Entscheidungsstichwort (Thema)

Außerordentliche Kündigung

 

Normenkette

BAT § 53 Abs. 3, §§ 54-55; BGB § 626; HPVG § 79 Nr. 1D, § 77 Abs. 3

 

Verfahrensgang

Hessisches LAG (Urteil vom 18.07.1997; Aktenzeichen 17/12 Sa 1507/96)

ArbG Hanau (Urteil vom 14.03.1996; Aktenzeichen 3 Ca 235/93)

 

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 18. Juli 1997 – 17/12 Sa 1507/96 – aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Klägerin war seit 1. November 1973 als Chefärztin für Anästhesie im Kreisrankenhaus S… des beklagten Kreises beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) Anwendung; die Klägerin ist in die VergGr. I eingruppiert. Zwischen verschiedenen leitenden Mitarbeitern der chirurgischen und der anästhesistischen Abteilung im Kreiskrankenhaus Schlüchtern bestanden seit geraumer Zeit Spannungen. Aufgrund einer Auseinandersetzung zwischen dem damaligen Chefarzt der Chirurgie, Dr. T…, und der Klägerin hat der Beklagte der Klägerin am 5. Juli 1990 eine Abmahnung mit dem Vorwurf unkollegialen Verhaltens erteilt und das Arbeitsverhältnis mit dem Chefarzt der Chirurgie fristlos gekündigt. Über die Behandlung eines Patienten am 11. Juni 1992 gab es zwischen der Klägerin und dem inzwischen nachgefolgten Chefarzt der Chirurgie, Dr. Ru…, Differenzen, die zu einer Abmahnung vom 27. August 1992 geführt haben, die aufgrund eines Vergleichs vor dem Landesarbeitsgericht vom 30. Juni 1994 (– 12 Sa 45/94 –) aus der Personalakte der Klägerin entfernt worden ist. Ab Anfang April 1993 wurden in anonymen, aus dem Kreiskrankenhaus stammenden Anzeigen gegenüber der Staatsanwaltschaft Hanau und in Presseveröffentlichungen Vorwürfe gegenüber dem Chefarzt der Chirurgie Dr. Ru… und dem Oberarzt der Chirurgie Dr. F… erhoben. In den daraufhin eingeleiteten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen Dr. Ru… wegen des Verdachts der Körperverletzung (bis hin zur fahrlässigen Tötung) waren Vorwürfe aufgetaucht, Chirurgen hätten Operationen verspätet begonnen, es hätte unnötig lange Wartezeiten von betäubten Patienten gegeben. Auf Weisung der ärztlichen Leitung hat daraufhin ein Pfleger 61 Anästhesieprotokolle herausgesucht, die den Vorwurf überlanger Wartezeiten zwischen Einleitung der Anästhesie und Operationsbeginn belegen sollten. Diese Protokolle hat die Klägerin vor der Beschlagnahme durch die Polizei überprüft. Am 8. Juli 1993 ist die Klägerin im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen gegen Dr. Ru… als Zeugin vernommen worden. Laut Vernehmungsprotokoll hat die Klägerin u.a. bekundet, es habe Beschwerden von Mitarbeitern der Ärzteschaft und des Pflegepersonals gegeben, weil Herr Dr. Ru… zu spät zu Operationen kam. Dabei wurde die Klägerin außerdem zu einzelnen Narkoseprotokollen befragt. Den Vorwurf eines verzögerten Operationsbeginns hat der Oberarzt Dr. F… in einer Dokumentation vom 29. Juli 1993 zurückgewiesen. Dr. Ru… hat durch Schreiben seines Prozeßbevollmächtigten vom 8. September 1993 u.a. gegen die Klägerin und den Pflegedienstleiter Strafanzeige erstattet und den damaligen Ersten Kreisbeigeordneten um dienstrechtliche Überprüfungen und Maßnahmen gebeten. Daraufhin führte das Rechtsamt des Beklagten im September 1993 umfangreiche Befragungen der Mitarbeiter aus dem Krankenhaus durch. Am 22. September 1993 teilte Dr. F… dem Kreisbeigeordneten mit, die Klägerin habe in fünf Fällen die Prämedikation unzureichend durchgeführt sowie in vier Fällen Anästhesieprotokolle gefälscht. Daraufhin ist die Klägerin vom Beklagten zu der behaupteten Fälschung von Anästhesieprotokollen angehört und anschließend vom Dienst suspendiert worden. Gegenstand einer anschließenden schriftlichen Anhörung der Klägerin waren Narkoseprotokolle der Patienten C…, S…, H… und G…, ferner der Vorwurf einer nicht ordnungsgemäßen Dokumentation des Betäubungsmittelbestandes sowie der Vorwurf, die der Staatsanwaltschaft ausgehändigten Narkoseprotokolle wären nicht aufgrund überlanger Wartezeiten, sondern personenbezogen herausgesucht worden. Die Klägerin hat mit Schreiben ihrer Prozeßbevollmächtigten vom 8. Oktober 1993 diese Vorwürfe zurückweisen lassen.

Mit Schreiben vom 24. September 1993 hörte der Beklagte den Personalrat des Kreiskrankenhauses zu einer beabsichtigten Kündigung der Klägerin und des Anästhesisten Dr. … an, wobei der Personalrat mitteilte, die Kündigungsabsicht zur Kenntnis genommen zu haben.

Die Klägerin hat geltend gemacht, die Kündigung sei schon mangels ordnungsgemäßer Anhörung des Personalrats unwirksam. Außerdem lägen keine wichtigen Gründe zur außerordentlichen Kündigung vor. Die Anästhesieprotokolle seien nicht manipuliert worden, insbesondere seien die Protokolle in den Fällen der Patienten C…, H…, G… und S… vollständig; eine Prämedikationsvisite mit einer körperlichen Voruntersuchung habe in jedem dieser Fälle den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend stattgefunden. Selbst wenn im einen oder anderen Fall Narkoseprotokolle vor der Operation noch unvollständig gewesen seien, könne daraus nicht der Schluß gezogen werden, daß eine Prämedikationsvisite nicht stattgefunden habe, zumal dem Anästhesisten auch andere Krankenunterlagen zugänglich gewesen seien. Die Führung des Betäubungsmittelbuchs habe nicht ihr, sondern dem Mitarbeiter H… oblegen, der von ihr regelmäßig kontrolliert worden sei. Herr H… sei allerdings vom 11. März bis 11. April 1993 zur Kur gewesen, so daß es damals nicht zu Eintragungen gekommen sei; dieser bereits am 30. März 1993 festgestellte Vorfall könne im Oktober 1993 nicht mehr als Grund für eine außerordentliche Kündigung herangezogen werden. Hinsichtlich der angeblich falschen Anschuldigung von Kollegen im Rahmen ihrer polizeilichen Vernehmung hat die Klägerin behauptet, ihre Aussagen bei der Polizei nach bestem Wissen und Gewissen gemacht zu haben; tatsächlich ergäben sich aus den dort besprochenen Anästhesieprotokollen überlange Wartezeiten narkotisierter Patienten, u.a. habe Herr Dr. Ru… im Falle des Patienten Ki… zweimal “angepiepst” werden müssen; im Fall der Patientin Z… sei eine Operation von Dr. Ru… um 10.30 Uhr abgesetzt worden, obwohl dem Bereitschaftsdienst dieser Fall am Vortag noch als dringend gemeldet worden sei; im Fall des Patienten He… sei eine für den Vormittag angesetzte Operation nach dem Beginn der Narkose verschoben worden, weil Dr. Ru… entgegen seiner Ankündigung nicht erschienen sei, wobei sie erst nach der Vernehmung erfahren habe, daß dies geschehen sei, weil Dr. Ru… sich bei der Dauer einer anderen Operation verschätzt habe.

Die Klägerin hat beantragt,

1. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die fristlose Kündigung vom 11. Oktober 1993 nicht aufgelöst worden ist,

2. den Beklagten zu verurteilen, sie, die Klägerin, zu den bisherigen Bedingungen als Chefärztin für Anästhesie am Kreiskrankenhaus S… weiterzubeschäftigen.

Der Beklagte hat zu seinem Klageabweisungsantrag vorgetragen, eine Anhörung des Personalrats zur Kündigung der Klägerin sei nicht erforderlich gewesen, da sie als Chefärztin Dienstbereichsleiterin und damit Mitglied der Betriebsleitung des Krankenhauses gewesen sei. Zur Begründung der Kündigung hat der Beklagte vorgetragen, die Klägerin habe in den vier Fällen der Patienten C…, S…, H… und G… Anästhesieprotokolle teils überhaupt nicht, unvollständig oder bewußt falsch ausgefüllt, wobei sie für die Patienten C… und S… direkt verantwortlich gewesen sei; die Patienten seien auch nicht im Rahmen einer Prämedikationsvisite körperlich untersucht worden. Später seien die Anästhesieprotokolle nachträglich “in Form gebracht worden”, so daß jedenfalls nach der Operation der Eindruck bestanden habe, als seien die in den Protokollen vermerkten Befunde tatsächlich vorher erhoben worden; dies werde belegt durch einen Vergleich der von dem Oberarzt Dr. F… jeweils am Operationstag etwa eine halbe Stunde vor Beginn der Operation angefertigten Kopien der Anästhesieprotokolle mit den Protokollen, wie sie nach der Operation ausgesehen hätten. Die Klägerin habe es weiter versäumt, für die rechtzeitige Dokumentation im Betäubungsmittelbuch zu sorgen; nur infolge der Suspendierung der Klägerin sei es zu einer beabsichtigten Abmahnung deswegen nicht mehr gekommen. Schließlich habe die Klägerin bei ihrer Vernehmung durch die Polizei im Rahmen der Ermittlungen gegen ihre Kollegen aus der Chirurgie falsche Aussagen gemacht, um diese Kollegen zu denunzieren; dabei habe sie offensichtliche Dokumentationsfehler in den Narkoseprotokollen ausgenutzt. Das gelte insbesondere hinsichtlich der Protokolle der Patienten Ki…, Z…, R… und He…. Die Anhörung der Klägerin habe jedenfalls den dringenden Verdacht verstärkt, daß in der Anästhesie des Kreiskrankenhauses systematisch Betäubungen ohne Voruntersuchungen und korrekte Dokumentationen durchgeführt worden seien.

Das Arbeitsgericht hat nach umfänglicher Beweisaufnahme durch Vernehmung mehrerer Zeugen und Einholung eines Sachverständigengutachtens nach den obigen Klageanträgen erkannt. Die Berufung des Beklagten ist erfolglos geblieben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Beklagte nach wie vor die Klageabweisung.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung, § 565 Abs. 1 ZPO.

I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung – kurz zusammengefaßt – wie folgt begründet: Der Vorwurf mangelnder Prämedikation und fehlender Dokumentation sei in Übereinstimmung mit der Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts nicht aufrechtzuerhalten; insbesondere im Hinblick auf das Sachverständigengutachten könne eine außerordentliche Kündigung keinesfalls das gebotene Mittel sein, auf festgestellte Mängel zu reagieren; vielmehr habe der Beklagte als milderes Mittel eine Abmahnung aussprechen müssen. Der Vorwurf unzureichender Führung des Betäubungsmittelbuchs sei schon als Grund für eine außerordentliche Kündigung nach dem eigenen Vortrag des Beklagten nicht geeignet, da es nicht um unmittelbare Dokumentationspflichten der Klägerin, sondern lediglich um Kontrollpflichten gegenüber einem der Klägerin unterstellten Mitarbeiter gegangen sei, wie das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt habe. Der Vorwurf der falschen Beschuldigungen gegenüber den Ärzten der Chirurgie sei durch die Äußerungen der Patienten nicht bestätigt worden; selbst wenn die Klägerin hier leichtfertig einen Vorwurf geäußert habe, so liege darin kein Verhalten, das dem Beklagten die Fortsetzung des seit 20 Jahren bestehenden Arbeitsverhältnisses mit der zur Zeit der Kündigung 55jährigen Klägerin unzumutbar mache. Schließlich bestehe auch kein dringender Verdacht grundsätzlich fehlerhafter, unterlassener oder nachträglicher Dokumentation; die nachgewiesenen Pflichtverletzungen bzw. Nachlässigkeiten bei der Dokumentation berechtigten den Beklagten nur zu einer entsprechenden Abmahnung.

II. Die gegenüber dieser Würdigung erhobenen Rügen greifen schon in dem Punkt durch, daß eine Gesamtwürdigung der festgestellten Vertragsverstöße hinsichtlich der einzelnen, geltend gemachten Kündigungsvorwürfe durch das Berufungsgericht nicht vorgenommen worden ist; die Revision beanstandet zu Recht, daß das Landesarbeitsgericht sich mit einer isolierten Betrachtung einzelner Kündigungsgründe begnügt habe. Auch diese ist indessen nicht rechtsfehlerfrei.

1. Bei einer Kündigung, die auf mehrere Gründe gestützt wird, ist zunächst zu prüfen, ob jeder Sachverhalt für sich allein geeignet ist, die Kündigung zu begründen. Erst wenn die isolierte Betrachtungsweise nicht bereits zur Feststellung der Wirksamkeit der Kündigung führt, ist im Wege einer einheitlichen Betrachtungsweise zu prüfen, ob die einzelnen Kündigungsgründe in ihrer Gesamtheit die außerordentliche Kündigung rechtfertigen (ständige Rechtsprechung des BAG, vgl. Urteil vom 22. Juli 1982 – 2 AZR 30/81 – AP Nr. 5 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung, zu III 3 der Gründe, m.w.N.; zur außerordentlichen Kündigung: BAG Urteil vom 10. Dezember 1992 – 2 AZR 271/92 – AP Nr. 41 zu Art. 140 GG, zu III 3c cc der Gründe; zuletzt Senatsurteil vom 20. November 1997 – 2 AZR 643/96 – zur Veröffentlichung vorgesehen, zu II 2 der Gründe), wobei in die Gesamtwürdigung bislang allerdings nur gleichartige – z.B. mehrere verhaltensbedingte – Gründe einbezogen worden sind (vgl. Hillebrecht, ZfA 1991, 87, 126 f.; siehe auch KR-Hillebrecht, 4. Aufl., § 626 BGB Rz 186 a). Von letzterem ist hier auszugehen. Die Revision macht zutreffend geltend, alle der Klägerin vorgehaltenen Verstöße lägen im Bereich der verhaltensbedingten Kündigung, und zwar im Rahmen des Vertrauens und der innerbetrieblichen Verbundenheit. Dies betrifft sowohl den Kündigungsgrund der angeblich fehlenden Prämedikation und fehlenden Dokumentation– auch in der Form der Verdachtskündigung –, den Kündigungsgrund Führung und Kontrolle des Betäubungsmittelbuchs und schließlich den Vorwurf der falschen Beschuldigungen gegenüber den Ärzten der Chirurgie, der vom Beklagten jedenfalls auch damit begründet wird, die Klägerin habe offensichtliche Dokumentationsfehler in den Narkoseprotokollen ausgenutzt, um ihre Kollegen zu denunzieren; die aus ihrer Abteilung stammenden Dokumentationslücken habe die Klägerin benutzt, um den falschen Eindruck zu mehren, aus diesen Protokollen ließen sich ärztliche Sorgfaltspflichtverletzungen der Chirurgen und insbesondere ein verspäteter Operationsbeginn ableiten. Die gegenüber der Klägerin erhobenen Kündigungsvorwürfe sind damit in sich einheitlicher Art. Nach der zuvor aufgezeigten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts war daher eine Prüfung der einzelnen Kündigungsgründe in ihrer Gesamtheit unumgänglich.

2. Das gilt gerade auch für den vorliegenden Fall, in dem das Berufungsgericht die von dem Beklagten geltend gemachten Kündigungsgründe zunächst einzeln im Hinblick auf § 626 BGB durchgeprüft hat mit dem Ergebnis, daß jeder Kündigungsgrund für sich genommen eine außerordentliche Kündigung nicht trägt.

a) Beide Vorinstanzen prüfen die vorgetragenen Kündigungsgründe unter dem Gesichtspunkt des § 626 BGB, obwohl vorliegend nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts der BAT anwendbar ist, so daß für eine außerordentliche Kündigung § 54 BAT einschlägig ist. Das wirkt sich indessen nicht aus, weil die genannten Vorschriften nahezu wortgleich sind, so daß das Landesarbeitsgericht vom zutreffenden Rechtsbegriff des wichtigen Grundes ausgegangen ist (ebenso BAG Urteile vom 20. April 1977 – 4 AZR 778/75 – AP Nr. 1 zu § 54 BAT; vom 17. Mai 1984 – 2 AZR 161/83 – AP Nr. 3 zu § 55 BAT, zu II 2b der Gründe und vom 31. Januar 1996 – 2 AZR 158/95 – BAGE 82, 124, 133 = AP Nr. 13 zu § 626 BGB Druckkündigung, zu II 4 der Gründe). Da die Klägerin im Hinblick auf Alter und Dienstzugehörigkeit unstreitig die Voraussetzungen des § 53 Abs. 3 BAT erfüllt, konnte ihr gemäß § 55 Abs. 1 BAT nur noch aus wichtigen Gründen fristlos gekündigt werden.

b) Der in §§ 54, 55 BAT, § 626 Abs. 1 BGB verwandte Begriff des wichtigen Grundes ist ein unbestimmter Rechtsbegriff; seine Anwendung durch die Tatsachengerichte kann im Revisionsverfahren nur daraufhin überprüft werden, ob das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter diese Rechtsnormen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat und ob es alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände, die für oder gegen die außerordentliche Kündigung sprechen, widerspruchsfrei beachtet hat (ständige Rechtsprechung, vgl. u.a. Senatsurteil vom 31. Januar 1996, aaO, zu II 4 der Gründe und Senatsbeschluß vom 21. Juni 1995 – 2 ABR 28/94 – BAGE 80, 185, 189 = AP Nr. 36 zu § 15 KSchG 1969, zu B II 1 der Gründe, m.w.N.).

c) Unter Berücksichtigung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabes hält schon die Einzelbewertung der erhobenen Kündigungsvorwürfe den Revisionsangriffen teilweise nicht stand.

aa) Das gilt zunächst für den Kündigungsgrund “mangelnde Prämedikation und fehlende Dokumentation von Anästhesieprotokollen”. Das Landesarbeitsgericht hat das diesbezügliche Vorbringen des Beklagten sowohl unter dem Gesichtspunkt einer bewußten Vertragspflichtverletzung als auch im Hinblick auf den dringenden Verdacht grundsätzlich fehlerhafter, unterlassener oder nachträglicher Dokumentation geprüft. Hinsichtlich des ersten Prüfungsgesichtspunktes, bei dem sich das Landesarbeitsgericht weitgehend auf die Ausführungen des Arbeitsgerichts im Anschluß an dessen Beweisaufnahme bezieht (§ 543 ZPO), rügt die Revision mit Recht, das Landesarbeitsgericht habe im Zusammenhang mit der von ihm festgestellten Dokumentationspflichtverletzung die haftungsrechtliche Problematik des Verhaltens der Klägerin nicht berücksichtigt. Das Arbeitsgericht hatte richtig darauf hingewiesen, daß eine ordnungsgemäße Dokumentation sämtlicher ärztlicher Maßnahmen heute im Arzthaftungsrecht von ausschlaggebender Bedeutung für die Entlastung des Krankenhausträgers bei schadensstiftenden Behandlungsergebnissen ist; es hatte mit entsprechenden Nachweisen auch darauf verwiesen, daß die Dokumentation jeweils vollständig bis spätestens zum Ende des einzelnen Behandlungsabschnitts vorliegen müßte. Geschehe dies nicht oder werde gar falsch dokumentiert, so kehre sich die Beweislast zu Ungunsten des Krankenhausträgers um. Das Landesarbeitsgericht hat bei seiner Beweiswürdigung nicht berücksichtigt, daß bereits der Nachweis, daß ein Arzt in mehreren Einzelfällen eines Operationstages Dokumentationen nachträglich erstellt und inhaltlich falsch dokumentier hat, genügt, um den Beweiswert sämtlicher Dokumentationen dieses Arztes erheblich zu erschüttern. Die damit verbundene nachträgliche Haftungsgefahr des Krankenhausträgers ist erheblich. Das Landesarbeitsgericht wird diesem Umstand nach der Zurückverweisung Bedeutung beizumessen und außerdem zu würdigen haben, daß jedenfalls wegen der Vorbildfunktion der Klägerin in ihrer Eigenschaft als verantwortliche Chefärztin der Anästhesieabteilung dieses Haftungsrisiko nicht gering zu veranschlagen ist (vgl. dazu auch die Ausführungen des Sachverständigen in dessen Gutachten vom 9. April 1995, S. 11 bis 13).

bb) Die Revision macht ferner geltend, das Berufungsgericht habe den Sachvortrag insoweit nicht ausreichend ausgeschöpft, als die Kündigung im Berufungsverfahren hilfsweise auf den dringenden Verdacht grundsätzlich fehlerhafter, unterlassener und nachträglicher Dokumentation in Anästhesieprotokollen gestützt worden sei. Diese Rüge greift nicht durch.

Das Landesarbeitsgericht hat den Sachvortrag unter dem Gesichtspunkt eines dringenden Verdachts geprüft und ist zum Ergebnis gekommen, nach seinen Feststellungen und denen des Arbeitsgerichts lägen nachgewiesene Pflichtverletzungen bzw. Nachlässigkeiten bei der Dokumentation vor, diese berechtigten auch zum Ausspruch entsprechender Abmahnungen, um die Einhaltung der für notwendig erachteten Dokumentationspflichten sicherzustellen; sie begründeten aber keinen weitergehenden Verdacht auf schwerer wiegende Pflichtverletzungen, insbesondere grundsätzlich fehlerhafte, unterlassene oder nachträgliche Dokumentation.

Die Argumentation der Revision läuft insofern darauf hinaus, zu unterstellen, wer an einem Operationstag in vier Fällen in einem gewissen Umfang unvollständig dokumentiere, tue das in allen anderen Fällen ebenso. Dieser Rückschluß, der auf eine pauschale Vorverurteilung hinausläuft, ist jedoch für weitere Fallsituationen als die, die das Landesarbeitsgericht über die Würdigung des Arbeitsgerichts hinaus beurteilt hat, von dem Beklagten nicht im einzelnen vorgetragen und unter Beweis gestellt worden. Soweit mit der Revision beanstandet wird, das Landesarbeitsgericht sei dem Beweisantritt durch Vernehmung der vier Patienten als Zeugen auf fehlende körperliche Voruntersuchungen nicht gefolgt, sind die diesbezüglichen Umstände von den Vorinstanzen – insbesondere nach den Ausführungen des Sachverständigen, der insofern auch Voruntersuchungen anderer Ärzte hat gelten lassen – ausführlich gewürdigt worden, die Revision will lediglich diese Würdigung nicht gelten lassen.

Im übrigen wird mit der Revision nur pauschal an der früheren Behauptung festgehalten, die Klägerin habe insgesamt 61 Narkoseprotokolle nach eigener Überprüfung an die Staatsanwaltschaft zuleiten lassen, von denen lediglich zwölf einigermaßen korrekt und vollständig ausgefüllt worden seien. Insofern fehlt jeder nähere, spezifizierte Vortrag, inwiefern von den eingereichten Narkoseprotokollen angeblich “lediglich zwölf einigermaßen korrekt und vollständig ausgefüllt” worden sein sollen. Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Landesarbeitsgericht auf diesen unsubstantiierten Vortrag nicht weiter eingegangen ist.

cc) Soweit die Revision eine fehlerhafte Anwendung von § 626 BGB, §§ 54, 55 BAT zu dem Kündigungsgrund “Vorwurf wissentlich falscher Beschuldigungen gegenüber Kollegen” rügt, greift auch diese Rüge, was die Einzelbewertung des Landesarbeitsgerichts angeht, durch. Das Landesarbeitsgericht ist insofern im Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, falsche Beschuldigungen, wenn sie leichtfertig ohne erkennbaren Grund oder gar wissentlich erhoben würden, stellten an sich einen Kündigungsgrund dar; ein solches Verhalten der Klägerin ergebe sich aber gerade nicht aus den zur Begründung des Vorwurfs herangezogenen Vernehmungsprotokollen. Das Landesarbeitsgericht hat dabei die Vernehmungsprotokolle hinsichtlich der Patienten Z…, He…, Ki… und R… ausgewertet mit dem Ergebnis, es könne insofern unterstellt werden, daß die Klägerin hier leichtfertig einen Vorwurf geäußert habe, Dr. Ru… sei jedenfalls in den Fällen der Patienten Ki… und R… zu spät zur Operation erschienen. Das Berufungsgericht hat dieses Verhalten der Klägerin dann aber dahin gewürdigt, angesichts des 20 Jahre bestehenden Arbeitsverhältnisses und im Hinblick auf das Alter der Klägerin werde es dem Beklagten hierdurch nicht unzumutbar gemacht, eine vorübergehende Beeinträchtigung des Betriebsfriedens hinzunehmen; es erscheine nicht ausgeschlossen, daß eine tragfähige Basis zukünftiger Zusammenarbeit durch geeignete Personalführungsmaßnahmen wieder herzustellen sei, zumal inzwischen auch alle Ermittlungsverfahren eingestellt worden seien.

Diese Würdigung ist in sich widersprüchlich; es ist auch nicht ausgeschlossen, daß das Landesarbeitsgericht bei dem letzten Gesichtspunkt (inzwischen erfolgte Einstellung der Ermittlungsverfahren) zumindest mitentscheidend auf einen Umstand abgestellt hat, der zeitlich weit nach dem Kündigungszeitpunkt liegt, auf den bei der Beurteilung einer Kündigung allein abzustellen ist (vgl. nur Senatsurteil vom 27. Februar 1997 – 2 AZR 160/96 – AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Wiedereinstellung, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Widersprüchlich ist das Urteil insofern, als es im Obersatz richtigerweise davon ausgeht, leichtfertig oder gar wissentlich falsche Beschuldigungen stellten an sich einen Kündigungsgrund dar, im weiteren Verlauf der Begründung (Urteil S. 18) dann aber einen “leichtfertig im oben beschriebenen Sinne” geäußerten Vorwurf der Klägerin unterstellt und– zumindest ohne nähere Begründung, was bei der Position der Klägerin sowie der Bedeutung des Vorwurfs für den Arbeitskollegen und das Krankenhaus erforderlich gewesen wäre –ausführt, darin liege kein Verhalten, das zur außerordentlichen Kündigung berechtige. Hier wird das Landesarbeitsgericht richtigerweise klären müssen, ob tatsächlich eine leichtfertig aufgestellte, wissentlich falsche Beschuldigung anzunehmen ist.

Außerdem sind insoweit auch nicht alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Umstände (vgl. dazu oben zu II 2 b) gewürdigt worden. Dazu gehört, daß der Klägerin schon aus Anlaß des Verhaltens gegenüber dem früheren Chefarzt der Chirurgie unter dem 5. Juli 1990 eine Abmahnung erteilt worden ist, die im Wortlaut allerdings nicht zu den Akten gelangt ist, so daß auch die Frage des inhaltlichen Zusammenhangs mit dem jetzigen Verhalten nicht gewürdigt werden kann. Dagegen könnte die zweite Abmahnung vom 27. August 1992 ohne weiteres einschlägig sein. Bei ihr ergibt sich aber aus den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (§ 561 ZPO), daß diese nach einem Vergleich vor dem Landesarbeitsgericht (im Verfahren – 12 Sa 45/94 –) aus den Personalakten entfernt worden ist, ohne daß damit klar geworden ist, ob der Beklagte kündigungsrechtlich auf diese Abmahnung nicht mehr zurückgreifen kann (vgl. dazu etwa BAG Urteile vom 16. November 1989 – 6 AZR 64/88 – BAGE 63, 240 = AP Nr. 2 zu § 13 BAT und vom 21. Mai 1992 – 2 AZR 551/91 – AP Nr. 28 zu § 1 KSchG 1969 Verhaltensbedingte Kündigung). Die Einzelbewertung dieses Kündigungsvorwurfs ist daher nicht nur widersprüchlich, sondern außerdem unvollständig (vgl. dazu auch noch unter II 2 e).

d) Das Landesarbeitsgericht ist im Gegensatz zur Vorinstanz davon ausgegangen, daß sämtliche von dem Beklagten angeführten Kündigungsgründe zu würdigen seien und daß insoweit nicht etwa aus personalvertretungsrechtlichen Gründen nur eine eingeschränkte Überprüfung möglich sei. Das Landesarbeitsgericht ist in Anwendung der §§ 77, 78, 79 Nr. 1d PersVG Hessen (HPVG) davon ausgegangen, daß eine Anhörung des Personalrats zur Kündigung der Klägerin nicht erforderlich war, da es sich bei ihr um eine leitende Ärztin am Krankenhaus im Sinne des § 79 Nr. 1d HPVG handelte, so daß das vom Arbeitsgericht angenommene Verwertungsverbot für einen Teil der Kündigungsgründe, soweit diese dem Personalrat nicht mitgeteilt waren, nicht zum Tragen kam. Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist aus revisionsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden; eine Gegenrüge der Klägerin liegt dazu nicht vor.

In § 79 Nr. 1d HPVG ist bestimmt, daß u.a. die Vorschrift des § 77 Abs. 3 HPVG, wonach der Personalrat vor fristlosen Entlassungen und außerordentlichen Kündigungen anzuhören ist, nicht “für leitende Ärzte an Krankenhäusern, Sanatorien und Heilanstalten” gilt. Hierbei handelt es sich ersichtlich um eine abschließende Aufzählung im Gesetzestext, so daß die zu § 5 Abs. 3 BetrVG entwickelten, den Kreis der leitenden Angestellten ausweitenden, Grundsätze wegen der strukturellen Unterschiede nicht auf die Regelungen des HPVG übertragen werden können. Die Bestimmung des § 79 Nr. 1 HPVG führt enumerativ unter a) bis f) Personen auf, für die die Mitbestimmung in personellen Angelegenheiten kraft gesetzlicher Regelung entfallen soll. Da der Klägerin als Chefärztin für Anästhesie die Leitung der entsprechenden Abteilung des Kreiskrankenhauses S… obliegt, handelt es sich bei ihr um eine leitende Ärztin im Sinne der genannten Vorschrift. So geht auch die einschlägige Kommentarliteratur und Rechtsprechung – soweit ersichtlich – davon aus, daß zu den leitenden Ärzten nicht nur die Dienststellenleiter oder vergleichbare herausgehobene ärztliche Funktionsträger gehören, sondern auch die Leiter von Krankenhausabteilungen (vgl. Rothländer in Maneck/Schirrmacher, Hessisches Bedienstetenrecht, Stand: Dez. 1997, § 79 HPVG Rz 49; Spiess/Schirmer, Personalvertretungsrecht Hessen, 6. Aufl., Erl. zu § 79 und VerwG Frankfurt am Main Beschluß vom 23. Oktober 1995 – 23 L 9/95 – HessVGRspR 1996, S. 63, 64 und Hessischer VGH vom 14. November 1996 – 22 TL 4317/95 – ZBR 1997, 161). Es braucht daher nicht mehr erörtert zu werden, ob der Auffassung des Arbeitsgerichts zuzustimmen ist, der Beklagte habe mit seinem Schreiben vom 24. September 1993 den Personalrat nur unvollständig zu den vom Beklagten im Prozeß angeführten Kündigungsgründen angehört.

e) Das Berufungsurteil unterliegt, wie bereits einleitend zu II 2 angedeutet wurde, jedenfalls deshalb der Aufhebung, weil nach der Feststellung, daß nicht bereits die isolierte Betrachtungsweise der einzelnen Kündigungsgründe zur Annahme der Rechtfertigung der Kündigung führt, nunmehr im Wege einer einheitlichen Betrachtungsweise zu prüfen war, ob die einzelnen Kündigungsgründe in ihrer Gesamtheit Umstände darstellen, die in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien dem Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar machte.

Hierfür könnte immerhin sprechen, daß das Landesarbeitsgericht zu den isoliert betrachteten Kündigungssachverhalten jeweils festgestellt hat, zwar sei die außerordentliche Kündigung nicht das gebotene Mittel gewesen, auf die festgestellten Mängel zu reagieren, indessen sei als milderes Mittel eine Abmahnung am Platze gewesen. Dies hat das Landesarbeitsgericht sowohl bei dem Kündigungssachverhalt “Pflichtverletzung durch fehlende Prämedikation und entsprechende Dokumentation”, bei dem Sachverhalt eines dringenden Verdachts grundsätzlich fehlerhafter, unterlassener oder nachträglicher Dokumentation wie schließlich auch bei dem Kündigungssachverhalt “falsche Beschuldigungen gegenüber den Ärzten der Chirurgie” betont. In diesem Zusammenhang wird auch zu beurteilen sein, ob die früheren Abmahnungen (siehe oben zu II 2 c) noch von Relevanz sind sowie ob dem Beklagten je nach den Umständen angesonnen werden kann, statt der Kündigung eine weitere Abmahnung auszusprechen (vgl. dazu KR-Etzel, 4. Aufl., § 1 KSchG Rz 390; KR-Hillebrecht, aaO, § 626 BGB Rz 96 c; Hueck/von Hoyningen-Huene, KSchG, 12. Aufl., § 1 Rz 293). Auch die Ausführungen zum Kündigungssachverhalt “Führung und Kontrolle des Betäubungsmittelbuchs” lassen immerhin erkennen, daß das Berufungsgericht nur im Rahmen der Interessenabwägung diesen Kündigungsgrund nicht als solchen anerkannt hat, der eine außerordentliche Kündigung für sich allein rechtfertigt. Das Landesarbeitsgericht wird daher unter Beachtung der zuvor erörterten Gesichtspunkte zunächst eine Würdigung der einzelnen Kündigungsgründe und dann ggf. in ihrer Gesamtheit nachzuholen haben, ohne daß der Senat dem vorgreifen kann.

3. In Abhängigkeit zu dem Urteilsausspruch der Feststellungsklage unterliegt auch der Ausspruch zur Weiterbeschäftigung der Aufhebung und Zurückverweisung.

 

Unterschriften

Etzel, Bitter, Fischermeier, Nielebock, Dr. Kirchner

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2628889

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