Entscheidungsstichwort (Thema)

Durchschnittsverdienst. Reklamation eines Prämiensatzes

 

Leitsatz (amtlich)

§ 3 Nr. 11 des Tarifvertrages über Prämienentlohnung für gewerbliche Arbeitnehmer in Betrieben der Holzindustrie und des Serienmöbelhandwerks in Westfalen-Lippe vom 1. Februar 1988, der bei einer Reklamation von Prämiensätzen die Zahlung des Durchschnittsverdienstes für die betroffenen Arbeiten bis zum Abschluß des Reklamationsverfahrens vorschreibt, räumt den Arbeitnehmern nur einen vorläufigen Anspruch ein. Vom Ausgang des Reklamationsverfahrens hängt es ab, welche Vergütung die Arbeitnehmer endgültig erhalten. Die Zahlung des Durchschnittsverdienstes steht unter dem Vorbehalt, daß sich der Prämienlohn nicht als niedriger erweist als der individuelle Durchschnittsverdienst.

 

Normenkette

TVG § 1 Tarifverträge: Holz; Tarifvertrag über Prämienregelung für gewerbliche Arbeitnehmer in Betrieben der Holzindustrie und des Serienmöbelhandwerks in Westfalen-Lippe (Tarifvertrag Prämienentlohnung) vom 1. Februar 1988 § 3 Nr. 11; BGB § 319 Abs. 1; ZPO § 253 Abs. 2 Nr. 2

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Urteil vom 29.09.1993; Aktenzeichen 15 Sa 449/93)

ArbG Herford (Urteil vom 03.02.1993; Aktenzeichen 2 Ca 1067/92)

 

Tenor

  • Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 29. September 1993 – 15 Sa 449/93 – wird zurückgewiesen.
  • Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe der dem Kläger für Juni 1992 zustehenden Arbeitsvergütung, eine davon abhängige Änderung der Lohnabrechnungen für Juni und Juli 1992 und die Zahlung einer sich daraus ergebenden Vergütungsdifferenz.

Der Kläger ist seit 1982 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Möbelindustrie, als Tischler beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft beiderseitiger Tarifbindung die Tarifverträge für die gewerblichen Arbeitnehmer in Betrieben der Holzindustrie und des Serienmöbelhandwerks in Westfalen-Lippe Anwendung.

§ 3 Nr. 10 und 11 des Tarifvertrags über Prämienregelung für gewerbliche Arbeitnehmer in Betrieben der Holzindustrie und des Serienmöbelhandwerks in Westfalen-Lippe (TV Prämienentlohnung) vom 1. Februar 1988 bestimmt folgendes:

  • Bestehende Prämien können mit einer Ankündigungsfrist von 14 Tagen abgeändert werden, wenn sich die in der Arbeitsbeschreibung festgehaltenen technischen oder organisatorischen Bedingungen des Arbeitsvollzugs geändert haben.

    Prämien sind sofort zu berichtigen, wenn offensichtliche Schreib-, Rechen- oder Ermittlungsfehler bekannt werden.

    Dem betroffenen Arbeitnehmer und dem Betriebsrat ist die Änderung bzw. Berichtigung bekanntzugeben.

  • Zur Beilegung von Prämienstreitigkeiten ist auf Antrag des Arbeitgebers oder des Betriebsrats eine Prämienkommission zu bilden.

    Die Kommission setzt sich aus je einem Vertreter – höchsten drei Vertretern – des Arbeitgebers und des Betriebsrats zusammen. Mitglied der Prämienkommission auf Betriebsratsseite kann auch ein fachlich orientierter Arbeitnehmer sein. Die Mitwirkung von Betroffenen ist ausgeschlossen.

    Kommt in der Prämienkommission keine Einigung zustande, so ist eine betriebliche Verständigung unter Hinzuziehung der Tarifvertragsparteien anzustreben. Kommt auch dann keine Einigung zustande, ist die Einigungsstelle anzurufen.

    Bei Prämienstreitigkeiten darf die Leistung der Prämienarbeit nicht unterbrochen werden.

    Wird der Prämiensatz erhöht, so gilt der höhere Satz vom Zeitpunkt der Reklamation an. Wird der Prämiensatz gesenkt, so gilt dieser vom Zeitpunkt der Neufestsetzung an.

    Für die Dauer der Arbeitszeit an einer Arbeit, für die der Prämiensatz reklamiert wird, wird der Durchschnittsverdienst des jeweiligen Arbeitnehmers gezahlt.”

Am 4. und 5. Juni 1992 führte der Kläger an insgesamt 12,74 Stunden die Arbeiten “770 Zarge lang Einschneiden” and “771 Zarge kurz Einschneiden” aus. Dafür zahlte die Beklagte dem Kläger einen Prämienlohn von 19, 25 DM pro Stunde. Der Durchschnittsverdienst des Klägers belief sich auf 27,29 DM brutto. Am 5. Juni 1992 beanstandete der Betriebsrat gegenüber der Geschäftsleitung die Vorgabezeiten 770 und 771, die bis dahin ohne Beanstandung seit dem Jahre 1988 gegolten hatten. An der Maschine und am Arbeitsablauf hatte sich nichts geändert.

Die bei der Beklagten gebildete Prämienkommission traf bis zum Abschluß des zweitinstanzlichen Verfahrens keine Entscheidung über die Reklamation des Betriebsrats zu den im vorliegenden Fall maßgeblichen Vorgabezeiten, weil diese Vorgabezeiten ein von der Beklagten nicht mehr produziertes Modell betrafen und künftig nur noch bei Nachbestellungen Bedeutung gewinnen können.

Der Kläger hat für die 12, 74 Stunden, die am 4. und 5. Juni 1992 bei den von der Reklamation erfaßten Arbeiten anfielen, den Unterschiedsbetrag zwischen der gewährten Prämienvergütung von 19,25 DM brutto pro Stunde und seinem Durchschnittslohn von 27,29 DM brutto pro Stunde = 8,04 DM brutto ×  12,74 = 102,42 DM brutto verlangt. Er hat die Auffassung vertreten, nach § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung stehe ihm ein Anspruch auf Zahlung des Durchschnittslohnes unabhängig davon zu, ob die reklamierten Vorgabezeiten richtig oder unrichtig seien. Einzige tarifliche Anspruchsvoraussetzung sei, daß eine Reklamation des Betriebsrats vorliege. Auch wenn sich die Reklamation als unberechtigt erweise, könne er den Durchschnittslohn behalten, der ihm nach § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung während der Dauer des Reklamationsverfahrens zu zahlen sei.

Der Kläger hat beantragt,

  • die Beklagte zu verurteilen, an ihn 102,42 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich ergebenen Nettobetrag seit dem 19. August 1992 zu zahlen,
  • die Beklagte zu verurteilen, auf der Grundlage eines für Mai 1992 für 12,74 Stunden zu zahlenden Durchschnittslohnes von 27,29 DM für Juni 1992 eine neue Abrechnung zu erteilen und die sich daraus ergebenden Beträge an den Kläger auszuzahlen,
  • die Beklagte zu verurteilen, auf der Grundlage des sich aus der neu zu erteilenden Abrechnung für Juni 1992 ergebenden Durchschnittslohnes für Juli 1992 eine neue Abrechnung zu erstellen und die sich daraus ergebenden Beträge an den Kläger auszuzahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, aus § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung ergebe sich allenfalls ein Anspruch auf vorläufige Zahlung. Einen derartigen Anspruch habe der Kläger aber nicht geltend gemacht. Er habe den Durchschnittsverdienst nur als endgültige Zahlung verlangt.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch nicht zu. Der Senat folgt dem Landesarbeitsgericht im Ergebnis und weitgehend auch in der Begründung.

I. Mit der bezifferten Zahlungsklage hat der Kläger einen auf § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung gestützten Anspruch auf unbedingte Zahlung des Durchschnittslohnes für die vom reklamierten Prämiensatz erfaßten, am 4. und 5. Juni 1992 geleisteten 12,74 Stunden geltend gemacht.

1. Der Kläger hat, wie das Landesarbeitsgericht richtig erkannt hat, ausschließlich auf unbedingte Zahlung geklagt.

a) Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht nicht nur den Inhalt der Schriftsätze, sondern auch die Erklärungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung berücksichtigt. Er hat bei der Erörterung der Klageforderung in der Berufungsverhandlung die Auffassung vertreten, ihm stehe unabhängig vom Ausgang des Reklamationsverfahrens ein Anspruch auf den Durchschnittslohn zu, der ihm in jedem Fall verbleiben müsse (vgl. S. 17 des Berufungsurteils). Dies stand im Einklang mit seinem schriftsätzlichen Vorbringen. Zu keinem Zeitpunkt hatte er sich darauf berufen, daß ihm zumindest ein Anspruch auf vorläufige Zahlung des Durchschnittslohnes zustehe. Vielmehr hat er darauf bestanden, den Durchschnittsverdienst für die am 4. und 5. Juni 1992 angefallenen 12,74 Stunden nicht nur vorläufig, sondern endgültig zu erhalten. Selbst wenn eine vorläufige Leistung gegenüber einer endgültigen Leistung nicht als etwas anderes, sondern lediglich als weniger anzusehen ist, bleibt es dem Kläger unbenommen, den Klageantrag auf die weltergehende Leistung zu beschränken. Davon ist das Landesarbeitsgericht rechtsfehlerfrei ausgegangen.

b) Der Kläger hat keine rechtlich erheblichen Rügen gegen diese Auslegung des Klageantrags erhoben.

aa) In der Revisionsbegründung (S. 5 ff.) betont der Kläger erneut, daß nach § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung auch bei einer Bestätigung des reklamierten Prämiensatzes in jedem Fall der Durchschnittslohn zu zahlen sei und eine Korrektur für die Zeit des Reklamationsverfahrens selbst dann zu unterbleiben habe, wenn die Reklamation für den Arbeitnehmer zu keinem besseren oder sogar zu einem schlechteren Ergebnis führe. Demnach begehrt der Kläger nach wie vor nicht nur eine vorläufige, sondern ausschließlich die unbedingte Zahlung des Durchschnittsverdienstes für die Arbeiten, die von der Reklamation erfaßt und während der Dauer des Reklamationsverfahrens ausgeführt wurden.

bb) Auf Seite 7 Nr. 2 der Revisionsbegründungsschrift beruft sich der Kläger zwar darauf, er verlange keine endgültige Vergütung, weil er die Zahlung des Durchschnittsverdienstes nur für die Dauer des Reklamationsverfahrens und nicht “für alle Zukunft” fordere. Der Kläger hat jedoch die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts mißverstanden. Er unterscheidet nicht hinreichend zwischen vorbehaltloser, unbedingter Zahlung einerseits und Anspruchsdauer andererseits. Dies wird dadurch unterstrichen, daß er von einem “Teilanspruch” auf den Durchschnittsverdienst spricht, der ihm “zumindest für die in Rede stehenden Arbeitszeiten am 4. und 5. Juni 1992” zustehe. Das Landesarbeitsgericht hat mit dem Ausdruck “endgültige Vergütung” nicht gemeint, daß der Kläger den Durchschnittslohn für alle Zukunft, auch noch für Arbeiten nach Abschluß des Reklamationsverfahrens begehre. Da der Kläger den Standpunkt eingenommen hatte, daß ihm für die vor Abschluß des Reklamationsverfahrens verrichteten Arbeiten statt des beanstandeten Prämienlohns der Durchschnittsverdienst nicht nur vorläufig zustehe, sondern unabhängig vom Ausgang des Reklamationsverfahrens auf jeden Fall verbleiben müsse, konnte das Landesarbeitsgericht insoweit von einer “endgültigen Vergütung” sprechen. In der Revisionsbegründungsschrift hat der Kläger an der Forderung einer vorbehaltlosen, unbedingten Zahlung des Durchschnittsverdienstes ohne Einschränkung festgehalten und seine rechtliche Argumentation vertieft.

2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf höheren Prämienlohn geltend gemacht, sondern ausschließlich einen Anspuch auf Zahlung des Durchschnittslohnes für Arbeiten, die vor Abschluß des Reklamationsverfahrens erbracht wurden. Dies hat der Kläger auf Seite 7 Nr. 3 der Revisionsbegründungsschrift nochmals ausdrücklich klargestellt. Diese Beschränkung der Klage ist zulässig. Der Anspruch auf Zahlung eines höheren Prämienlohnes einerseits und der Anspruch auf des Durchschnittslohnes nach § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung anderseits sind als zwei Streitgegenstände anzusehen, weil diese Ansprüche auf unterschiedlichen Lebenssachverhalten beruhen und unterschiedlich ausgestaltet sind. Die Höhe des Prämienlohens wird von Arbeitgeber und Betriebsrat gemeinsam, von der Prämienkommission oder von der Einigungsstelle festgesetzt. Dabei handelt es sich um eine Leistungsbestimmung, die nach § 319 Abs. 1 Satz 1 BGB nur bei offenbarer Unbilligkeit nicht verbindlich ist (Hilger, Akkord und Prämie, 2. Aufl., H VII 2b, S. 256 Rz 9; zur Anwendbarkeit des § 319 BGB vgl. auch BAG Urteil vom 29. Januar 1969 – 4 AZR 211/68 – BAGE 21, 305, 311 f. = AP Nr. 20 zu § 611 BGB Akkordlohn). Die Zahlung des Durchschnittslohnes ergibt sich dagegen unmittelbar aus der Tarifnorm des § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung. Die Ansprüche haben nur dann denselben Inhalt, wenn ausnahmsweise der Prämienlohn ebenso hoch ist wie der individuelle Durchschnittsverdienst des Arbeitnehmers.

II. Zutreffend hat das Landesarbeitsgericht ausgeführt, daß als Anspruchsgrundlage für die Klageforderung allein § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung in Betracht kommt. Nach dieser Tarifvorschrift steht dem Kläger aber kein unbedingter Anspruch auf Zahlung des Durchschnittslohnes zu. Es hängt vielmehr vom Ergebnis des Reklamationsverfahrens ab, ob, dem Kläger der Durchschnittslohn verbleibt oder er zur teilweisen Rückzahlung verpflichtet ist.

1. Dies ergibt sich allerdings noch nicht eindeutig aus dem Wortlaut der Tarifnorm. Nach § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung wird für die Dauer der Arbeitszeit an einer Arbeit, für die der Prämiensatz reklamiert wird, der Durchschnittsverdienst des jeweiligen Arbeitnehmers “gezahlt”. Der Ausdruck “gezahlt” besagt noch nichts darüber, ob die Zahlung vorläufig oder endgültig zu erfolgen hat, ob also dem Arbeitnehmer der Durchschnittslohn unabhängig vom Ausgang des Reklamationsverfahrens verbleiben soll.

2. Bei der Beantwortung der Frage, wie sich das Ergebnis des Reklamationsverfahrens auswirkt, ist auf die übrigen Bestimmungen des § 3 TV Prämienentlohnung abzustellen. Die Systematik des Tarifvertrages führt zu der vom Landesarbeitsgericht vertretenen Auslegung.

a) In § 3 Nr. 11 Abs. 5 TV Prämienentlohnung ist geregelt, ab wann Erhöhungen oder Senkungen des Prämiensatzes gelten sollen. Senkungen gelten nicht rückwirkend, sondern erst vom Zeitpunkt der Neufestsetzung an. Damit wird sichergestellt, daß die Arbeitnehmer für die Vergangenheit den bisherigen Prämiensatz behalten. Ein erhöhter Prämiensatz gilt dagegen vom Zeitpunkt der Reklamation an. Nach § 3 Nr. 11 Abs. 5 Satz 1 TV Prämienentlohnung ist der neue, höhere Prämiensatz auch dann rückwirkend anzuwenden, wenn diese Erhöhung bei dem einzelnen Arbeitnehmer zu einer Vergütung führt, die unter seinem Durchschnittsverdienst liegt. Stellt sich der bisher gezahlte Prämienlohn als richtig heraus, so verbleibt es dabei. Das Landesarbeitsgericht hat dies zu Recht als Selbstverständlichkeit bezeichnet.

b) § 3 Nr. 11 Abs. 5 und 6 TV Prämienentlohnung ergänzen sich. Absatz 5 befaßt sich mit der Frage, welche Vergütung der Arbeitnehmer letztlich erhalten soll und behalten darf. Aus Absatz 6 ergibt sich, wie bis zur Klärung von Prämienstreitigkeiten vorläufig zu verfahren ist. Der Prämienstreit führt nicht zum zeitweiligen Wegfall der Prämienentlohnung. Nach Beilegung der Prämienstreitigkeit erhält der Arbeitnehmer auch für die Dauer des Reklamationsverfahrens einen Prämienlohn. Die Zahlung des Durchschnittsverdienstes stellt eine Art Abschlagszahlung dar. Sie erfolgt unter dem Vorbehalt, daß sich der Prämienlohn für den jeweiligen Lohnzahlungszeitraum nicht als niedriger erweist als der Durchschnittsverdienst. Damit hängt es vom Ausgang des Reklamationsverfahrens ab, inwieweit der Arbeitnehmer die vorläufigen Zahlungen behalten darf oder zurückerstatten muß.

3. Sinn und Zweck des § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung führen entgegen der Ansicht des Klägers zu keinem anderen Ergebnis, sondern bestätigen diese Auslegung.

a) Der Kläger selbst bezeichnet die tarifliche Regelung als “Interimslösung bis zur endgültigen Entscheidung über die Reklamation”. Gerade bei einer “Interimslösung” liegt es nahe, daß sie auch die Zwischenzeit nicht abschließend regelt, sondern mit vorläufigen Verhaltensvorschriften für eine Befriedung sorgt, ohne der endgültigen Entscheidung vorzugreifen.

b) Der vom Kläger angeführte Bestandsschutz wird mit einer vorläufigen Bezahlung des Durchschnittsverdienstes nicht beeinträchtigt. Da eine Absenkung des Prämiensatzes nicht zurückwirkt, bleibt dem Kläger der bisherige Prämiensatz auf jeden Fall erhalten. Der Kläger möchte aber mehr als einen Bestandsschutz erreichen. Er will den Durchschnittsverdienst auch dann behalten dürfen, wenn die Reklamation unberechtigt und die bisherige Entlohnung richtig war.

c) Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung solle den Arbeitgeber davon abhalten, nicht zu vermeidende Reklamationsverfahren zu verzögern.

aa) Zum einen bestimmt der Arbeitgeber nicht allein den Gang des Reklamationsverfahrens. Das Initiativrecht steht sowohl dem Arbeitgeber als auch dem Betriebsrat zu. Beide Seiten besetzen Paritätisch die Prämienkommission. Wenn es auch nach Hinzuziehung der Tarifvertragsparteien zu keiner Einigung kommt, können beide Seiten die Einigungsstelle anrufen.

bb) Zum anderen ist auch ohne die vom Kläger vertretene Auslegung des § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung in ausreichendem Maße dafür gesorgt, den Arbeitgeber von Verzögerungen des Reklamationsverfahrens abzuhalten. Für die Dauer des Reklamationsverfahrens hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmern vorläufig den individuellen Durchschnittsverdienst zu zahlen, der über dem richtigen Prämielohn liegen kann und dann beim Arbeitgeber zumindest zu Zinsverlusten führt. Eine Senkung des Prämiensatzes wirkt nicht zurück, sondern gilt erst vom Zeitpunkt der Neufestsetzung an. Bei einer Erhöhung des Prämiensatzes, die den individuellen Durchschnittsverdienst übersteigt, ist der Arbeitgeber zu Nachzahlungen verpflichtet. Nur in diesem Fall, den der Kläger selbst nicht behauptet, kann der Arbeitgeber durch eine Verzögerung des Reklamationsverfahrens Zinsvorteile erlangen.

cc) Der Arbeitnehmer bleibt auch bei Untätigkeit der für die Festsetzung der Prämiensätze zuständigen Stellen nicht schutzlos, weil § 319 Abs. 1 Satz 2 BGB entsprechend anzuwenden ist (BAG Urteil vom 29. Januar 1969 – 4 AZR 211/68 – BAGE 21, 305, 311 f. = AP Nr. 20 zu § 611 BGB Akkordlohn). Danach erflogt die Leistungsbestimmung durch Urteil, wenn der Dritte die erforderliche Bestimmung nicht treffen kann oder will oder wenn er sie verzögert.

d) Noch weniger überzeugt das Argument des Klägers, die Vorschrift des § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung solle den Arbeitgeber veranlassen, durch korrekte Prämiensätze Reklamationen zu vermeiden. Nach Auffassung des Klägers soll den Arbeitnehmern auch dann der Durchschnittslohn verbleiben, wenn die reklamierten Prämiensätze nicht zu beanstanden sind. Zu Recht weist die Beklagte darauf hin, daß es nicht sinnvoll ist, eine Sanktion, die zu korrektem Verhalten veranlassen soll, auch gegenüber einem Arbeitgeber zu verhängen der ohnehin richtig gehandelt hat.

4. Wie bereits das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat, würde die vom Kläger vertretene Auslegung des § 3 Nr. 11 Abs. 6 TV Prämienentlohnung außerdem einen Anreiz zu vorschnellen, unberechtigten Reklamationen schaffen, denn nur unzulänglich mit dem Einwand des Rechtsmißbrauchs (§ 242 BGB) begegnet werden könnte. Bei der Auslegung eines Tarifvertrages ist auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse mitzuberücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. BAG Urteil vom 15. Juni 1994 – 4 AZR 821/93 – AP Nr. 4 zu § 27 BAT, zu B 2c aa der Gründe BAG Urteil vom 31. Mai 1994 – 3 AZR 440/93 – AP Nr. 10 zu § 1 TVG Tarifverträge: Banken, zu II 2b der Gründe; BAG Urteil vom 23. September 1992 – 4 AZR 66/92 – AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel, zu I 2a der Gründe , m.w.N.).

III. Da bereits aus diesen Gründen der bezifferte Zahlungsantrag und die weiteren von ihm abhängigen Leistungsanträge unbegründet sind, kommt es nicht darauf an, ob die Reklamation des Betriebsrats berechtigt war. Es spielt keine Rolle, wie es sich auf das, Reklamationsrecht auswirkte, daß die umstrittenen Prämiensätze im Jahre 1988 aufgrund einer früheren Reklamation angehoben worden waren, seither ohne Beanstandung galten und sich zwischenzeitlich weder an der Maschine noch am Arbeitsvorgang etwas geändert hatte. Unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Rechtsfolgen die Prämiensätze trotzdem nach § 3 Nr. 10 TV Prämienentlohnung erneut reklamiert werden konnten, kann offen bleiben.

 

Unterschriften

Dr. Heither, Kremhelmer, Bepler, Schoden, Furchtbar

 

Fundstellen

Haufe-Index 870889

NZA 1996, 101

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