Entscheidungsstichwort (Thema)

Mitbestimmung bei Akkord

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Betriebsrat hat mitzubestimmen über die Frage, ob bei Akkordarbeit anfallende Wartestunden mit dem Akkordrichtsatz oder dem persönlichen Durchschnittsverdienst des Arbeitnehmers bezahlt werden sollen.

 

Orientierungssatz

1. Auslegung der §§ 11, 18 des Manteltarifvertrages für die Arbeiter der Textilindustrie in Detmold, Arnsberg und im ehemaligen Regierungsbezirk Osnabrück vom 9.5.1985.

2. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 24. Februar 1987, 1 ABR 18/85 (BAGE 54, 191 = AP Nr 21 zu § 77 BetrVG 1972) ausgesprochen, daß Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates nach § 87 Abs 1 BetrVG nicht dadurch ausgeschlossen sind, daß die entsprechende mitbestimmungspflichtige Angelegenheit üblicherweise durch Tarifvertrag im Sinne von § 77 Abs 3 BetrVG geregelt ist, und das im einzelnen begründet. Daran hält der Senat - wie auch in seiner Entscheidung vom 31. Januar 1989 (1 ABR 69/87 - zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen) - fest.

 

Normenkette

TVG § 1; BetrVG § 77 Abs. 5, 3, 6, § 87 Abs. 1 Nrn. 10-11

 

Verfahrensgang

LAG Niedersachsen (Entscheidung vom 12.01.1988; Aktenzeichen 8 Sa 1210/87)

ArbG Osnabrück (Entscheidung vom 02.06.1987; Aktenzeichen 1 Ca 2056/86)

 

Tatbestand

Die Kläger begehren von der Beklagten im Rahmen ihrer Akkordentlohnung die Bezahlung sogenannter Wartestunden in Höhe ihres persönlichen Durchschnittsverdienstes des jeweiligen Abrechnungsmonats unter Berufung auf eine Betriebsvereinbarung vom 27. März 1973. Mit der Klage haben sie die Differenzbeträge zwischen der von der Beklagten angewandten und der von ihnen für richtig angesehenen Berechnungsmethode für die Monate Juni und Juli 1986 geltend gemacht.

Die Kläger sind bei der Beklagten als Weber beschäftigt. Auf die Arbeitsverhältnisse sind infolge Verbandszugehörigkeit der Parteien die Tarifverträge für die gewerblichen Arbeitnehmer der Textilindustrie in Westfalen und im ehemaligen Regierungsbezirk Osnabrück anzuwenden. Beide Kläger arbeiten im Akkord.

In § 11 des Manteltarifvertrages für die Arbeiter/Arbeiterinnen der Textilindustrie in Westfalen und im Regierungsbezirk Osnabrück vom 15. Juli 1966 (MTV 66) war u.a. bestimmt:

"Allgemeine Lohnbestimmungen

...

3. Diese und die nachfolgenden Bestimmungen die-

ses Paragraphen enthalten keine tarifliche Re-

gelung i. S. des § 56 Abs. 1 erster Halbsatz

BetrVG.

...

B. Akkordarbeit

...

9. ...

Wartestunden, die im Akkordansatz nicht berück-

sichtigt und sofort dem Vorgesetzten gemeldet

sind, werden nach folgender Maßgabe vergütet:

Wartestunden, Reparaturzeiten und Kettenwech-

sel einschließlich des Putzens die ersten zwei

Stunden in der Woche mit dem Akkordrichtsatz,

nach dieser Zeit mit dem persönlichen Durch-

schnittsverdienst. ..."

Der MTV 1966 ist zum 31. Dezember 1971 gekündigt worden.

Unter dem 27. März 1973 schlossen die Beklagte und ihr Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung über Wartestunden ab (im folgenden: Betriebsvereinbarung 73), in der bestimmt ist:

"Soweit sich in gültigen Betriebsvereinbarungen

Regelungen bezüglich der Vergütung von Warte-

stunden, Nebenarbeiten (sowie Putzen, Reparatu-

ren und Arbeiten an anderer Stelle usw.) finden,

erfolgt die Abrechnung für die betreffende Lohn-

periode nach dem persönlichen Durchschnittsver-

dienst des Vormonats. In Abweichung dazu soll in

Zukunft - erstmalig für die Lohnperiode März

1973 - nicht der persönliche Durchschnittsver-

dienst des Vormonats, sondern der erzielte Durch-

schnittsverdienst der abzurechnenden Lohnperiode

herangezogen werden. Diese Regelung steht im Zu-

sammenhang mit technischen Erfordernissen bei

der Abrechnung mittels EDV und erfolgt ohne Präju-

diz für zukünftige Regelungen der Bezahlung von

derartigen Stunden."

In der Folgezeit vergütete die Beklagte alle Wartestunden entsprechend der Betriebsvereinbarung 73.

Am 9. Mai 1985 schlossen die Tarifvertragsparteien einen neuen Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Textilindustrie in Detmold, Arnsberg und im ehemaligen Regierungsbezirk Osnabrück ab, der am 1. Januar 1986 in Kraft getreten ist (MTV 85).

In diesem MTV 85 ist u.a. - wortgleich mit dem MTV 66 - festgelegt:

"§ 11

Allgemeine Lohnbestimmungen

...

3. Diese und die nachfolgenden Bestimmungen die-

ses Pragraphen enthalten keine tarifliche Re-

gelung i. S. des § 56 Abs. 1 erster Halbsatz

BetrVG.

...

B. Akkordarbeit

...

9. ...

Wartestunden, die im Akkordansatz nicht berück-

sichtigt und sofort dem Vorgesetzten gemeldet

sind, werden nach folgender Maßgabe vergütet:

Wartestunden, Reparaturzeiten und Kettenwechsel

einschließlich des Putzens die ersten zwei Stun-

den in der Woche mit dem Akkordrichtsatz, nach

dieser Zeit mit dem persönlichen Durchschnitts-

verdienst ..."

Mit Schreiben vom 16. Mai 1986, dem Betriebsrat zugegangen am 20. Mai 1986, kündigte die Beklagte die Betriebsvereinbarung 73 vorsorglich zum nächstmöglichen Termin.

Seit dem 1. Juni 1986 zahlt die Beklagte entsprechend der Regelung in § 11 Buchstabe B Nr. 9 MTV 85 für die ersten beiden Wartestunden in der Woche lediglich den Akkordrichtsatz, für die weiteren Wartestunden den Durchschnittsverdienst des Arbeitnehmers. Durch diese Berechnungsweise haben die Kläger gegenüber der in der Betriebsvereinbarung vorgesehenen Berechnung im Juni und Juli 1986 einen niedrigeren Lohn erhalten. Mit der Klage verlangen sie die Zahlung der Differenzbeträge.

Die Kläger haben die Auffassung vertreten, die Betriebsvereinbarung sei weiterhin gültig. Deshalb hätten auch die ersten beiden Wartestunden mit dem persönlichen Durchschnittsverdienst des Abrechnungsmonats abgerechnet werden müssen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, die Betriebsvereinbarung sei nach § 77 Abs. 3 BetrVG von Anfang an unwirksam gewesen, weil die Vergütung für Wartestunden üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt werde. Zumindest sei die Betriebsvereinbarung durch den MTV 85 abgelöst oder durch die Kündigung vom 16. Mai 1986 zum 30. Juni 1986 beendet worden.

Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Mit der zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Klage weiter, während die Beklagte um Zurückweisung der Revision bittet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Kläger ist begründet.

Entgegen der Ansicht des Landesarbeitsgerichts stehen den Klägern die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche zu. Die Beklagte ist nach der bei ihr geltenden Betriebsvereinbarung verpflichtet, auch die ersten beiden Wartestunden in der Woche mit dem Akkorddurchschnittsverdienst zu bezahlen.

1. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die von den Klägern geltend gemachten Ansprüche auf eine höhere Vergütung für die Wartestunden in den Monaten Juni und Juli 1986 könnten nicht aus der Betriebsvereinbarung hergeleitet werden, weil diese Betriebsvereinbarung mit dem Inkrafttreten des MTV 85 am 1. Januar 1986 nach § 87 Abs. 1 BetrVG Einleitungshalbsatz unwirksam geworden sei. § 11 B Nr. 9 MTV 85 enthalte hinsichtlich der Vergütung von Wartestunden eine abschließende tarifliche Regelung, so daß insoweit ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats ausscheide. Aus dem Normzweck des § 87 Abs. 1 BetrVG Einleitungshalbsatz folge, daß neue unabdingbare tarifliche Regelungen ihnen widersprechende betriebliche Regelungen, die bis dahin bestanden hätten, außer Kraft setzten, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die betrieblichen Regelungen ungünstiger oder günstiger gewesen seien. Eine ergänzende betriebliche Regelung werde auch nicht durch § 11 Nr. 3 MTV 85 zugelassen. Wenn dort bestimmt sei, daß diese und die nachfolgenden Bestimmungen des § 11 MTV "keine tarifliche Regelung im Sinne des § 56 Abs. 1 erster Halbsatz BetrVG" enthalte, beziehe sich dieser Hinweis auf § 56 Abs. 1 BetrVG 1952. Dieser Hinweis könne nur so verstanden werden, daß Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats, die ihm nach § 56 BetrVG 1952 zugestanden haben, durch § 11 MTV 85 nicht entfallen sollten. Dem Betriebsrat habe jedoch hinsichtlich der in § 11 B Nr. 9 MTV 85 getroffenen Vergütungsregelung für Wartestunden nach § 56 Abs. 1 BetrVG 1952 kein Mitbestimmungsrecht zugestanden, weil die Mitbestimmung des § 56 Abs. 1 BetrVG 1952 sich auf solche materiellen Arbeitsbedingungen nicht erstreckt habe.

Damit hat das Landesarbeitsgericht den Inhalt der Regelung in § 11 Nr. 3 MTV 85 verkannt.

2. Die Betriebsvereinbarung 73 ist wirksam zustande gekommen.

a) Als die Betriebspartner die Betriebsvereinbarung 73 vereinbarten, bestand keine tarifliche Regelung der Akkordentlohnung im Sinne von § 87 Abs. 1 BetrVG. Der MTV 66 war zum 31. Dezember 1971 gekündigt worden und wirkte daher lediglich nach. Eine lediglich nachwirkende tarifliche Regelung vermag jedoch Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 BetrVG nicht auszuschließen (BAG Urteil vom 13. Juli 1977 - 1 AZR 336/75 - AP Nr. 2 zu § 87 BetrVG 1972 Kurzarbeit; Beschluß vom 24. Februar 1987, BAGE 54, 191 = AP Nr. 21 zu § 77 BetrVG 1972).

b) Über die Frage, wie im Rahmen einer Akkordentlohnung anfallende Wartestunden zu vergüten sind, hat der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG mitzubestimmen. Der Mitbestimmung unterliegt nach dieser Vorschrift die Festsetzung der Akkordsätze einschließlich der Geldfaktoren.

Wartezeiten im Rahmen einer Akkordentlohnung sind diejenigen Zeiten, in denen der Arbeitnehmer die von ihm an sich geschuldete Akkordarbeit aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen nicht leisten kann. Gründe dafür können insbesondere das Einrichten der Maschinen, Reparaturen oder notwendige Wartungsarbeiten sein, die eine Unterbrechung der Akkordarbeit erfordern. Je nach Häufigkeit, Vorhersehbarkeit und Meßbarkeit dieser Zeiten können diese in die Vorgabezeiten als Verteilzeit mit einbezogen oder daneben gesondert erfaßt werden. Von welcher der beiden Möglichkeiten Gebrauch gemacht werden soll, unterliegt der Mitbestimmung des Betriebsrats schon nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG, wonach die Betriebspartner bei einer Regelung der Akkordentlohnung nicht darauf beschränkt sind, ein bestimmtes arbeitswissenschaftliches Akkordsystem zu vereinbaren, sondern auch dessen Anwendung in modifizierter Form vorsehen können (Beschluß des Senats vom 24. November 1987 - 1 ABR 12/86 - zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen).

Werden Wartezeiten in die Vorgabezeit mit einbezogen, so werden sie Teil der nach § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG mitbestimmungspflichtigen Akkordsätze. Werden Wartezeiten - wie hier - gesondert erfaßt, so ändert sich an ihrer rechtlichen Natur als mitbestimmungspflichtiger Akkordsatz nichts. Die aufgezeigten Möglichkeiten der Berücksichtigung von Wartezeiten sind gegeneinander austauschbar. Davon geht auch § 11 B Nr. 9 MTV 66 und MTV 85 aus, wenn hier von "Wartestunden, die im Akkordansatz nicht berücksichtigt sind" gesprochen wird. Dann ist es aber auch gerechtfertigt und geboten, die Frage nach ihrer Mitbestimmungspflichtigkeit einheitlich zu beantworten.

Damit hat der Betriebsrat auch mitzubestimmen bei der Frage, wie nicht in der Vorgabezeit berücksichtigte Wartezeiten zu vergüten sind. Daß damit auch über die Höhe des für Wartezeiten zu zahlenden Lohnes mitbestimmt wird, steht dem nicht entgegen. Auch in der Vorgabezeit enthaltene Wartezeiten haben unmittelbare Auswirkungen auf die Höhe des Akkordlohnes. § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG schließt darüber hinaus durch die Einbeziehung auch des Geldfaktors in das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats eine Mitbestimmung über die Höhe des Lohnes bei leistungsbezogenen Entgelten im Sinne dieser Vorschrift nicht aus (vgl. Beschluß des Senats vom 16. Dezember 1986, BAGE 54, 46 = AP Nr. 8 zu § 87 BetrVG 1972 Prämie).

Eine Regelung in einer Betriebsvereinbarung, wonach alle Wartestunden mit dem persönlichen Durchschnittsverdienst des Arbeitnehmers - einer bestimmten Lohnperiode - bezahlt werden, ist daher vom Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gedeckt.

c) Einer solchen Regelung in der Betriebsvereinbarung 73 stand auch § 77 Abs. 3 BetrVG nicht entgegen.

Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 24. Februar 1987 (BAGE 54, 191 = AP Nr. 21 zu § 77 BetrVG 1972) ausgesprochen, daß Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 BetrVG nicht dadurch ausgeschlossen sind, daß die entsprechende mitbestimmungspflichtige Angelegenheit üblicherweise durch Tarifvertrag im Sinne von § 77 Abs. 3 BetrVG geregelt ist, und das im einzelnen begründet. Daran hält der Senat - wie auch in seiner Entscheidung vom 31. Januar 1989 (- 1 ABR 69/87 - zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen) - fest. Die Revision hat gegen diese Entscheidung sprechende Gesichtspunkte, die der Senat nicht schon berücksichtigt hat, nicht vorgetragen. Ihr Argument, daß Betriebsvereinbarungen über mitbestimmungspflichtige Angelegenheiten allenfalls für die kurze Zeit zwischen zwei Tarifverträgen in Frage kämen, wofür einmal kein Bedürfnis bestehe und was zum anderen unerwünscht sei, wird im vorliegenden Falle schon dadurch widerlegt, daß zwischen den beiden Tarifverträgen MTV 66 und MTV 85 immerhin 15 Jahre lagen.

Im übrigen kommt es im vorliegenden Fall auf diese Frage nicht an. Wenn § 11 Nr. 3 MTV 66 bestimmte, daß die tarifliche Regelung "keine tarifliche Regelung im Sinne des § 56 Abs. 1 BetrVG (1952)" sein solle, so enthielt diese Vorschrift gleichzeitig auch eine Öffnungsklausel für betriebliche Regelungen im Sinne von § 77 Abs. 3 BetrVG.

3. Die wirksam zustande gekommene Betriebsvereinbarung 73 ist mit dem Inkrafttreten des MTV 85 zum 1. Januar 1986 nicht unwirksam geworden.

a) Nach § 11 Nr. 3 MTV 85 sollen weder § 11 noch die nachfolgenden Bestimmungen eine tarifliche Regelung im Sinne des § 56 Abs. 1 Halbsatz 1 BetrVG enthalten. Diese Bestimmung ist wie die gesamte Regelung des § 11 MTV wörtlich aus dem Manteltarifvertrag 1966 in den Manteltarifvertrag vom 9. Mai 1985 übernommen worden. Die seinerzeit in Bezug genommene Vorschrift des § 56 Abs. 1 Halbsatz 1 BetrVG entspricht heute wörtlich der Regelung im Eingangssatz von § 87 Abs. 1 BetrVG.

Sinn dieser tariflichen Regelung ist es, die Sperrwirkung der in § 11 MTV enthaltenen tariflichen Lohnbestimmungen für Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach dem Betriebsverfassungsgesetz aufzuheben.

Eine solche tarifliche Regelung ist zulässig. Eine tarifliche Regelung schließt gesetzliche Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 BetrVG dann nicht aus, wenn sie den Betriebspartnern eine nähere Ausgestaltung der Regelung zuweist. Den Tarifvertragsparteien kann nicht verwehrt werden, eine Angelegenheit tariflich subsidiär zu regeln, wenn es ihnen gestattet ist, durch Verzicht auf eine eigene tarifliche Regelung ein gesetzlich gegebenes Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats zum Tragen kommen zu lassen. Wenn das Betriebsverfassungsgesetz zum Schutz der Tarifautonomie tarifvertraglichen Regelungen grundsätzlich den Vorrang einräumt vor betrieblichen Regelungen, so hindert das doch die Tarifvertragsparteien nicht, diesen Vorrang für eine tarifvertragliche Regelung nicht in Anspruch zu nehmen und damit einer mitbestimmten Regelung durch die Betriebspartner den Vorrang einzuräumen (vgl. Beschluß des Senats vom 22. Dezember 1981, BAGE 37, 255 = AP Nr. 7 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung). Sie können dabei auch bestimmen, ob von der tariflichen Regelung nur durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung soll abgewichen werden dürfen, oder ob eine betriebliche Regelung auch über einen Spruch der Einigungsstelle soll erzwungen werden können (vgl. Beschluß vom 28. Februar 1984 - 1 ABR 37/82 - AP Nr. 4 zu § 87 BetrVG 1972 Tarifvorrang). Das ist hier durch die Regelung in § 11 Nr. 3 MTV 85 geschehen (Beschluß des Senats vom 24. November 1987, aa0).

b) Die Auffassung des Landesarbeitsgerichts, mit der in Bezug genommenen Vorschrift des § 56 Abs. 1 Halbsatz 1 BetrVG sei dem Betriebsrat insoweit kein Mitbestimmungsrecht belassen worden, als ein solches sich auf materielle Arbeitsbedingungen bezieht, überzeugt nicht. Daß in § 11 Nr. 3 MTV 85 anstatt des wortgleichen § 87 Abs. 1 BetrVG Einleitungssatz versehentlich § 56 Abs. 1 Halbsatz 1 BetrVG in Bezug genommen worden ist, ergibt sich allein aus der Übernahme der gesamten Regelung des § 11 MTV aus dem Manteltarifvertrag 1966 in den Manteltarifvertrag 1985. Der Sache nach ging es den Tarifvertragsparteien darum, einer mitbestimmten Regelung durch die Betriebspartner den Vorrang einzuräumen. Dafür, daß dieser Vorrang sich nur auf sogenannte formelle Arbeitsbedingungen beziehen sollte, sind keine einleuchtenden Anhaltspunkte vorhanden. Anderenfalls müßte unterstellt werden, daß die alte Streitfrage zum BetrVG 1952, ob das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 56 BetrVG 1952 nur für sogenannte formelle Arbeitsbedingungen gilt (vgl. für § 56 Abs. 1 Buchst. g und h, Beschluß des Senats vom 7. Dezember 1962 - 1 ABR 4/61 - AP Nr. 3 zu § 56 BetrVG Akkord), in abgewandelter Form, hier hinsichtlich der Reichweite der subsidiären Geltung der tariflichen Regelung der Akkordarbeit, weiterhin eine Rolle spielen sollte. Es spricht im Gegenteil ganz allgemein eine Vermutung dafür, daß die Tarifvertragsparteien nicht hinter der jeweiligen gesetzlichen Regelung zurückbleiben wollen (vgl. Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 15. Aufl., § 87 Rz 12). Die lediglich subsidiäre Geltung der tariflichen Regelung der Akkordarbeit gilt auch hinsichtlich der "materiellen" Seite der Angelegenheit.

Schließt damit § 11 Nr. 3 MTV 85 eine mitbestimmte Regelung der Akkordentlohnung und damit auch eine Regelung der Bezahlung von Wartestunden unter seiner Geltung nicht aus, so folgt daraus gleichzeitig, daß bereits bestehende betriebliche Regelungen dieser Angelegenheit weiter gelten sollen. Davon sind offenbar auch die Tarifvertragsparteien selbst ausgegangen, wenn sie in § 18 MTV 85 bestimmt haben, daß in Betrieben bestehende günstigere Regelungen durch .. Betriebsvereinbarung aus Anlaß der Einführung dieses Manteltarifvertrages nicht .. verändert werden dürfen.

4. Die Betriebsvereinbarung 73 scheidet als Anspruchsgrundlage für das Begehren der Kläger auch nicht deswegen aus, weil die Beklagte diese Betriebsvereinbarung im Mai 1986 gekündigt hat.

Die Betriebsvereinbarung 73 enthält selbst keine Regelung hinsichtlich ihrer Kündigung. Nach § 77 Abs. 5 BetrVG konnte sie daher nur mit einer Frist von drei Monaten, also frühestens zum 20. August 1986, gekündigt werden. Ob sich, wie die Beklagte behauptet hat, in anderen von den Betriebspartnern abgeschlossenen Betriebsvereinbarungen Regelungen finden, wonach auch die Betriebsvereinbarung 73 mit Monatsfrist gekündigt werden kann, hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt. Darauf kommt es auch nicht an. Selbst wenn eine Kündigung mit einer kürzeren Kündigungsfrist zulässig gewesen sein sollte, hätte diese nicht zur Beendigung der in der Betriebsvereinbarung 73 getroffenen Regelung geführt. Diese gilt nach § 77 Abs. 6 BetrVG vielmehr auch über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus so lange weiter, bis sie durch eine neue Regelung der Betriebspartner ersetzt wird, da sie eine Angelegenheit regelt, die - wie dargelegt - dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats unterliegt und in der daher ein Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen den Betriebspartnern ersetzen kann. Eine solche anderweitige Abmachung kann auch die einverständliche Aufhebung der Betriebsvereinbarung 73 durch die Betriebspartner sein.

Daß die Betriebspartner eine neue Regelung über die Bezahlung der Wartezeiten getroffen haben, hat das Landesarbeitsgericht nicht festgestellt und ist von der Beklagten auch nicht behauptet worden. Die Betriebsvereinbarung 73 gilt damit trotz der erfolgten Kündigung fort. Die Kläger können daher verlangen, daß die angefallenen Wartestunden im Juni und Juli 1986 entsprechend der Betriebsvereinbarung 73 vergütet werden. Ihre Klage ist daher begründet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZP0.

Dr. Kissel Matthes Dr. Weller

Dr. Gentz H. Blanke

 

Fundstellen

DB 1989, 1929 (LT1)

DRsp, VI (642) 262 l (T)

NZA 1989, 648-650 (LT1)

AP § 87 BetrVG 1972 Akkord (LT1), Nr 8

AR-Blattei, Akkordarbeit Entsch 24 (LT1)

AR-Blattei, ES 40 Nr 24 (LT1)

EzA § 87 BetrVG 1972 Leistungslohn, Nr 17 (LT1)

VersR 1989, 936-938 (LT1)

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge