Leitsatz (amtlich)

  • Ein Arbeitgeber, der pflichtwidrig und schuldhaft zu wenig Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung abgeführt und dadurch verursacht hat, daß der Arbeitnehmer keine Invalidenrente erhält, haftet dem Arbeitnehmer auf Schadenersatz für die entgangene Rente.
  • Der Arbeitgeber muß wissen, daß er zur Abführung der Sozialversicherungsbeiträge für seine Arbeitnehmer verpflichtet ist. In Zweifelsfällen muß er sich an geeigneter Stelle über die Versicherungspflicht erkundigen. Tut er dies nicht, so ist ihm dies als Verschulden anzurechnen.
 

Normenkette

BGB §§ 611, 823, 254; RVO §§ 165-166, 168, 172, 1226, 1236, 1426

 

Verfahrensgang

LAG Niedersachsen (Urteil vom 27.09.1961; Aktenzeichen 2 Sa 443/58)

SG Oldenburg (Urteil vom 16.11.1955; Aktenzeichen F 14 (H) J 522/54)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Teilurteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 27. September 1961 – 2 Sa 443/58 – wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der Kläger arbeitete von Juni 1945 bis April 1951 auf dem Hofe des Beklagten. Er erhielt neben freier Kost einen Tagelohn von zunächst 3,– RM, der seit der Währungsreform auf 2,– DM festgesetzt wurde. Beiträge zur Invalidenversicherung entrichtete der Beklagte erst für die Zeit ab Juli 1949.

Durch Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 16. November 1955 – F 14 (H) J 522/54 – wurde der Rentenantrag des Klägers, der seit Mai 1951 infolge einer offenen Tuberkulose Invalide ist, rechtskräftig abgewiesen mit der Begründung, bei einer nachgewiesenen Versicherungszeit von 30 Monaten sei die Wartezeit von 60 Monaten nicht erfüllt.

Der Kläger hat den Beklagten auf Schadenersatz für die entgangene Invalidenrente in Anspruch genommen mit der Behauptung, der Beklagte habe für die Beschäftigungszeit vor Juli 1949 für weitere 36 Monate Sozialversicherungsbeiträge abführen müssen.

Der Kläger hat beantragt,

1. den Beklagten zu verurteilen, an ihn 2.100,– DM zu zahlen,

2. festzustellen, daß der Beklagte verpflichtet sei, ihm den Betrag zu zahlen, der von der LVA O…-B… an ihn ab 1. Februar 1957 zu zahlen wäre, wenn er invalidenrentenbezugsberechtigt wäre.

Der Beklagte hat Klageabweisung beantragt und vorgetragen, der Kläger sei als Heuerling beschäftigt und daher nicht versicherungspflichtig gewesen.

Das Arbeitsgericht hat nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat durch Teilurteil den Beklagten zur Zahlung von 520,67 DM verurteilt. Mit der Revision verfolgt der Beklagte das Ziel der Klageabweisung weiter.

 

Entscheidungsgründe

Der Beklagte haftet dem Kläger auf Schadenersatz für die entgangene Rente, weil er pflichtwidrig und schuldhaft zu wenig Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung abgeführt und dadurch den Schaden verursacht hat. Ein schuldhafter Verstoß gegen die als Schutzgesetz anzusehenden Sozialversicherungsbestimmungen über die Beitragsentrichtung verpflichtet den Arbeitgeber sowohl nach § 823 Abs. 2 BGB als auch unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des Arbeitsvertrages zum Schadenersatz (BAG AP Nr. 1 zu § 823 Schutzgesetz).

I. Der Beklagte war verpflichtet, für den Kläger Sozialversicherungsabgaben zu entrichten. Zwischen den Parteien bestand in der Zeit von Juni 1945 bis Juli 1949 während 36 Monaten ein invalidenversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis. Im einzelnen gilt dazu folgendes:

1. Das Landesarbeitsgericht hat unter Würdigung der umfangreichen Beweisaufnahme festgestellt, daß der Kläger auf Grund eines Arbeitsverhältnisses und nicht auf Grund eines Heuerlingvertrages in dieser Zeit weisungsgebundene, abhängige, manuelle Arbeit für den Beklagten geleistet hat. Diese Würdigung verstößt weder gegen zwingende Auslegungsregeln noch gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze Soweit die Revision anführt, der Kläger sei nicht für den Beklagten tätig geworden, sondern für seinen Vater, der seinerseits als Heuerling dem Beklagten zur Verrichtung dieser Arbeiten verpflichtet gewesen sei, stehen dem die für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts entgegen (§ 561 Abs. 2 ZPO).

2. Diese Tätigkeit des Klägers war invalidenversicherungspflichtig. Das ergibt sich aus den insoweit maßgebenden Bestimmungen der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Fassung der Ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung (1. Vereinfachungsverordnung) vom 17. März 1945 (RGBl. I S. 41), die am 1. Juni 1945 am Beschäftigungsort L… bei L… in der damaligen britischen Besatzungszone geltendes Recht war. Es entspricht einhelliger Auffassung, daß die 1. Vereinfachungsverordnung mit dem 1. Juni 1945 in dem gesamten Gebiet der damaligen britischen Besatzungszone Rechtswirksamkeit erlangt hat, obgleich bei Ausgabe der entsprechenden Nummer des Reichsgesetzblattes am 11. April 1945 bereits erhebliche Teile des Reichsgebietes besetzt waren (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. 2, S. 301; Eckert-Sauerborn, Die Sozialversicherungsgesetze in der Bundesrepublik Deutschland, Stand: Februar 1957, Vorbem. 2 vor § 165 RVO; vgl. BSGE 3, 161 ff.).

3. Die Beschäftigung des Klägers als landwirtschaftlicher Arbeiter war nach § 1226 RVO in Verbindung mit § 165 Abs. 1 Ziff. 1 und Abs. 2 RVO invalidenversicherungspflichtig, da die besonderen Voraussetzungen, unter denen nach den §§ 166 ff. RVO Versicherungsfreiheit eintritt, nicht vorlagen.

a) Der Kläger war insbesondere nicht nach § 168 RVO versicherungsfrei. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung bleiben versicherungsfrei Dienstleistungen, wenn sie von Personen, die sonst berufsmäßig nicht als Gefolgschaftsmitglieder tätig sind, nur gelegentlich, insbesondere zu gelegentlicher Aushilfe ausgeführt werden. Eine Beschäftigung gilt als gelegentliche Dienstleistung, wenn sie auf weniger als drei Monate nach der Natur der Sache beschränkt zu sein pflegt oder im voraus durch den Arbeitsvertrag beschränkt ist. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts war der Kläger nicht unter den genannten Einschränkungen beschäftigt. Der Ansicht der Revision, der Kläger sei schon deshalb nur “gelegentlich” beschäftigt gewesen, weil sein Verdienst nur 2,– DM täglich betragen habe, kann nicht zugestimmt werden. Für das Merkmal “gelegentlich” ist nach dem klaren Gesetzeswortlaut nur der Arbeitsumfang, nicht aber die Höhe des Lohnes maßgeblich.

b) Der Kläger war auch nicht nach Abs. 2 des § 168 RVO versicherungsfrei. Nach Abs. 2 der Bestimmung bleiben Dienstleistungen versicherungsfrei, wenn sie von Personen, die sonst berufsmäßig nicht als Gefolgschaftsmitglieder tätig sind, zwar laufend oder in regelmäßiger Wiederkehr, aber nur nebenher und gegen ein geringfügiges Entgelt ausgeführt werden. Beide Merkmale müssen also nebeneinander vorliegen, wenn Versicherungsfreiheit eintreten soll. Die Geringfügigkeit des Entgelts allein kann die Versicherungsfreiheit nicht bewirken. Daher kann es dahinstehen, ob der Wert von Barlohn und Kost die Geringfügigkeitsgrenze überschreitet. Denn nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat der Kläger die Beschäftigung beim Beklagten nicht nebenher ausgeübt, da er bei dem Beklagten ganztägig beschäftigt wurde.

c) Versicherungsfrei war die Beschäftigung des Klägers auch nicht nach Abs. 3 des § 168 RVO, weil der Kläger nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts auf dem Hofe des Beklagten immer länger gearbeitet hat als auf dem Hof seines Vaters.

d) Der Kläger war weiterhin auch nicht nach den §§ 1226, 172 Abs. 1 Ziff. 7 RVO oder nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 20 (Arbeitsblatt für die britische Zone 1947, S. 19) versicherungsfrei. Nach diesen Vorschriften unterlagen die Bezieher einer Invalidenrente bei Ausübung einer versicherungspflichtigen Tätigkeit nicht der Versicherungspflicht. Der Kläger hat jedoch unstreitig niemals eine Invalidenrente bezogen. Ob der Kläger Invalide war, kann insoweit dahinstehen, da der Gesetzgeber die Versicherungsfreiheit in den genannten Bestimmungen an den Bezug einer Invalidenrente und nicht an den Versicherungsfall der Invalidität geknüpft hat. Die Beschäftigung des Klägers war somit auch dann nicht versicherungsfrei, wenn der Kläger damals Invalide war. Auf die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, der Kläger sei damals noch nicht Invalide gewesen, kommt es daher nicht an, so daß auf die gegen dies Feststellung gerichteten Revisionsrügen nicht einzugehen ist.

e) Der § 1236 RVO, der bereits bei Invalidität ohne Rücksicht darauf, ob eine Rente wegen Invalidität bezogen wird, Versicherungsfreiheit gewährte, war bei Beginn des Arbeitsverhältnisses am 1. Juni 1945 nicht mehr gültig. Er war durch Art. 3 Abs. 4 der 1. Vereinfachungsverordnung mit Wirkung vom 1. Juni 1945 ausdrücklich außer Kraft gesetzt worden. Insoweit hat auch die SVD Nr. 3 vom 14. Oktober 1945 (Arbeitsblatt für die britische Zone 1947, S. 12) keine Änderung gebracht. In Ziff. 2 der SVD Nr. 3 wird zwar ausgeführt, Invaliden seien versicherungsfrei; zugleich wird aber angeordnet, daß in Zukunft für Invaliden Sozialversicherungsabgaben zu entrichten sind. Da der § 1236 RVO durch die 1. Vereinfachungsverordnung ausdrücklich aufgehoben worden war, ging der Gesetzgeber bei Erlaß der SVD Nr. 3 insoweit offensichtlich von unrichtigen Voraussetzungen aus. Die Ziff. 2 der SVD Nr. 3 kann nicht dahin verstanden werden, daß der Gesetzgeber rückwirkend die Vereinfachungsverordnung abändern wollte. Der Wille, die Vereinfachungsverordnung rückwirkend abzuändern, hätte im Gesetz einen deutlichen Ausdruck finden müssen. Denn aus dem Sinnzusammenhang kann auf einen derartigen Willen nicht geschlossen werden. Eine rückwirkende Änderung der Sozialversicherungspflicht ist ungewöhnlich und praktisch nur mit großen Schwierigkeiten durchzuführen. Auch erscheint es sinnwidrig, den Umfang der Sozialversicherungspflicht rückwirkend zu ändern und zugleich für die Zukunft die alte Rechtslage wieder herzustellen.

4. Der Kläger war somit versicherungspflichtig beschäftigt. Zur Beitragsentrichtung war nach § 8 der 2. Verordnung über die Vereinfachung des Lohnabzugs (2. Lohnabzugsverordnung) vom 24. April 1942 (RGBl. I S. 252), § 1426 RVO der Beklagte als Arbeitgeber verpflichtet, da der Kläger weder als Heuerling noch als unständig Beschäftigter bei dem Beklagten tätig war. Soweit die Revision vorträgt, der Kläger habe sich als Heuerling selbst um seine Versicherung kümmern müssen, setzt sich die Revision in unzulässiger Weise mit den Tatsachenfeststellungen des Landesarbeitsgerichts in Widerspruch.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1457527

NJW 1963, 2292

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