Entscheidungsstichwort (Thema)

Interlokales Tarifvertragsrecht. Lohnanspruch eines aus den neuen Bundesländern auf eine Baustelle in den alten Bundesländern entsandten Bauarbeiters; zum Verhältnis von Tarifvertrags- zu Kartellrecht

 

Leitsatz (amtlich)

  • § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau i.d.F. vom 19. Mai 1992 ist eine tarivertragliche Kollisionsnorm. Sie bestimmt zwischen beiderseits Tarifgebundenen den Lohnanspruch eines Bauarbeiters, der auf eine Baustelle außerhalb des Tarifgebietes entsandt worden ist, in dem der Beschäftigungsbetrieb seinen Sitz hat.
  • § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau gilt bei beiderseitiger Tarifbindung auch zu Gunsten von Arbeitnehmern, die von einem Betrieb in den neuen Bundesländern aus auf einer Baustelle in den alten Bundesländern tätig werden.
  • In einem solchen Fall hat der in den alten Bundesländern tätige Arbeitnehmer Anspruch auf den Gesamttarifstundenlohn, den die Bezirkslohntabelle vorsieht, in dessen Geltungsbereich die Baustelle liegt.
  • Die Tarifvertragsparteien des BRTV-Bau haben nach § 5 Ziff. 1 die allgemeinen Regelungen für die Lohnhöhe in Tarifverträgen festzulegen. Die regionalen Verbände sind durch diese Vorgaben im wesentlichen gebunden. Deshalb besteht eine enge Sachnähe zwischen dem Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe und dessen § 5 Ziff. 6 und den ggf. aufgrund dieser Regelung anwendbaren Bezirkslohntabellen. Bei beiderseitiger Tarifbindung an den Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe steht deshalb die fehlende Tarifbindung an die Bezirkslohntabellen einer Anwendung dieser Tarifverträge aufgrund von § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau nicht entgegen.
  • Das uneingeschränkte Verbot dynamischer Blankettverweisungen in Betriebsvereinbarungen auf Tarifverträge (BAG Beschluß vom 23. Juni 1992 – 1 ABR 9/92 – AP Nr. 55 zu § 77 BetrVG 1972, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen) gilt nicht entsprechend. Die Rechtsquellen stehen hier auf derselben Regelungsebene und werden von Beteiligten mit gleicher Legitimation abgeschlossen.
  • § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau beeinflußt die regionalen Wettbewerbsbedingungen der Bauunternehmen nicht unerheblich. Dies rechtfertigt aber keine Bedenken aus § 1 GWB und Art. 85 EWG-Vertrag. Tarifverträge werden nicht zwischen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen abgeschlossen. Die beteiligten Gewerkschaften werden nicht als Anbieter auf einem Dienstleistungsmarkt, sondern in Erfüllung ihrer sozialen Aufgaben aus Art. 9 Abs. 3 GG tätig.
 

Normenkette

TVG § 1 TVG; BRTV-Bau § 5 Ziff. 6

 

Verfahrensgang

ArbG Stendal (Urteil vom 25.03.1993; Aktenzeichen 1 Ca 39/93)

 

Tenor

  • Die Sprungrevision der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stendal vom 25. März 1993 – 1 Ca 39/93 – wird zurückgewiesen.
  • Die Kosten der Sprungrevision hat die Beklagte zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Höhe des dem Kläger zustehenden Arbeitsentgelts.

Die Beklagte betreibt in S…/Sachsen-Anhalt ein Bauunternehmen mit mehreren Niederlassungen, u.a. in dem ebenfalls in Sachsen-Anhalt gelegenen K…. Dort ist der Kläger, der Mitglied der Gewerkschaft Bau-Steine-Erden ist, seit dem Jahre 1967 als Maurer und Brunnenbauer beschäftigt. Zwischen den Parteien ist die Höhe des dem Kläger für die Monate September bis Dezember 1992 zustehenden Lohnes streitig. In dieser Zeit war der Kläger von der Beklagten auf einer Baustelle in Niedersachsen eingesetzt worden.

Die Beklagte, die Mitglied des Landesverbandes der Bauindustrie für das Land Sachsen-Anhalt ist, bezahlte die Arbeit des Klägers nach Maßgabe der Berufsgruppe III des Tarifvertrages zur Regelung der Löhne und Ausbildungsvergütungen im Baugewerbe im Beitrittsgebiet (ausgenommen Berlin-Ost) vom 19. Mai 1992 (Lohn-TV-Ost). Der Gesamttarifstundenlohn belief sich bis einschließlich September 1992 auf 17,05 DM und ab Oktober 1992 auf 17,46 DM brutto.

Mit Schreiben vom 3. Dezember 1992, das die Monate September und Oktober 1992 betraf, und mit Schreiben vom 22. Januar 1993 für die Monate November und Dezember 1992 machte der Kläger für die Arbeitszeit auf der Baustelle in Niedersachsen statt der gezahlten 17,05 DM bzw. 17,46 DM einen Stundenlohn von 22,14 DM geltend. Dies ist der Gesamttarifstundenlohn der Berufsgruppe III nach dem Tarifvertrag zur Regelung der Löhne und Ausbildungsvergütungen im Baugewerbe im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland mit Ausnahme des Beitrittsgebiets vom 19. Mai 1992 (Lohn-TV-West). Daneben machte er eine entsprechende Feiertagsentlohnung sowie dem höheren Gesamttarifstundenlohn angepaßte Überstundenund Feiertagszuschläge geltend.

Da er erfolglos blieb, hat der Kläger mit seiner am 9. Februar 1993 beim Arbeitsgericht eingegangenen und am 16. Februar 1993 zugestellten Klageschrift einen Differenzbetrag von insgesamt 3.194,71 DM brutto geltend gemacht.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, ihm stehe nach § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau für die Zeit, die er auf einer Baustelle in den alten Bundesländern gearbeitet habe, Lohn der dortigen auswärtigen Baustelle zu. Dies sei der Gesamttarifstundenlohn nach dem Lohn-TV-West.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, 3.194,71 DM brutto nebst 4 % Zinsen auf den sich daraus ergebenden Nettobetrag seit dem 16. Februar 1993 an den Kläger zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat den Standpunkt vertreten, der Kläger könne sich nicht auf § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau stützen, weil es in den alten Bundesländern Bezirkslohntarifverträge gebe, während im Beitrittsgebiet solche Tarifverträge nicht abgeschlossen worden seien. Im übrigen scheitere die Anwendung des § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau auch daran, daß die Beklagte in Niedersachsen keinen selbständigen Betriebsteil unterhalte und den Kläger dort auch nur vorübergehend auf einer Baustelle eingesetzt habe.

Hilfsweise hat die Beklagte sich darauf berufen, es müsse in jedem Falle eine Umrechnung des Gesamttarifstundenlohnes bezogen auf die unterschiedliche Wochenarbeitszeit in den alten und den neuen Bundesländern erfolgen. Die Tarifvertragsparteien hätten mit dem Lohn-TV-Ost eine Umrechnung des Gesamttarifstundenlohnes entsprechend der unterschiedlichen Wochenarbeitszeit vorgenommen und vereinbart. Rein rechnerisch komme daher für den Kläger allenfalls ein Anspruch in Höhe von 2.389,77 DM brutto in Betracht.

Das Arbeitsgericht hat dem Klageantrag entsprochen. Mit der zugelassenen Sprungrevision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter, während der Kläger deren Zurückweisung anstrebt.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision der Beklagten ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht entsprochen.

A. Die Klage ist zulässig. § 17 BRTV-Bau begründet für die Beklagte keine prozeßhindernde Einrede nach § 102 Abs. 1 ArbGG. Durch diese Vorschrift wird nur im Sinne von § 101 Abs. 1 ArbGG für Auslegungsstreitigkeiten zwischen den Tarifvertragsparteien die Entscheidung eines Schiedsgerichts angeordnet (Karthaus/Müller, BRTV-Bau, Text und Erläuterung, 4. Aufl., Anm. zu § 17). Individualrechtliche Lohnklagen sind nicht umfaßt, auch wenn ihr Ergebnis entscheidend von der Auslegung einer Tarifnorm abhängt.

B. Die Klage ist begründet. Der Kläger hat nach § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau für die Zeit seiner Tätigkeit auf einer Baustelle der Beklagten in Niedersachsen Anspruch auf den dort geltenden Gesamttarifstundenlohn. Daraus ergibt sich der zuerkannte Restlohnanspruch für die Monate September bis Dezember 1992.

I. § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau i.d.F. vom 19. Mai 1992 findet auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung.

Die Parteien sind tarifgebunden nach § 3 Abs. 1 TVG. Der Kläger ist Mitglied der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden, die Beklagte Mitglied des Landesverbandes der Deutschen Bauindustrie für das Land Sachsen-Anhalt. Dieser Verband hat seine Tarifkompetenz u.a. für Rahmenvereinbarungen auf den Hauptverband der Deutschen Bauindustrie übertragen, der den BRTV-Bau auf Arbeitgeberseite abgeschlossen hat.

Das Arbeitsverhältnis unterliegt auch seit Juni 1992 dem Geltungsbereich dieses Tarifvertrages. Nach §§ 1, 20 BRTV-Bau gilt der Tarifvertrag in der Fassung vom 19. Mai 1992 mit Wirkung ab dem 1. Juni 1992 für Betriebe des Baugewerbes im Gebiet der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Zu den in der gesamten Bundesrepublik geltenden Regelungen gehört auch § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau, während wegen anderer Bestimmungen Sonderregelungen für das Beitrittsgebiet in den Tarifvertrag mit aufgenommen wurden.

II. Der für die Entscheidung des Rechtsstreits in erster Linie maßgebliche § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau lautet:

“Es gilt der Lohn der Arbeitsstelle. Auswärts beschäftigte Arbeitnehmer behalten jedoch den Anspruch auf den Gesamttarifstundenlohn ihres Einstellungsortes. Ist der Lohn der auswärtigen Arbeitsstelle höher, so haben sie Anspruch auf diesen Gesamttarifstundenlohn, solange sie auf dieser Arbeitsstelle tätig sind.”

III. Bei der Auslegung dieser Tarifvorschrift kommt es nach der ständigen Rechtsprechung des Senats entsprechend den Grundsätzen über die Gesetzesauslegung zunächst auf den Tarifwortlaut an. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mitzuberücksichtigen, sofern und soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Hierzu ist auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen. Häufig kann nur daraus und nicht aus der einzelnen Norm auf den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien und den von ihnen verfolgten Sinn und Zweck der Regelung geschlossen werden. Zur Verstärkung eines in dieser Weise gefundenen Auslegungsergebnisses kann dann noch auf weitere Umstände zurückgegriffen werden, wie die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages (BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung, m.w.N.).

IV. Eine hieran orientierte Auslegung des § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau ergibt, bezogen auf den Streitfall, daß Baubetriebe aus den neuen Bundesländern ihren Arbeitnehmern dann, wenn sie sie auf Baustellen im alten Bundesgebiet einsetzen, den nach den dort geltenden Bautarifverträgen höheren Gesamttarifstundenlohn zahlen müssen.

1. Der von den Tarifvertragsparteien in § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau gewählte Begriff der Arbeitsstelle als Anknüpfungspunkt für die Lohnhöhe ist nach allgemeinem Wortgebrauch nicht ohne weiteres deckungsgleich mit dem Begriff der Baustelle. Wahrig bestimmt den Begriff der Arbeitsstelle dahin, hier sei der Betrieb gemeint, in dem man arbeite (Deutsches Wörterbuch, 1986, S. 184). Auf den allgemeinen Sprachgebrauch kommt es hier jedoch nicht an. Die Tarifvertragsparteien selbst haben deutlich gemacht, daß sie den Begriff der Arbeitsstelle nicht funktional/organisatorisch, sondern rein geographisch und als Oberbegriff für eine Baustelle oder einen sonstigen Ort der Arbeitsausübung verstehen.

§ 7 Ziff. 1 BRTV-Bau spricht von “Bau- oder sonstigen Arbeitsstellen”. Wenn es dann in den folgenden Abschnitten nur noch “Bau- oder Arbeitsstellen” heißt, handelt es sich ersichtlich um eine redaktionelle Vereinfachung ohne Veränderung des Begriffsinhalts.

Auch die Meistbegünstigungsregelung des § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau selbst macht die rein geographische Bedeutung des Begriffs Arbeitsstelle als Oberbegriff auch für eine Baustelle deutlich. Satz 1 erklärt die Arbeitsstelle, die weder der Wohnsitz des Arbeitnehmers, noch notwendigerweise der Betriebssitz des Arbeitgebers sein muß, zum maßgeblichen Anknüpfungspunkt für die Höhe des Lohnanspruchs. Daß mit der Arbeitsstelle rein geographisch der Ort der Arbeitsleistung gemeint ist, zeigt Satz 2 der Vorschrift. Wenn er für den Fall der auswärtigen Beschäftigung den Lohnanspruch des Einstellungsortes garantiert, dann ist dies nur damit zu erklären, daß bei einer auswärtigen Beschäftigung an sich ein anderer Lohn, nämlich der Lohn der auswärtigen Arbeitsstelle, der Baustellenlohn, gelten würde. Satz 3 kehrt dann wieder zum Grundsatz zurück. Er läßt den Lohn der auswärtigen Arbeitsstelle, den Baustellenlohn, in jedem Falle maßgeblich sein, wenn er höher ist als der Lohn am Einstellungsort.

§ 5 Ziff. 6 Satz 3 BRTV-Bau belegt auch, daß es für die Maßgeblichkeit des Baustellenlohnes nicht darauf ankommen soll, daß der Arbeitgeber dort eine auf Dauer angelegte Organisation unterhält. Es heißt dort, die Arbeitnehmer erhielten den höheren Lohn nur solange, wie sie auf dieser Arbeitsstelle tätig seien. Die Tarifvertragsparteien haben damit ersichtlich auch auf die typische Situation einer nur vorübergehenden Aktivität des Arbeitgebers am betreffenden Einsatzort abgestellt (vgl. hierzu insgesamt schon Blumensaat/Sperner/Unkelbach/Weimer, Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe, 4. Aufl., Anm. 10 bis 12 zu § 5).

2. Bei der Regelung des § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau handelt es sich um eine bis heute geltende und auf die derzeitige Tarifsituation im Verhältnis zwischen den alten und den neuen Bundesländern anwendbare Tarifnorm.

Es mag sein, daß Anlaß für diese Tarifbestimmung die von den Tarifvertragsparteien des Baugewerbes bis 1977 verwendeten unterschiedlichen Ortsklassen waren, denen unterschiedliche Lohnhöhen folgten. Dies rechtfertigt es aber nicht, § 5 Ziff. 6 Satz 2 und 3 BRTV-Bau für die Zeit seit Wegfall der Ortsklassenregelung am 1. Mai 1977 eine praktische Bedeutung abzusprechen (so aber Karthaus/Müller, BRTV-Bau, 4. Aufl., Anm. zu § 5 Ziff. 6 ≪S. 712≫). Die Tarifvertragsparteien haben in § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau nicht nur die damalige Regelungssituation angesprochen, sondern durch die Verwendung des Wortes Gesamttarifstundenlohn ganz allgemein deutlich gemacht, daß die Tätigkeit des Arbeitnehmers, was die Lohnhöhe angeht, dem Recht des Ortes folgen soll, wo diese Tätigkeit ausgeübt wird (so ausdrücklich schon Blumensaat/Sperner/Unkelbach/Weimer, aaO, Anm. 10 zu § 5). Die Tarifvertragsparteien haben bewußt und gewollt eine tarifliche Kollisionsregel geschaffen.

Dabei konnte die nach der Vereinigung eingetretene besondere Tarifsituation noch keine Rolle spielen. Die vom Arbeitsgericht zu Recht ausführlich behandelte Tarifgeschichte des § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau seit der Vereinigung zeigt aber deutlich, daß die Tarifvertragsparteien diese Bestimmung, die nach ihrem Wortlaut ohnehin auch auf das Problem des Lohngefälles zwischen alten und neuen Bundesländern zugeschnitten ist, in dem vom Kläger vertretenen Sinn angewendet wissen wollen. Als am 11. Februar 1991 die Überleitung des BRTV-Bau auf das Gebiet der fünf neuen Länder und Ost-Berlin anstand, haben die Tarifvertragsparteien § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau ausdrücklich für das Beitrittsgebiet nicht in Kraft gesetzt (§ 6 Abs. 2 ÜberleitungsTV BRTV-Bau vom 11. Februar 1991 i.d.F. vom 19. Mai 1992). Sie haben am gleichen Tag eine Vereinbarung zur Regelung der Löhne der gewerblichen Arbeitnehmer in den Betrieben des Baugewerbes in den fünf neuen Ländern und im Ostteil des Landes Berlin während einer Beschäftigung in dem Gebiet der alten Bundesländer getroffen. Sie haben sich in dieser Vereinbarung verpflichtet, für die Zeit ab dem 1. September 1991 eine tarifvertragliche Regelung zu treffen, durch welche die gewerblichen Arbeitnehmer der Ost-Betriebe für die Dauer von Arbeiten im Gebiet der alten Länder Anspruch auf die Löhne nach dem Lohn-TV-West erwerben sollten. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, daß die Tarifvertragsparteien in § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau eine Kollisionsregel auch zur Bewältigung des Problems des Lohngefälles zwischen West und Ost gesehen haben, deren Anwendung zugunsten der Arbeitnehmer und zuungunsten der Ost-Betriebe sie aber für einen vorübergehenden Zeitraum nicht wollten.

Die eingegangene Verpflichtung haben die Tarifvertragsparteien zwar zunächst nicht erfüllt. Sie haben dann aber durch den Änderungstarifvertrag vom 19. Mai 1992 zum 1. Juni 1992 § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau – anders etwa als § 5 Ziff. 1 BRTV-Bau – auch für das Beitrittsgebiet in Kraft gesetzt. Dies kann nach der Vorgeschichte nur so verstanden werden, daß die Tarifvertragsparteien das nach der Vereinbarung vom 11. Februar 1991 von ihnen erkannte kollisionsrechtliche Problem nunmehr in dem bereits in der damaligen Vereinbarung angesprochenen Sinne lösen wollten: Arbeitet ein Baubetrieb aus dem Beitrittsgebiet auf einer Baustelle in den westlichen Bundesländern, ist für die dort geleistete Arbeit der höhere Baustellenlohn der westlichen Bundesländer zu zahlen.

Nur wenn man § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau dieses Regelungsziel entnimmt, gibt die Inkraftsetzung dieser Vorschrift auch im Beitrittsgebiet einen Sinn. Mit dem ÜberleitungsTV BRTV-Bau vom 11. Februar 1991 i.d.F. vom 19. Mai 1992 wurden der Lohn-TV-West, die für die Tarifgebiete in den alten Bundesländern vereinbarten Bezirkslohntabellen und der Lohn-TV-Ost abgeschlossen. Die Tariflöhne für das Beitrittsgebiet wurden einheitlich im Lohn-TV-Ost festgelegt. Bezirkslohntabellen gibt es hier nicht. Damit schied auch von vornherein ein Anwendungsfall des § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau nur innerhalb des Beitrittsgebiets aus.

3. § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau beeinflußt und beschränkt durch die gleichmäßige Festlegung der Arbeitsentgelte für alle – tarifgebundenen – Bauunternehmen, die auf einem bestimmten Gebiet tätig werden wollen, die Wettbewerbsbedingungen dieser Unternehmen untereinander. Dies reicht aber nicht aus, gegenüber der Auslegung der Tarifnorm Bedenken aus § 1 GWB zu rechtfertigen.

Das Kartellverbot dieser Vorschrift und des Art. 85 EWG-Vertrag richtet sich nur gegen Abreden von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen untereinander. Tarifverträge werden demgegenüber zwischen Gewerkschaften und Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen abgeschlossen. Dabei werden die Gewerkschaften nicht wie Unternehmen an einem Markt für Waren und Dienstleistung tätig. Es geht vielmehr um die Erfüllung der von Verfassungs wegen nach Art. 9 Abs. 3 GG vorgegebenen Aufgabe, für die in abhängiger Beschäftigung tätigen Arbeitnehmer Mindestarbeitsbedingungen zu schaffen (BAGE 62, 171, 184 f. = AP Nr. 113 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; Senatsurteil vom 28. März 1990– 4 AZR 536/89 – AP Nr. 25 zu § 5 TVG; Däubler, Tarifvertragsrecht, 3. Aufl., Rz 379 f.; MünchArbR/Löwisch, Bd. 3, § 240 Rz 5 f.).

Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, daß § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau allein mit der Absicht vereinbart wurde, den Wettbewerb konkurrierender Unternehmen zu regulieren. In einem solchen Falle hätte man an eine rechtsmißbräuchliche Verwendung des Regelungsinstruments eines Tarifvertrages zur Verdeckung einer nach dem Wettbewerbsrecht unzulässigen Abrede denken können (vgl. BAGE 62, 171, 189 f. = AP Nr. 113 zu Art. 9 GG Arbeitskampf). Es geht bei § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau nicht darum, das Verhältnis der Bauunternehmen zueinander zu regeln. Regelungsaufgabe der Norm ist vielmehr die Behandlung der besonderen sozialen Probleme auf dem Arbeitsmarkt, die nach der Vereinigung durch die unterschiedlichen Lohnbedingungen in den alten und den neuen Bundesländern entstanden sind.

V. Entgegen der Auffassung des Klägers und des Arbeitsgerichts ergibt sich der nach § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau für die Arbeit in Niedersachsen geschuldete Gesamttarifstundenlohn allerdings nicht aus dem Lohn-TV-West vom 19. Mai 1992. Für den Bezirk Niedersachsen ist diese Regelung durch die spezielleren Bestimmungen der Bezirkslohntabelle für das Land Niedersachsen verdrängt worden, die ebenfalls am 19. Mai 1992 vereinbart wurde. Bei einer solchen Bezirkslohntabelle handelt es sich um einen selbständigen von den regionalen Organisationen abgeschlossenen Bezirkslohntarifvertrag, der für die Eingruppierung und die Bestimmung der Lohnhöhe in erster Linie maßgeblich ist (Senatsurteil vom 9. Februar 1983, BAGE 41, 344 = AP Nr. 46 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau).

Für die Berufsgruppe III, der der Kläger unstreitig angehört, sieht die Bezirkslohntabelle für Niedersachsen allerdings denselben Gesamttarifstundenlohn von 22,14 DM vor, wie auch der Lohn-TV-West. Die Verdrängung dieses Tarifvertrages durch die Bezirkslohntabelle wirkt sich deshalb im Ergebnis nicht aus.

VI. Dem Anspruch des Klägers, für seine Tätigkeit in Niedersachsen den Gesamttarifstundenlohn nach der Bezirkslohntabelle für Niedersachsen zu erhalten, steht der Umstand nicht entgegen, daß die Beklagte insoweit nicht tarifgebunden ist.

1. § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau wirkt für einen Teilbereich bei beiderseitiger Tarifbindung im Ergebnis wie die dynamische Verweisung eines Tarifvertrages auf einen anderen.

Besonderheiten ergeben sich allerdings in zweifacher Hinsicht:

§ 5 Ziff. 6 BRTV-Bau ordnet nicht die Geltung des fremden Tarifvertrages insgesamt an. Lediglich für die besondere Frage nach der Lohnhöhe bei auswärtiger Beschäftigung soll der dort geltende Gesamttarifstundenlohn, also der dortige regionale Lohntarifvertrag, herangezogen werden.

Der am Arbeitsort geltende Lohntarifvertrag wird auch nicht für den Fall der Auswärtsbeschäftigung Teil des BRTV-Bau. Die Lohntarifverträge und der Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe stehen selbständig nebeneinander (vgl. für § 5 Ziff. 1 BRTV-Bau: BAGE 57, 374 = AP Nr. 11 zu § 1 TVG Form). § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau ordnet aber übergreifend an, daß die auf die jeweiligen Arbeitsverhältnisse unmittelbar anwendbaren Lohntarifverträge des Baugewerbes für den Fall einer auswärtigen Beschäftigung dahin zu ergänzen sind, daß der Gesamttarifstundenlohn nach dem an der auswärtigen Baustelle geltenden Lohntarifvertrag dann geschuldet ist, wenn er günstiger ist, als der am Entsendeort geltende.

Damit wirkt § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau bei tarifgebundenen Parteien in seinem eng begrenzten Anwendungsbereich wie eine Verweisung aus dem kraft Tarifbindung geltenden Lohntarifvertrag auf einen anderen Lohntarifvertrag in seiner jeweiligen Fassung.

2. Mit diesem Inhalt begegnet § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau keinen durchgreifenden Bedenken.

a) Ursprünglich hatte die Rechtsprechung die Verweisung eines Tarifvertrages auf einen anderen in seiner jeweiligen Fassung als grundsätzlich unzulässig und deshalb unwirksam angesehen (BAGE 3, 303 = AP Nr. 3 zu § 4 TVG Geltungsbereich; BAGE 12, 285 = AP Nr. 12 zu § 3 TVG Verbandszugehörigkeit; ebenso Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, Bd. II/1, 7. Aufl., S. 454; Gröbing, AuR 1961, 334, 336 f.; Rupert Scholz, Festschrift für Gerhard Müller, 1981, S. 509, 527; a.A. Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 1 Rz 87; Herschel, Anm. zu AP Nr. 3 zu § 19 TV Arb Bundespost). Neben Bedenken aus dem Schriftformgebot des § 1 Abs. 2 TVG war hierfür insbesondere die Überlegung maßgebend, daß es nach Art. 9 Abs. 3 GG Sache der Tarifvertragsparteien ist, im Rahmen ihres Aufgabengebietes das zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen interessen- und sachgerechte Tarifrecht selbst zu setzen. Diese Normsetzungsbefugnis könne nicht auf Dritte, auch nicht dritte Tarifvertragsparteien, übertragen werden.

Diese Rechtsprechung hat der Senat in seinen Urteilen vom 9. Juli 1980 (BAGE 34, 42 = AP Nr. 7 zu § 1 TVG Form, mit zust. Anm. Wiedemann; kritisch: Gröbing, AuR 1982, 116) und 10. November 1982 (BAGE 40, 327 = AP Nr. 8 zu § 1 TVG Form, mit zust. Anm. Mangen) modifiziert. Die hinreichend bestimmte Verweisung eines Tarifvertrages auf einen anderen Tarifvertrag in seiner jeweiligen Fassung kann zulässig sein. Entscheidend ist, ob bei den Parteien des in Bezug genommenen Tarifvertrages von einer derartigen Sachnähe auch zu dem im verweisenden Tarifvertrag zu regelnden Bereich ausgegangen werden kann, daß die dort gefundenen Bestimmungen auch im Bereich des verweisenden Tarifvertrages die Vermutung der Sachgerechtigkeit für sich haben. Dies ist dann der Fall, wenn die Tarifvertragsparteien auf einen anderen Tarifvertrag verweisen, den sie selbst abgeschlossen haben und dessen künftige Änderung in ihrer Hand liegt, oder wenn zwischen den beiden Tarifverträgen ein enger Sachzusammenhang besteht. Dann bleibt die Sachregelungskompetenz letztlich in den Händen der Parteien des verweisenden Tarifvertrages. Die Formvorschrift des § 1 Abs. 2 TVG steht der Wirksamkeit der Verweisungsnorm regelmäßig nicht entgegen. Die Formvorschrift hat ausschließlich Klarstellungsfunktion. Diese Funktion ist bereits dann erfüllt, wenn im Zeitpunkt der jeweiligen Anwendung die in Bezug genommene Regelung schriftlich abgefaßt und im verweisenden Tarifvertrag bestimmt genug bezeichnet ist.

Dieser Rechtsprechung, an der festzuhalten ist, hat sich die neuere Literatur ganz überwiegend angeschlossen (Hagemeier/Kempen/Zachert/Zilius, TVG, 2. Aufl., § 1 Rz 240; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz 127 f., 377; Däubler, Tarifvertragsrecht, 3. Aufl., Rz 121 f.; MünchArbR/Löwisch, Bd. 3, § 251 Rz 16; kritisch Gröbing, AuR 1982, 116; Mayer-Maly, Festschrift für Ernst Wolf, 1985, S. 473 f.).

b) Nach diesen Maßstäben ist die in § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau übergreifend für die jeweiligen Lohntarifverträge vorgenommene Regelung nicht zu beanstanden.

Bei einem Einsatz auf einer auswärtigen Baustelle ist der dort geltende schriftlich abgeschlossene Lohntarifvertrag ohne weiteres feststellbar.

Es besteht auch eine hinreichend enge Sachnähe dieses Tarifvertrages zu der verweisenden Regelung in § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau. Die Tarifvertragsparteien auf Arbeitgeberseite sind zwar nicht identisch. Die für die Bezirkslohntabellen zuständigen regionalen Organisationen sind jedoch im wesentlichen an Vorgaben gebunden, die durch die Tarifvertragsparteien des verweisenden Bundesrahmentarifvertrages vorgegeben wurden. Die Bezirkslohntabellen sind nach Maßgabe der vom Hauptverband der Bauindustrie und der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden abgeschlossenen allgemeinen tariflichen Regelung der Löhne und Ausbildungsvergütungen zu vereinbaren. So bestimmt § 7 Lohn-TV-West vom 19. Mai 1992, daß die Bezirksorganisationen verpflichtet sind, unverzüglich die Lohntarifverträge und Lohntabellen ihrer jeweiligen Gebiete nach Maßgabe des Lohn-TV-West zu erstellen. Durch eine solche Regelung bleibt die Sachregelungskompetenz für die Lohnhöhe in den jeweiligen Bezirkslohntabellen letztlich bei den Parteien des Bundesrahmentarifvertrages für das Baugewerbe.

VII. Der dem Kläger für seine Arbeit in Niedersachsen zustehende Gesamttarifstundenlohn von 22,14 DM nach der Bezirkslohntabelle für das Land Niedersachsen führt zu dem vom Arbeitsgericht zuerkannten Klagebetrag.

1. Der in Niedersachsen geltende Gesamttarifstundenlohn muß nicht im Hinblick auf die unterschiedliche tarifliche Wochenarbeitszeit in Niedersachsen und in den neuen Bundesländern umgerechnet werden. Die Beklagte schuldet nach § 5 Ziff. 6 BRTV-Bau den in Niedersachsen geltenden Gesamttarifstundenlohn. Sie behauptet nicht, daß in diesem Betrag ein bestimmter Anteil enthalten ist, der als Lohnausgleich im Hinblick auf die kürzere Wochenarbeitszeit in den alten Bundesländern festgelegt worden wäre. Sie trägt lediglich vor, bei der Festlegung der Tariflöhne im Beitrittsgebiet sei die dort geltende längere Wochenarbeitszeit berücksichtigt worden. Auf die Tariflöhne im Beitrittsgebiet kommt es aber nach § 5 Ziff. 6 Satz 3 BRTV-Bau bei einer Beschäftigung in den alten Bundesländern nicht an.

2. Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß der Kläger den Anspruch auf restliches Arbeitsentgelt in der geltend gemachten Höhe hat, wenn ihm ein Gesamttarifstundenlohn von 22,14 DM zusteht.

3. Der Kläger hat die Ausschlußfristen des § 16 BRTV-Bau eingehalten.

C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Unterschriften

Schaub, Schneider, Bepler, Dr. Reinfeld

Für den ehrenamtlichen Richter Bruse, der sich im Urlaub befindet.

Schaub

 

Fundstellen

Haufe-Index 845957

BAGE, 66

BB 1993, 2307

BB 1994, 795

NZA 1994, 622

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