschaft (§ 9 Abs. 1 Satz 1 MuSchG) erbringen (vgl. Bulla-Buchner, MuSchG, 4. Aufl., § 9 Anm. 104). Da die Klägerin die Beweiswürdigung des Landesarbeitsgerichts nicht mit Verfahrensrügen angegriffen hat, ist für die Revisionsinstanz davon auszugehen, daß der Ehemann der Klägerin die Bescheinigung über deren Schwangerschaft erst am 15. März 1974 bei der Beklagten abgegeben hat.

3. Es ist damit entscheidungserheblich, ob die Kündigung der Beklagten vom 25. Februar 1974 der Klägerin länger als zwei Wochen vor dem 15. März 1974, d.h. vor dem 1. März 1974 zugegangen ist oder als zugegangen gilt. Nur in diesem Falle entfiele der Kündigungsschutz aus § 9 MuSchG.

a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die Klägerin müsse sich so behandeln lassen, als wenn ihr das Kündigungsschreiben bereits am 26. Februar 1974 zugegangen sei. An diesem Tage habe das Einschreiben zur Zustellung an die Klägerin unter der Anschrift B., W., vorgelegen. Die durch den Nachsendungsantrag der Eltern der Klägerin bedingte Verzögerung der Zustellung der Einschreibsendung könne nicht zu Lasten der Beklagten gehen. Die Klägerin sei aufgrund ihrer Treuepflicht gehalten gewesen, die Änderung ihrer Anschrift der Beklagten unverzüglich nach erfolgtem Umzug anzuzeigen. Von dieser Verpflichtung sei die Klägerin nicht deswegen entbunden gewesen, weil in einer Arbeitsbescheinigung eine anderweitige Adresse enthalten gewesen sei. Die Klägerin habe vielmehr unter Verletzung ihrer Treuepflicht einen früheren Zugang der Kündigung verhindert.

b) Diese Rechtsansicht wird vom Senat nicht geteilt. Richtig ist der Ausgangspunkt des Landesarbeitsgerichts, daß das Kündigungsschreiben der Klägerin am 26. Februar 1974 noch nicht im Sinne des § 130 BGB zugegangen ist. Das ist vielmehr erst am 19. März 1974 geschehen, als das Kündigungsschreiben dem Ehemann der Klägerin vom Jugendamt ausgehändigt wurde.

Eine Kündigung, die schriftlich erfolgt, ist eine Willenserklärung unter Abwesenden im Sinne des § 130 Abs. 1 BGB. Sie wird erst in dem Zeitpunkt wirksam, in dem sie dem Empfänger zugeht. Der Zugang einer schriftlichen Kündigung ist bewirkt, sobald sie in verkehrsüblicher Art in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Empfängers oder eines anderen, der berechtigt ist, für ihn Briefe entgegenzunehmen, gelangt ist und es dadurch dem Empfänger möglich wird, von dem Schreiben Kenntnis zu nehmen (vgl. das Urteil des Senates vom 16. Januar 1976 – 2 AZR 619/74 – [demnächst] AP Nr. 7 zu § 130 BGB = AR-Blattei „Kündigung II” Entsch. 9).

Im Streitfall ist darauf abzustellen, wann das Kündigungsschreiben der Beklagten in den Verfügungsbereich der Klägerin gelangt ist, weil sie nach dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien gemäß § 113 Abs. 1 BGB von ihren Eltern ermächtigt war, das Arbeitsverhältnis mit der Beklagten einzugehen; deswegen war auch die Kündigung ihr gegenüber auszusprechen.

c) Nach diesen Grundsätzen ist das Kündigungsschreiben der Klägerin nicht schon am 26. Februar 1974 zugegangen; denn sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Wohnung bei ihren Eltern im W. verlassen. Die Einschreibsendung, die das Kündigungsschreiben der Beklagten enthielt, ist zudem auch nicht den Eltern der Klägerin ausgehändigt worden, was für den Zugang an den Empfänger durch Übergabe eines Einschreibebriefes an empfangsberechtigte Vertreter erforderlich gewesen wäre (vgl. BAG 13, 313 [316] = AP Nr. 4 zu § 130 BGB).

Die nach dem Vortrag der Beklagten am 27. Februar 1974 erfolgte fernmündliche Mitteilung an die Klägerin, daß ein Kündigungsschreiben an sie abgesandt sei, reichte für den Zugang der Kündigung nicht aus. Bei einer schriftlichen Kündigung muß der Kündigungsempfänger die Möglichkeit haben, durch Einsichtnahme in das Kündigungsschreiben von seinem Inhalt Kenntnis zu nehmen vgl. RAG 24, 267 [274]; RGZ 60, 334 [336–337]; Palandt-Putzo, BGB, 36. Aufl., § 130 Anm. 2 a aa).

Der Zugang der Kündigung an die Klägerin ist auch nicht durch die Aushändigung des Einschreibebriefes an einen Bevollmächtigten des Jugendamtes am 28. Februar 1974 bewirkt worden. Die Klägerin als Vertragspartnerin der Beklagten hatte nicht durch eine Erklärung gegenüber dem Jugendamt oder gegenüber der Beklagten gemäß § 167 BGB das Jugendamt als Zustellungsbevollmächtigten für rechtsgeschäftliche Erklärungen der Beklagten im Rahmen des Arbeitsverhältnisses bestimmt. Allein darin, daß die Eltern der Klägerin der Bundespost einen Nachsendungsauftrag für die an ihre Tochter gerichtete Post gegeben hatten, weil ihnen deren Anschrift nicht bekannt war, lag noch keine Einschränkung oder Zurücknahme der Ermächtigung im Sinne des § 113 Abs. 2 BGB. Im übrigen hatten die Eltern der Klägerin auch nicht als deren gesetzliche Vertreter gegenüber dem Jugendamt oder gegenüber der Beklagten das Jugendamt als Zustellungsbevollmächtigten der Klägerin benannt.

d) Für die Frage des Zuganges einer schriftlichen Kündigung ist es im Grundsatz unerheblich, ob er durch ein Verhalten des Kündigungsempfängers, hier also der Klägerin, verzögert worden ist (vgl. BGH LM Nr. 1 zu § 130 BGB; Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 2. Aufl., 2. Bd., S. 238). Bei einer Verzögerung des Zuganges muß der Empfänger die Erklärung allerdings zu einem früheren Zeitpunkt als zugegangen gegen sich gelten lassen, wenn es ihm nach Treu und Glauben verwehrt ist, sich auf eine Verspätung des Zuganges zu berufen, für die er selbst durch sein Verhalten die alleinige Ursache gesetzt hat (vgl. BGH LM Nr. 1 zu § 130 BGB). Ein solcher Fall ist nur dann anzunehmen, wenn das Zugangshindernis dem Empfänger zuzurechnen ist, der Erklärende nicht damit zu rechnen brauchte und er nach Kenntnis von dem noch nicht erfolgten Zugang unverzüglich erneut eine Zustellung vorgenommen hat (vgl. Flume, aaO). Dagegen ist es nicht erforderlich, daß der Empfänger den Zugang schuldhaft vereitelt hat; es reicht aus, wenn die Verzögerung auf Umstände zurückzuführen ist, die zu seinem Einflußbereich gehören (vgl. Flume, aaO, S. 238, 239).

Diese Voraussetzungen, unter denen die Klägerin eine Rückwirkung des Zuganges der schriftlichen Kündigung gegen sich gelten lassen müßte, sind entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht gegeben.

aa) Es kann dahingestellt bleiben, ob ein Arbeitnehmer bei einem Wohnungswechsel grundsätzlich verpflichtet ist, seine neue Anschrift dem Arbeitgeber unverzüglich mitzuteilen, oder ob das von ihm nur dann zu verlangen ist, wenn er Jederzeit mit rechtsgeschäftlichen Erklärungen des Arbeitgebers, insbesondere mit einer Kündigung, rechnen muß (vgl. BAG AP Nr. 5 zu § 130 BGB). Die Klägerin hat nämlich im Streitfall die ihr nach der Auffassung des Landesarbeitsgerichts obliegende allgemeine Mitteilungspflicht nicht verletzt.

Sie hatte zwar zunächst in den Personalakten die Wohnung ihrer Eltern als ihre Anschrift angezeigt. Wo sie sieh bei Absendung des Kündigungsschreibens aufhielt, ergab sich aber aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der Klägerin vom 18. Februar 1974, die der Beklagten unstreitig im Zeitpunkt der Absendung des Kündigungsschreibens vorlag. Mit der Vorlage dieser Bescheinigung hat die Klägerin deutlich und für die Beklagte erkennbar ihren Wohnungswechsel mitgeteilt. Die in den Formularen vorgesehene und auch erfolgte Angabe der jeweiligen Anschrift des erkrankten Arbeitnehmers dient zumindest auch dazu, den Arbeitgeber davon zu unterrichten, wo der Arbeitnehmer während der Krankheit zu erreichen ist.

Die Klägerin konnte davon ausgehen, daß die Beklagte die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht nur hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Krankheit, sondern in vollem Umfang überprüfen werde. Es ist ein überflüssiger und übertriebener Formalismus, wenn das Landesarbeitsgericht über die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hinaus von der Klägerin weiter verlangt, sie habe noch ausdrücklich auf ihren Wohnungswechsel hinweisen sollen.

bb) Im Streitfall kommt hinzu, daß die Beklagte nicht ausreisend erläutert hat, aus welchen Gründen sie die Kündigung nicht an die in der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung angegebene Anschrift gesandt hat. Sie hat sich insbesondere nicht darauf berufen, die Änderung der Anschrift nicht bemerkt zu haben. Ihre Erklärung, sie wisse bis heute nicht, was es mit dieser Anschrift auf sich habe, ist unverständlich. Die Beklagte kann auch nicht darauf verweisen, durch die weiteren Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vom 4. und 12. März 1974, nach denen die Klägerin nunmehr in der Br. Straße … wohnte, in Ungewißheit über die richtige Anschrift der Klägerin versetzt worden zu sein. Diese weiteren Bescheinigungen sind nämlich erst nach Absendung des Kündigungsschreibens bei der Beklagten eingegangen.

Die Beklagte hat zudem unter Bezugnahme auf die Aussage der von ihr benannten und als Zeugin vernommenen Buchhalterin vorgetragen, daß die für die Kündigung der Klägerin zuständige Angestellte am 27. Februar und 1. März 1974 von der Klägerin erfahren habe, daß ihr die Kündigung noch nicht zugegangen war, weil sie an die nicht zutreffende Anschrift W. 25 abgesandt worden war. Danach oblag es der Beklagten, sich nach der gegenwärtigen Anschrift der Klägerin zu erkundigen, wenn sie darüber Zweifel hatte (vgl. BGH LM Nr. 1 zu § 130 BGB). Sie durfte sich mit dem vergeblichen Zustellungsversuch nicht deshalb begnügen, weil die Klägerin nach der Darstellung der genannten Zeugin erklärt haben soll, sie würde demnächst wieder zu ihren Eltern zurückkehren.

cc) Die Klägerin handelt auch nicht treuewidrig, wenn sie sich auf den erst am 19. März 1974. erfolgten Zugang der Kündigung beruft. Sie hat eingeräumt, daß die Kündigung, wenn sie an die Adresse U. geschickt worden wäre, ihr spätestens am 28. Februar 1974 zugegangen und von diesem möglichen Zugang ab gerechnet die erst am 15. März 1974 erfolgte Mitteilung der Schwangerschaft im Sinne des § 9 Abs. 1 MuSchG verspätet gewesen wäre. Das kann nicht zuungunsten der Klägerin verwertet werden, weil ihr nicht zu unterstellen ist, sie würde auch dann, wenn sie die Kündigung bereits am 28. Februar 1974 erhalten hätte, die Beklagte erst am 15. März 1974 von ihrer Schwangerschaft unterrichtet haben.

4. Somit war der Beklagten die Schwangerschaft der Klägerin bereits bekannt, bevor ihre Kündigung der Klägerin zugegangen ist. Deshalb ist die Kündigung gemäß § 9 Abs. 1 MuSchG unzulässig. Auf die Revision der Klägerin ist demgemäß festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis auch über den 12. März 1974 hinaus fortbestanden hat.

B. Soweit das Landesarbeitsgericht die Klage auf Lohnzahlung für die Zeit vom 13. März 1974 bis zum 31. Januar 1975 in Höhe von 7.577,80 DM abgewiesen hat, ist dem Senat keine abschließende Entscheidung möglich, weil es noch weiterer tatsächlicher Feststellungen durch das Landesarbeitsgericht bedarf. Insoweit ist der Rechtsstreit an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

I. Da das Arbeitsverhältnis über den 12. März 1974 hinaus fortbestanden hat und die Klägerin nach dem Attest vom 12. März 1974 jedenfalls bis zum 18. März 1974 arbeitsunfähig gewesen ist, können ihr bis zu diesem Zeitpunkt noch Ansprüche auf Lohnfortzahlung nach den §§ 1, 2 LohnFG zustehen. Der Senat hat es aber nicht für sachdienlich gehalten, über diesen geringen Teilbetrag gesondert zu entscheiden, weil die Ermittlung der weitergehenden Ansprüche nach Grund und Höhe noch nicht möglich ist (vgl. § 301 Abs. 2 ZPO).

II. Für die Zeit nach dem 18. März 1974 ist zwischen den Parteien streitig und vom Landesarbeitsgericht noch festzustellen, wann die Klägerin ihre weitere Arbeitsleistung angeboten hat und bis zu welchem Zeitpunkt sie krank gewesen ist. Nach der Darstellung der Beklagten soll die Klägerin noch am 25. März 1974 erklärt haben, sie sei weiterhin krank, ohne dies durch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu belegen. Die Feststellungsklage, mit der die Klägerin der Kündigung der Beklagten widersprochen hat, ist der Beklagten erst am 10. Juni 1974, d.h. erst fast drei Monate nach Zugang der Kündigung, zugestellt worden. Das kann für die Frage des Annahmeverzugs gemäß § 615 BGB erheblich sein.

Es muß zudem festgestellt werden, wann die Klägerin entbunden hat. Sie war am 13. Februar 1974 bereits im zweiten Monat schwanger und hätte vermutlich bis zum 31. Januar 1975 gemäß § 3 Abs. 2 und § 6 Abs. 1 MuSchG zeitweise nicht beschäftigt werden dürfen. Für die Dauer dieser Beschäftigungsverbote steht der Klägerin kein Lohn, sondern nach § 13 Abs. 1 MuSchG Mutterschaftsgeld zu, und die Beklagte kann nach § 14 MuSchG allenfalls verpflichtet sein, hierzu einen Zuschuß an die Klägerin zu zahlen.

Die Klägerin hat darüber hinaus, wie sich aus dem in der ersten Instanz eingereichten Zeugnis zur Erlangung des Armenrechtes ergibt, Sozialhilfe nach § 38 des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Juni 1961 – BSHG – (BGBl. I S. 815) in Höhe von 732,03 DM monatlich bezogen. Es wird deshalb auch zu prüfen sein, ob ein Forderungsübergang nach § 90 BSHG eingetreten ist.

 

Unterschriften

gez.: Dr. Gröninger, zugleich für den wegen Urlaubs abwesenden Richter am Bundesarbeitsgericht, Hillebrecht, Dr. Jobs, Thieß, Dr. Bächle

 

Fundstellen

Dokument-Index HI438216

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