Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfassungswidrigkeit einer Angestelltenkündigungsfrist-Kleinstbetriebsklausel. Vorlagebeschluß des Senats vom 16. Januar 1992 – 2 AZR 657/87 – AP Nr. 12 zu § 2 AngestelltenkündigungsG, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen

 

Leitsatz (amtlich)

Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die rückwirkende Änderung der Angestellten-Kündigungsfristen aufgrund des Kündigungsfristengesetzes vom 7. Oktober 1993 für Betriebe, die in der Regel nicht mehr als zwei Angestellte beschäftigen (§ 2 AngKSchG 1926).

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 100 Abs. 1; AngKSchG § 2; BGB § 622 Abs. 1 S. 1; KündFG vom 7. Oktober 1993 Art. 2; KündFG vom 7. Oktober 1993 Art. 7

 

Verfahrensgang

LAG Niedersachsen (Urteil vom 04.05.1987; Aktenzeichen 12 Sa 1767/86)

ArbG Hannover (Urteil vom 26.08.1986; Aktenzeichen 11 Ca 145/86)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 4. Mai 1987 – 12 Sa 1767/86 – aufgehoben.

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 26. August 1986 – 11 Ca 145/86 – abgeändert.

Es wird festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 6. Mai 1986 nicht zum 30. Juni 1986, sondern zum 30. September 1986 aufgelöst worden ist.

Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die am 19. Februar 1939 geborene Klägerin war seit 1965 bei dem beklagten Arzt bzw. dessen Rechtsvorgänger als Arzthelferin angestellt. Neben ihr beschäftigte der Beklagte noch eine weitere Angestellte. Mit Schreiben vom 6. Mai 1986 kündigte er das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30. Juni 1986.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, die Kündigung sei erst zum 30. September 1986 wirksam geworden. Zwar seien die Kündigungsfristen des Gesetzes über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 9. Juli 1926 (AngKSchG) auf das Arbeitsverhältnis nicht anwendbar, da der Beklagte nicht mehr als zwei Angestellte beschäftige. Zur Vermeidung einer grundgesetzwidrigen Ungleichbehandlung müßten jedoch die für gewerbliche Arbeitnehmer unabhängig von der Betriebsgröße geltenden Fristen des § 622 Abs. 2 BGB a.F. entsprechend angewandt werden. Bei ihrer mehr als 20-jährigen Betriebszugehörigkeit ergebe sich daraus eine Kündigungsfrist von drei Monaten zum Schluß eines Kalendervierteljahres.

Die Klägerin hat beantragt

festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten vom 6. Mai 1986 nicht zum 30. Juni 1986 aufgelöst worden ist, sondern bis zum 30. September 1986 fortdauert.

Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

Er hat die Ansicht vertreten, eine analoge Anwendung der für gewerbliche Arbeitnehmer geltenden Fristen des § 622 Abs. 2 BGB auf Angestellte sei nicht möglich.

Das Arbeitsgericht hat durch Urteil vom 26. August 1986 die Klage abgewiesen. Es hat das Vorliegen einer grundgesetzwidrigen Ungleichbehandlung verneint. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 4. Mai 1987 zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr ursprüngliches Klageziel weiter. Der Senat hat zunächst durch Beschluß vom 17. März 1988 den Rechtsstreit bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in mehreren Normenkontrollverfahren ausgesetzt, die die Verfassungsmäßigkeit der Regelung des § 622 Abs. 2 BGB über die Grundkündigungsfrist und die verlängerten Kündigungsfristen für Arbeiter betrafen. Durch Beschluß vom 16. Januar 1992 hat der Senat den Rechtsstreit dann nochmals ausgesetzt und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber eingeholt, ob § 2 Satz 1 des Gesetzes über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 9. Juli 1926 mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, soweit danach die Beschäftigung von in der Regel mehr als zwei Angestellten durch den Arbeitgeber Voraussetzung für die Verlängerung der Frist für die Kündigung von Angestellten ist. Diesen Vorlagebeschluß hat der Senat nach Verkündung des neuen Kündigungsfristengesetzes im Benehmen mit dem Bundesverfassungsgericht durch getrennten Beschluß vom 17. März 1994 aufgehoben.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Zu Unrecht haben die Vorinstanzen die Klage abgewiesen. Dem Antrag der Klägerin auf Feststellung, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Beklagten nicht zum 30. Juni 1986 aufgelöst worden ist, sondern bis zum 30. September 1986 fortbestanden hat, war stattzugeben.

1. Im vorliegenden Rechtsstreit, in dem es um die Kündigungsfrist einer Angestellten durch einen Arbeitgeber geht, der nur zwei Angestellte beschäftigt, finden allein die Kündigungsfristen des KündFG Anwendung. Das Gesetz über die Fristen für die Kündigung von Angestellten vom 9. Juli 1926 (RGBl. I S. 399, 412, zuletzt geändert durch Art. 4 BeschFG 1985 vom 26. April 1985 BGBl. I S. 710) ist durch Art. 7 des Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz-KündFG) vom 7. Oktober 1993 (BGBl. I S. 1668) außer Kraft gesetzt worden. Für Rechtsstreite, die am 15. Oktober 1993 noch anhängig sind, gilt die Übergangsregelung des Art. 2 KündFG. Danach finden die neuen Kündigungsfristen des KündFG in anhängigen Rechtsstreiten u.a. dann Anwendung, wenn die Entscheidung über den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses von § 2 Abs. 1 Satz 1 AngKSchG abhängt, soweit danach die Beschäftigung von in der Regel mehr als zwei Angestellten durch den Arbeitgeber Voraussetzung für die Verlängerung der Fristen für die Kündigung von Angestellten ist.

2. Es bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die rückwirkende Änderung der Angestelltenkündigungsfristen in Betrieben, die in der Regel nicht mehr als zwei Angestellte beschäftigen. Es liegt in der Kompetenz des Gesetzgebers – wie vorliegend geschehen – verfassungswidrige Bestimmungen auch rückwirkend zu ändern. Weder das Rechtsstaats- noch das Sozialstaatsprinzip stehen grundsätzlich einer gesetzlichen Regelung entgegen, die rückwirkend einen verfassungswidrigen Zustand beseitigt (vgl. BAG Teilurteil vom 21. März 1991 – 2 AZR 323/84 (A) – BAGE 67, 342 = AP Nr. 29 zu § 622 BGB). Die Kleinstbetriebsklausel des § 2 Abs. 1 Satz 1 AngKSchG war, wie der Senat in dem Beschluß vom 16. Januar 1992 (– 2 AZR 657/87 – AP Nr. 12 zu § 2 AngestelltenkündigungsG, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen) näher dargelegt hat, verfassungswidrig und durch die Neuregelung ist der Gesetzgeber nur den Anforderungen des Grundrechts des Art. 3 Abs. 1 GG gerecht geworden.

Auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes bestehen keine Bedenken gegen die Übergangsregelung des Art. 2 KündFG. Das Vertrauen des Staatsbürgers ist nicht schutzwürdig, wenn es sich auf eine ungültige Norm bezieht, die nur einen Rechtsschein erzeugt hat (BVerfGE 13, 261, 272). Dasselbe muß aber auch gelten, wenn eine Norm infolge des Wegfalls einer anderen Norm in der gesetzlichen Gesamtregelung sich offenbar als systemwidrig und ungerecht herausstellt, so daß ernsthafte Zweifel an ihrer Verfassungsmäßigkeit entstehen müssen. Dem Gesetzgeber ist es deshalb nicht verwehrt, die Rechtslage rückwirkend zu ändern. Er kann und wird dies gerade deshalb tun, weil er mit Rücksicht auf die Forderung der Rechtsstaatlichkeit statt anfechtbarem unanfechtbares Recht setzen will, um die Rechtssicherheit wieder herzustellen (BVerfG Beschluß vom 16. November 1965 – 2 BvL 8/64 – AP Nr. 4 zu Art. 20 GG). So liegt der Fall hier:

Die unterschiedlichen gesetzlichen Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellten waren spätestens seit den Vorlagebeschlüssen, die zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 (BVerfGE 82, 126) geführt haben (z.B. Beschluß des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 23. April 1982 – 3 Sa 10/82 –) wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG umstritten. Die Rechtswidrigkeit der kürzeren gesetzlichen Kündigungsfristen für Arbeiter mußte sich aber zwangsläufig auf die Kleinstbetriebsklausel des AngKSchG auswirken. War nach dem Gleichheitssatz eine Angleichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten erforderlich, so war es systemwidrig, eine gesetzliche Vorschrift bestehen zu lassen, die in Kleinstbetrieben den Angestellten nicht einmal die früheren verlängerten Kündigungsfristen für Arbeiter gewährte. Es bestanden deshalb bereits zur Zeit der Kündigung der Klägerin ernsthafte Zweifel, ob nicht die Kleinstbetriebsklausel des § 2 Abs. 1 Satz 1 AngKSchG wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig war. In einem solchen Fall durfte der Gesetzgeber die Rechtslage für die noch anhängigen Rechtsstreite rückwirkend klären. Er brauchte nicht abzuwarten, ob das Bundesverfassungsgericht die Nichtigkeit der Norm feststellte. Abgesehen davon hat die Klägerin im vorliegenden Verfahren sich von Anfang an auf die Verfassungswidrigkeit des § 2 Abs. 1 Satz 1 AngKSchG berufen.

3. Die Kündigungsfrist nach § 622 Abs. 2 BGB i.d.F. des KündFG beträgt im vorliegenden Fall sieben Monate zum Ende eines Kalendermonats. Die 1939 geborene Klägerin war seit 1965 im Betrieb des Beklagten bzw. seines Rechtsvorgängers beschäftigt. Sie war deshalb im Zeitpunkt der Kündigung am 6. Mai 1986 nach Vollendung des 25. Lebensjahres länger als 20 Jahre im Betrieb tätig. Die Klage, mit der die Klägerin lediglich den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bis 30. September 1986 begehrt, ist damit nach § 622 Abs. 2 BGB i.d.F. des KündFG jedenfalls begründet.

4. Der Beklagte hat nach § 91 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

 

Unterschriften

Bitter, Bröhl, Dr. Rost, Brocksiepe, Timpe

 

Fundstellen

Haufe-Index 856642

BB 1994, 1354-1355 (LT1)

DB 1994, 1476-1477 (LT1)

EBE/BAG 1994, 106 (LT1)

NZA 1994, 785

NZA 1994, 785-786 (LT1)

RzK, I 3a Nr 13 (LT1)

ZAP, EN-Nr 660/94 (L1)

AP § 622 BGB (LT1), Nr 45

EzA-SD 1994, Nr 13, 12-13 (LT1)

EzA § 622 nF BGB, Nr 49 (LT1)

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