Entscheidungsstichwort (Thema)

Tarifliche Jahresleistungsprämie - Mutterschutzfristen - Erziehungsurlaub

 

Leitsatz (redaktionell)

Fehlzeiten aufgrund der Mutterschutzfristen der §§ 3, 6 MuSchG sind für die Zahlung einer tariflichen Jahresleistungsprämie einer tatsächlichen Arbeitsleistung gleichzusetzen.

 

Orientierungssatz

1. Hinweise des Senats: "Fortführung der Rechtsprechung (Urteil vom 13. Oktober 1982 - 5 AZR 370/80 - AP Nr 114 zu § 611 BGB Gratifikation; Urteil vom 8. Oktober 1986 - 5 AZR 582/85 - AP Nr 7 zu § 8a MuSchG 1968), wonach eine jährliche tarifvertragliche Sonderzahlung wegen der Fehlzeiten in der Mutterschutzfrist nicht gekürzt werden darf."

2. Auslegung des Lohntarifvertrages für die Niedersächsische Kautschukindustrie vom 23.6.1988.

 

Normenkette

TVG § 1; BGB § 611; MuSchG §§ 3, 6; BErzGG § 16

 

Verfahrensgang

LAG Niedersachsen (Entscheidung vom 05.07.1991; Aktenzeichen 3 Sa 942/90)

ArbG Hildesheim (Entscheidung vom 18.05.1990; Aktenzeichen 1 Ca 85/90)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Zahlung einer tariflichen Jahresleistungsprämie für das Jahr 1989.

Die Klägerin stand von 1975 bis zum 28. Januar 1990 bei der Beklagten als gewerbliche Arbeitnehmerin in einem Arbeitsverhältnis. Auf dieses Arbeitsverhältnis fanden die Tarifverträge der Kautschukindustrie in Niedersachsen Anwendung, u.a. der Lohntarifvertrag für die Niedersächsische Kautschukindustrie vom 23. Juni 1988, gültig ab 1. Juli 1988 (LTV). Dieser enthält - soweit hier von Bedeutung - folgende Regelungen:

"§ 4

Jahresleistungsprämie

(1) Arbeitnehmer, die bis zum 30. September des

laufenden Kalenderjahres eingetreten sind und

am 30. November in einem Arbeitsverhältnis

stehen, erhalten in der ersten Dezemberhälfte

eine Jahresleistungsprämie.

(2) Die Jahresleistungsprämie beträgt 173 (ab

1989 169, ab 1990 164,5) Tarifstundenlöhne

auf Basis des Mittelwertes des im Kalender-

jahr der Auszahlung für den einzelnen Arbeit-

nehmer geltenden Tarifgrundlohnes für Zeit-

löhner.

...

(4) Bei Teilzeitbeschäftigten wird die Jahreslei-

stungsprämie in dem Verhältnis gekürzt, in

dem ihre persönliche Arbeitszeit zur regelmä-

ßigen tariflichen Arbeitszeit steht.

(5) Arbeitnehmer, die wegen Erwerbs- oder Berufs-

unfähigkeit oder wegen Erreichens der Alters-

grenze aus dem Betrieb ausscheiden, erhalten

anteilige Jahresleistungsprämie. Gleiches

gilt für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhält-

nis infolge Einberufung zum Wehr- oder Er-

satzdienst ruht.

Werden Arbeitnehmer nach mehr als einjähriger

Betriebszugehörigkeit aus betriebsbedingten

Gründen gekündigt, so erhalten sie anteilige

Jahresleistungsprämie.

....

(6) Fehlt ein Arbeitnehmer im Laufe des Kalender-

jahres unentschuldigt dreimal oder infolge

Krankheit achtmal, so mindert sich die Jah-

resleistungsprämie für jeden darüber hinaus-

gehenden Fehlzeitenfall um 1/10. Betriebsun-

fälle bleiben unberücksichtigt.

(7) Der Anspruch auf die Jahresleistungsprämie

entfällt, wenn der Arbeitnehmer durch eigenes

Verschulden aus einem Grunde entlassen worden

ist, der eine fristlose Kündigung rechtfer-

tigt, oder wenn er das Arbeitsverhältnis ver-

tragswidrig gelöst hat."

Im Jahr 1989 hat die Klägerin keine Arbeitsleistung erbracht. Sie fiel ab 18. Dezember 1988 unter die Beschäftigungsverbote der §§ 3, 6 MuSchG und nahm anschließend Erziehungsurlaub bis zum 28. Januar 1990.

Die Klägerin verlangt die Zahlung der Jahresleistungsprämie nach § 4 LTV für 1989 in Höhe von 169 Tarifstundenlöhnen. Bei einem Stundenlohn von 11,70 DM brutto ergibt sich ein Anspruch in Höhe von 1.977,30 DM brutto.

Die Klägerin ist der Auffassung, sie erfülle die tariflichen Anspruchsvoraussetzungen für die Zahlung der Jahresleistungsprämie 1989, obwohl sie nicht gearbeitet habe; eine Ausnahmebestimmung des LTV greife nicht ein.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.977,30 DM

brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 15. Februar 1990

zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie ist der Auffassung, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zahlung der tariflichen Jahresleistungsprämie 1989, weil sie in diesem Jahr keinerlei Arbeitsleistung erbracht habe. Die Tarifvertragsparteien hätten mit der Jahresleistungsprämie die im Bezugszeitraum geleistete Arbeit anerkennen und zusätzlich vergüten wollen; eine Arbeitsleistung sei daher Voraussetzung für die Zahlung der Jahresleistungsprämie. Auf die Gründe für die Nichterbringung der Arbeitsleistung komme es nach dem LTV nicht an.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht die Beklagte zur Zahlung der Jahresleistungsprämie 1989 verurteilt. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des klageabweisenden Ersturteils. Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, daß der Klägerin die tarifliche Jahresleistungsprämie für 1989 zusteht.

I. Das Landesarbeitsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Klägerin stehe die begehrte Jahresleistungsprämie 1989 in Höhe von 1.977,30 DM brutto aus § 4 LTV zu, obwohl sie 1989 keinen einzigen Tag bei der Beklagten aufgrund der Beschäftigungsverbote der §§ 3, 6 MuSchG sowie der anschließenden Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub gearbeitet habe. Das Erbringen einer Arbeitsleistung gehöre nach dem LTV nicht zu den anspruchsbegründenden Voraussetzungen für die Jahresleistungsprämie; auch aus einem allgemeinen Rechtsprinzip ergebe sich keine Zwölftelung in Bezug auf die tatsächliche Erbringung der arbeitsvertraglich geschuldeten Leistung. Die Jahresleistungsprämie sei eine Sonderzahlung mit Mischcharakter, deren tarifliche Voraussetzungen die Klägerin erfülle, da sie bis zum 30. September 1989 in ein Arbeitsverhältnis zur Beklagten eingetreten sei und am 30. November 1989 noch im Beschäftigungsverhältnis gestanden habe. Die Regelung des LTV für das Ruhen des Arbeitsverhältnisses infolge der Einberufung zum Wehr- oder Ersatzdienst könne nicht analog angewendet werden; andere Minderungstatbestände griffen nicht ein.

II. Diesen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts ist zuzustimmen.

1. Die Klägerin erfüllt die tariflichen Anspruchsvoraussetzungen für die Jahresleistungsprämie 1989. Sie ist bis zum 30. September 1989 in die Dienste der Beklagten eingetreten und stand am 30. November 1989 zu dieser in einem Arbeitsverhältnis, § 4 (1) Satz 1 LTV. Die Jahresleistungsprämie, die in der ersten Dezemberhälfte zu zahlen ist, § 4 (1) Satz 2 LTV, beträgt im Jahr 1989 169 Tarifstundenlöhne.

2. Entgegen der Auffassung der Beklagten steht der Umstand, daß die Klägerin im Jahre 1989 keine Arbeitsleistung für die Beklagte erbracht hat, dem Anspruch nicht entgegen.

Wie das Bundesarbeitsgericht bereits entschieden hat (Urteil vom 13. Oktober 1982 - 5 AZR 370/80 - AP Nr. 114 zu § 611 BGB Gratifikation; Urteil vom 08. Oktober 1986 - 5 AZR 582/85 - AP Nr. 7 zu § 8 a MuSchG 1968), darf eine jährlich zu zahlende Jahressonderleistung nicht wegen Fehlzeiten, die durch die Mutterschutzfristen der §§ 3, 6 MuSchG entstehen, gekürzt oder ausgeschlossen werden. An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Die Schutzfristen der §§ 3, 6 MuSchG sind daher im Hinblick auf die Jahresleistungsprämie nach § 4 LTV so zu behandeln, als hätte die Klägerin tatsächlich gearbeitet. Im Falle der Klägerin nahmen diese Schutzfristen einen nicht unerheblichen Zeitraum des Jahres 1989 (1. Januar bis 26. März) in Anspruch.

3. Der Anspruch der Klägerin besteht in der vollen Höhe von 169 Tarifstundenlöhnen, § 4 (2) LTV; eine Kürzung der Jahresleistungsprämie kommt nicht in Betracht.

Weder aus einer ausdrücklichen Bestimmung, noch aus dem Gesamtzusammenhang des LTV, die bei der Tarifauslegung maßgebend zu berücksichtigen sind (BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung), oder dessen Sinn und Zweck ergibt sich, daß der Anspruch der Klägerin auf die volle Jahresleistungsprämie für die Zeiten ganz oder teilweise gekürzt werden kann, in denen sie wegen der Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub (§ 16 BErzGG) eine tatsächliche Arbeitsleistung nicht erbracht hat.

Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 5. August 1992 (- 10 AZR 88/90 - AP Nr. 143 zu § 611 BGB Gratifikation, auch für die Amtliche Sammlung des Gerichts vorgesehen) ausgesprochen und begründet, daß eine tarifliche Regelung über eine jährliche Sonderzahlung, deren Zweck es - wie hier - auch ist, im Bezugszeitraum für den Betrieb geleistete Arbeit zusätzlich zu vergüten, im einzelnen bestimmen kann, welche Zeiten ohne tatsächliche Arbeitsleistung sich anspruchsmindernd oder anspruchsausschließend auf die Sonderzahlung auswirken sollen. Eine derartige Vorschrift für den Erziehungsurlaub enthält der LTV jedoch nicht. Der Fall, daß ein Arbeitnehmer während des Bezugsjahres Erziehungsurlaub in Anspruch nimmt, ist im LTV nicht geregelt.

Allein aus der Bezeichnung der Sonderzahlung als "Jahresleistungsprämie" läßt sich die Minderung der Jahresleistungsprämie bei Inanspruchnahme von Erziehungsurlaub nicht entnehmen. Eine am Maß der jährlichen Arbeitsleistung orientierte Kürzung der Jahresleistungsprämie läßt sich auch nicht mit einem allgemeinen Rechtsprinzip begründen (BAG Urteil vom 24. Oktober 1990 - 6 AZR 341/89 - AP Nr. 2 zu § 1 TVG Tarifverträge: Glasindustrie; BAG Urteil vom 5. August 1992 - 10 AZR 88/90 - aaO); insoweit bedürfte es einer ausdrücklichen Quotenregelung, wenn die Jahresleistungsprämie für Zeiten gekürzt werden soll, in denen das Arbeitsverhältnis ruht.

Die Regelung in § 4 (5) Abs. 1 Satz 2 LTV, wonach Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis infolge Einberufung zum Wehr- oder Ersatzdienst ruht, nur eine anteilige Jahresleistungsprämie erhalten, berechtigt die Beklagte ebenfalls nicht zur Kürzung des Anspruchs der Klägerin auf die Jahresleistungsprämie 1989. Zwar kommt in dieser Bestimmung zum Ausdruck, daß für die Zeit, in der das Arbeitsverhältnis wegen Grundwehr- oder Ersatzdienst ganz oder teilweise ruht, die Jahresleistungsprämie gekürzt werden kann. Daraus folgt aber nicht, daß die Jahresleistungsprämie auch in anderen Fällen, in denen das Arbeitsverhältnis - wie etwa beim Erziehungsurlaub - ruht, um die Zeiten des Ruhens zu mindern ist. Zeiten, in denen das Arbeitsverhältnis wegen des Grundwehr- oder Ersatzdienstes ruht, können im Hinblick auf tarifliche Jahressonderzahlungen Zeiten, in denen das Arbeitsverhältnis infolge Erziehungsurlaub ruht, nicht gleichgestellt werden (so zum früheren Mutterschaftsurlaub BAG Urteil vom 13. Oktober 1982 - 5 AZR 401/80 - AP Nr. 113 zu § 611 BGB Gratifikation); daher scheidet auch eine analoge Anwendung dieser Tarifvorschrift aus.

Da das Landesarbeitsgericht somit zu Recht der Klägerin den Anspruch auf die Jahresleistungsprämie 1989 in Höhe von 169 Tarifstundenlöhnen zugesprochen hat, ist die Revision der Beklagten unbegründet.

III. Die Kosten ihrer erfolglosen Revision hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Beklagte zu tragen.

Matthes Dr. Freitag Hauck

Seyd Großmann

 

Fundstellen

Haufe-Index 436636

BB 1993, 2018

BB 1993, 2018-2019 (LT1)

DB 1993, 2339 (LT1)

DStR 1993, 1833-1833 (K)

EBE/BAG 1993, 156-158 (LT1)

AiB 1994, 53-54 (LT1)

ARST 1993, 185-186 (LT1)

NZA 1993, 1002

NZA 1993, 1002-1003 (LT1)

ZAP, EN-Nr 1062/93 (S)

AP § 611 BGB Gratifikation (LT1), Nr 156

AR-Blattei, ES 820 Nr 111 (LT1)

ArbuR 1993, 375 (S1)

AuA 1994, 301

EzA § 611 BGB, Gratifikation, Prämie Nr 104 (LT1)

GdS-Zeitung 1994, Nr 10, 14 (KT)

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