Entscheidungsstichwort (Thema)

Tariflicher Abfindungsanspruch bei Entlassung

 

Leitsatz (amtlich)

  • Es ist keine unzulässige Regelung zu Lasten Dritter, wenn ein die Privatisierung der Handelsorganisation (HO) begleitender Firmentarifvertrag einen Betriebserwerber verpflichtet, für den Fall einer betriebsbedingten Kündigung innerhalb eines Jahres eine Abfindung zu zahlen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn im selben Tarifvertrag sich auch der Arbeitgeber selbst zur Zahlung einer Abfindung verpflichtet, falls er betriebsbedingt kündigt.
  • Stellt ein Tarifvertrag für die an der Beschäftigungszeit orientierte Berechnung der Abfindung auf den “ununterbrochenen Bestand” des Arbeitsverhältnisses ab, kommt es auf dessen rechtlichen Bestand, nicht dessen Vollzug an. Daher sind auch Zeiten zu berücksichtigen, in denen die Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis ganz oder teilweise suspendiert waren. Bei entsprechender Arbeitsvertragsgestaltung kann hierzu auch die Zeit als hauptamtliche Vorsitzende einer Betriebsgewerkschaftsleitung gehören.
 

Normenkette

TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel; Tarifvertrag über die Qualifizierung und Milderung wirtschaftlicher Nachteile im Zusammenhang mit der Privatisierung (GPH-TV) vom 28. Januar 1991, § 4 Abs. 2, § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 2-3; TVG § 2 Abs. 1, § 3

 

Verfahrensgang

LAG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 26.01.1993; Aktenzeichen 3 Sa 35/92)

KreisG Neubrandenburg (Urteil vom 16.01.1992; Aktenzeichen 4 Ca 4042/91)

 

Tenor

  • Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 26. Januar 1993 – 3 Sa 35/92 – aufgehoben.
  • Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Kreisgerichts Neubrandenburg vom 16. Januar 1992 – 4 Ca 4042/91 – abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 2.237,50 DM zu zahlen.
  • Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Höhe der der Klägerin nach dem Tarifvertrag über die Qualifizierung und Milderung wirtschaftlicher Nachteile im Zusammenhang mit der Privatisierung vom 28. Januar 1991 (GPH-TV) zustehenden Abfindung. Diesen Tarifvertrag hat die GPH-Gesellschaft zur Privatisierung des Handels mbH mit der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen abgeschlossen, deren Mitglied die Klägerin ist.

Die am 26. Oktober 1953 geborene Klägerin war von 1973 bis zum 31. August 1984 beim VEB-N… in N… beschäftigt. Unter dem 8. August 1984 schloß dieser Betrieb mit der Klägerin und dem VEB-Gaststätten (HO) N… einen Überleitungsvertrag, nach dem die Klägerin ab dem 1. September 1984 um der “Übernahme einer Tätigkeit entsprechend der vorhandenen gesellschaftlichen Qualifikation” willen die Tätigkeit als “BGL-Vorsitzender” übernehmen sollte. Im Dezember 1984 wurde die Klägerin auch zur hauptamtlichen Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung gewählt. Unter dem 3. Juli 1985 wurde zwischen der Klägerin und der VEB-Gaststätten (HO) ein weiterer Arbeitsvertrag geschlossen, der für die Zeit ab dem 1. September 1984 als Tätigkeit “Vorlaufkader-Gaststättenleiter” nennt. Während ihrer bis zum 31. Dezember 1989 dauernden Zeit als BGL-Vorsitzende wurden die Gehälter durch den VEB-Gaststätten (HO) an die Klägerin ausgezahlt. Diese Zahlungen wurden aus der Gewerkschaftskasse des FDGB erstattet. Treue- und Jahresendprämien erhielt die Klägerin vom Betrieb nach den dort geltenden Regelungen. Im Jahre 1988 wurde der Klägerin durch den FDGB eine Gehaltserhöhung zum 1. Januar 1989 mitgeteilt, die der FDGB kurze Zeit später gegenüber dem VEB-Gaststätten (HO) bestätigte. Während der Zeit ihrer Tätigkeit als BGL-Vorsitzende zahlte die Klägerin, die zuvor in der freiwilligen Zusatzrentenversicherung der Sozialversicherung (FZR) versichert gewesen war, Beiträge in die freiwillige zusätzliche Funktionärsunterstützung für hauptamtliche Mitarbeiter der Gewerkschaft FDGB (FZA) ein.

Zum 1. Januar 1990 übernahm die Klägerin die Leitung der Gaststätte “S…”, die ursprünglich zum VEB-Gaststätten (HO) gehört hatte. Diese Gaststätte wurde mit Wirkung zum 1. Februar 1991 im Rahmen der Privatisierung von der Beklagten übernommen, die der Klägerin zum 30. Juni 1991 kündigte.

Die Parteien streiten darüber, welche Beschäftigungszeiten bei der Berechnung des Abfindungsanspruchs der Klägerin nach dem GPH-TV zu berücksichtigen sind. In diesem Tarifvertrag heißt es im hier wesentlichen:

“§ 4 Betriebsübergang

  • Gehen Betriebe oder Betriebsteile durch Rechtsgeschäft auf einen Erwerber über, so wird die GPH durch Begründung entsprechender Pflichten im Kaufvertrag sicherstellen, daß die in diesen Betrieben/Betriebsteilen Beschäftigten nach § 613a BGB übernommen werden.
  • Werden Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach dem Betriebsübergang vom Erwerber aus dringenden betrieblichen Gründen (§ 1 Abs. 2 S. 1 KSchG) gekündigt, so hat der neue Arbeitgeber eine Abfindung zu zahlen, die der Höhe nach der Abfindung entspricht, die gezahlt worden wäre, wenn der Betriebsübergang nicht stattgefunden hätte und dem Arbeitnehmer gekündigt worden wäre.

§ 8 Abfindung

  • Alle Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nicht auf einen neuen Arbeitgeber übergeht und gekündigt oder auf Veranlassung des Arbeitgebers durch Aufhebungsvertrag beendet wird, erhalten eine Abfindung in Höhe von 25 % ihres tariflichen Bruttomonatseinkommens pro anrechnungsfähigem Beschäftigungsjahr. Stichtag für die Bemessung des Bruttomonatsgehaltes ist der 1. Februar 1991 oder ein früherer Zeitpunkt des Ausscheidens.

§ 9 Definitionen

  • Soweit dieser Tarifvertrag auf die Beschäftigungsdauer abstellt, kommt es auf den ununterbrochenen Bestand des Arbeitsverhältnisses an, das der Arbeitnehmer bei dem Arbeitgeber oder seinem Rechtsvorgänger beim Ausscheiden zurückgelegt hat. Angerechnet werden Zeiten, die der Arbeitnehmer bei einem anderen Betrieb im Geltungsbereich dieses Tarifvertrages zurückgelegt hat, wenn der Betriebswechsel unmittelbar stattgefunden hat.
  • Bruchteile von mehr als einem halben Jahr werden aufgerundet.

§ 12

Dieser Tarifvertrag wird für alle zur Gesellschaft gehörenden Unternehmen im Rahmen rechtsgeschäftlich begründeter Tarifführerschaft geschlossen.

Er stellt einen Einheitstarifvertrag dar, der hinsichtlich der in den obligatorischen Bestimmungen festgelegten Rechte und Pflichten nur gemeinsam ausgeübt werden kann. …”

Auf der Grundlage der Beschäftigungszeiten der Klägerin vom 1. September bis zum Dezember 1984 und vom Januar 1990 bis zum 30. Juni 1991 zahlte die Beklagte an die Klägerin, die zuletzt ein Monatsgehalt von 1.870,00 DM brutto hatte, einen Abfindungsbetrag von 935,00 DM aus.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin die Zahlung eines darüber hinaus gehenden Abfindungsbetrages in Höhe von 2.237,50 DM verlangt. Sie hat zur Begründung vorgetragen, auch die Zeit von Dezember 1984 bis Dezember 1989 müsse bei der Berechnung des Abfindungsanspruchs berücksichtigt werden. Sie sei bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten zwar als hauptamtliche BGL-Vorsitzende tätig gewesen. Es habe während dieser Zeit aber ein Arbeitsverhältnis mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten bestanden. Aufgrund der Rückerstattung der Gehälter durch den FDGB könne nicht angenommen werden, daß das einmal begründete Arbeitsverhältnis zur Rechtsvorgängerin der Beklagten erloschen sei. Im übrigen hat die Klägerin auf Hinweise zur Anwendung der Tarifverträge zur Milderung wirtschaftlicher Nachteile im Zusammenhang mit der Privatisierung vom 5. August 1991 verwiesen, die von beiden Tarifvertragsparteien einvernehmlich gegeben worden seien. Hiernach werde die Tätigkeit als hauptamtliches Mitglied der BGL dann als ununterbrochene Beschäftigungszeit gewertet, wenn während dieser Zeit ein Arbeitsverhältnis mit dem Betrieb begründet gewesen sei.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin 2.237,50 DM zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat den Standpunkt vertreten, die Tätigkeit der Klägerin als hauptamtliche BGL-Vorsitzende sei eine Wahlfunktion nach den Grundsätzen des FDGB gewesen. Während der Zeit dieser Tätigkeit habe die Klägerin ein durch Wahl begründetes Arbeitsverhältnis zum FDGB gehabt. Das Arbeitsverhältnis mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten sei unterbrochen gewesen. Die Klägerin sei in dieser Zeit durch den VEB-Gaststätten (HO) von der Erfüllung ihrer arbeitsvertraglichen Pflichten freigestellt gewesen.

Das Kreisgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin blieb erfolglos. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision strebt die Klägerin weiterhin die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 2.237,50 DM an. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Kreisgericht und Landesarbeitsgericht haben die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Klägerin hat Anspruch auf den geltend gemachten Restabfindungsbetrag von 2.237,50 DM aus § 4 Abs. 2, § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 2 GPH-TV in Verbindung mit § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB.

A. Der GPH-TV findet zwischen den Prozeßparteien nach § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB Anwendung.

I. Zum Zeitpunkt der Übernahme der Gaststätte “S…” durch die Beklagte mit Wirkung vom 1. Februar 1991 regelte dieser Tarifvertrag Rechte und Pflichten des Arbeitsverhältnisses der damals in der Gaststätte beschäftigten Klägerin mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten.

1. Der GPH-TV vom 28. Januar 1991 ist rechtswirksam zustande gekommen. Er wurde zwar auf Arbeitgeberseite weder von einem Arbeitgeberverband noch von einem einzelnen Unternehmen abgeschlossen. Auf Arbeitgeberseite stand vielmehr eine Gruppe von Unternehmen, die rechtsgeschäftlich durch die GPH Gesellschaft zur Privatisierung des Handels mbH vertreten wurde (§ 12 GPH-TV). Daraus ergeben sich aber keine Wirksamkeitsbedenken. Jede Tarifvertragspartei kann sich bei Tarifverhandlungen und bei dem Abschluß eines Tarifvertrages nach den allgemeinen Regeln des Rechts der Stellvertretung (§§ 164 ff. BGB) durch Dritte vertreten lassen (BAGE 27, 175, 180 f. = AP Nr. 29 zu § 1 TVG, zu I 3 der Gründe). Es ist auch allgemein anerkannt, daß ein Tarifvertrag auch – als sog. mehrgliedriger Tarifvertrag – von mehreren auf einer Seite handelnden Tarifvertragsparteien, z. B. von mehreren einzelnen Arbeitgebern, gemeinsam abgeschlossen werden kann. Dies kann in der Form geschehen, daß mehrere rechtlich selbständige Verträge in einer Vertragsurkunde zusammengefaßt werden. Es ist aber auch möglich, daß nur ein Vertrag abgeschlossen wird, und die Tarifvertragsparteien vereinbaren, daß bestimmte Vertragsrechte nur gemeinsam ausgeübt werden können (Däubler, Tarifvertragsrecht, 3. Aufl., Rz 107; MünchArb-Löwisch, Bd. 3, § 249 Rz 4 ff.; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 7. Aufl., S. 1495; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 2 Rz 64; Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, S. 470 f.). § 2 Abs. 1 TVG, der als Tarifvertragsparteien neben den Arbeitgeberverbänden nur “einzelne Arbeitgeber” nennt, steht dem nicht entgegen. Der hier verwendete unbestimmte Plural läßt die Zahl der als Tarifvertragsparteien Handelnden offen. Die Verwendung des Wortes “einzelne” macht nur deutlich, daß neben Arbeitgebervereinigungen auch Arbeitgeber als solche tariffähig sein sollen. Wieviele einzelne Arbeitgeber als Tarifvertragsparteien auftreten können, sagt § 2 Abs. 1 TVG nicht.

2. Der GPH-TV galt zwischen der Klägerin und der Rechtsvorgängerin der Beklagten kraft beiderseitiger Tarifbindung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 TVG). Die Klägerin war Mitglied der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, die am 28. Januar 1991 den Tarifvertrag abgeschlossen hat. Die Beklagte hat die Gaststätte “S…” von der aus der VEB-Gaststätten (HO) N… hervorgegangenen N… Gastronomie- und Handelsgesellschaft mbH i.A. erworben. Dieses Unternehmen war Partei des GPH-TV. Es gehörte ausweislich der Anlage 1, S. 4 dieses Tarifvertrages zu den Unternehmen, die bei Tarifabschluß durch die GPH Gesellschaft zur Privatisierung des Handels mbH rechtsgeschäftlich vertreten worden sind.

II. Mit dem rechtsgeschäftlichen Übergang der Gaststätte “S…” zum 1. Februar 1991 sind die Rechte und Pflichten aus dem GPH-TV Inhalt des Arbeitsverhältnisses zwischen der Klägerin und der Beklagten geworden. Diese Rechtsfolge ergibt sich jedenfalls aus § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB. Darauf, ob der als mehrgliedriger Firmentarifvertrag abgeschlossene GPH-TV nach dem … Betriebsteilübergang unabhängig von dieser Vorschrift kollektivrechtlich fortgegolten hat, kommt es nicht an. Die unterschiedlichen Rechtsfolgen der kollektivrechtlichen oder individualrechtlichen Weitergeltung eines Firmentarifvertrages zeigen sich nicht bei einer Tarifanwendung innerhalb des ersten Jahres nach dem Betriebsübergang, um die es vorliegend geht.

B. Aus dem GPH-TV ergibt sich für die Klägerin ein Abfindungsanspruch gegen die Beklagte sowohl dem Grunde als auch der geltend gemachten Höhe nach.

I. Die Beklagte hat der Klägerin innerhalb eines Jahres nach dem Betriebsübergang zum 30. Juni 1991 betriebsbedingt gekündigt. Sie schuldet der Klägerin deshalb eine Abfindung nach § 4 Abs. 2, § 8 Abs. 1 GPH-TV.

1. Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 GPH-TV schuldet “der neue Arbeitgeber”, also derjenige, der im Rahmen der Privatisierung einen früheren HO-Betrieb erworben hat, eine Abfindung, wenn er dem übernommenen Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres nach Betriebsübergang betriebsbedingt gekündigt hat. Die Rechtsfolge richtet sich nach § 8 Abs. 1 GPH-TV. Der Betriebserwerber wird bei der Abfindungsberechnung so gestellt, als hätte der ursprüngliche Arbeitgeber, der Partei des GPH-TV war, zum gleichen Zeitpunkt selbst gekündigt, nachdem eine den Arbeitsplatz des Arbeitnehmers sichernde Privatisierung nicht gelungen war.

2. Diese Regelung, deren Voraussetzungen im Verhältnis zwischen den Parteien erfüllt sind, ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden. Es handelt sich nicht um eine unzulässige Regelung zu Lasten eines am Tarifabschluß nicht beteiligten Dritten.

§ 4 Abs. 2 GPH-TV, der als Verpflichteten nur den Betriebserwerber nennt, muß zusammen mit § 8 Abs. 1 GPH-TV gelesen werden, der die am Tarifvertrag beteiligten Arbeitgeber verpflichtet. Hieraus ergibt sich eine zulässige Gesamtregelung. Die betriebsbedingt veranlaßten Kündigungen und Aufhebungsverträge, die im Zusammenhang mit der Umgestaltung der Wirtschaftsordnung durch Privatisierung im Bereich der Handelsorganisation (HO) erforderlich werden, begründen für die betroffenen Arbeitnehmer einen Abfindungsanspruch gegen den Arbeitgeber. Ein solcher umfassender Anspruch kann in einem Sozialplan oder einem Tarifvertrag begründet werden. Im Falle eines Betriebsüberganges richtet er sich nach § 613a Abs. 1 Satz 1, 2 BGB gegen den Betriebserwerber (Hanau/Vossen, Festschrift für Hilger und Stumpf, S. 271, 285). Der GPH-TV teilt diese Regelung in zwei Bestimmungen auf und macht damit den Regelungsumfang des § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB deutlich. Ist die Veräußerung eines Betriebes mit allen Arbeitnehmern nicht möglich, so daß bestimmte Arbeitnehmer nicht weiterbeschäftigt werden können, hat der am Tarifvertrag beteiligte ursprüngliche Arbeitgeber nach § 8 Abs. 1 GPH-TV die Abfindungsschuld zu tragen. Gelingt zwar die Privatisierung, werden aber innerhalb eines Jahres seit dem Betriebsübergang betriebsbedingte Vertragsauflösungen notwendig, muß der Betriebserwerber nach § 4 Abs. 2 GPH-TV die Abfindungen zahlen. Damit bleiben die Tarifvertragsparteien insgesamt innerhalb des von § 613a Abs. 1 Satz 2 BGB vorgegebenen Rahmens.

II. Die Klägerin hat auch einen Abfindungsanspruch in der geltend gemachten Höhe. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist bei der Anspruchsberechnung von einer Beschäftigung seit dem 1. September 1984 auszugehen. Die Klägerin hat deshalb sieben anrechnungsfähige Beschäftigungsjahre im Sinne von § 8 Abs. 1 GPH-TV zurückgelegt.

1. Die Höhe des Abfindungsanspruchs hängt nach § 8 Abs. 1 GPH-TV von der Beschäftigungsdauer des Arbeitnehmers ab. Die Berechnung der Beschäftigungsdauer ist deshalb anhand der Begriffsbestimmung des § 9 Abs. 2 GPH-TV vorzunehmen. Es kommt auf den ununterbrochenen Bestand des Arbeitsverhältnisses an, das der Arbeitnehmer bei dem Arbeitgeber oder seinem Rechtsvorgänger beim Ausscheiden zurückgelegt hat.

Obwohl § 9 Abs. 2 GPH-TV nur von dem Arbeitgeber, also dem in Anspruch genommenen Kündigenden, oder – gemeint ist offensichtlich: und – seinem, also einem Rechtsvorgänger spricht, ist damit sowohl die juristische Person des Privatrechts der Bundesrepublik Deutschland gemeint, von der die Betriebserwerberin den Betrieb übernommen hat, als auch der volkseigene Betrieb, der nach § 11 TreuhandG in diese juristische Person umgewandelt worden ist. Zwischen volkseigenem Betrieb und durch Umwandlung entstandener juristischer Person besteht rechtliche Identität.

Mit dem Begriff des ununterbrochenen Bestands des Arbeitsverhältnisses haben die Tarifvertragsparteien an die Formulierungen des § 1 Abs. 1 KSchG angeknüpft, wo darauf abgestellt wird, ob ein Arbeitsverhältnis sechs Monate “ohne Unterbrechnung bestanden” hat. Sie haben damit deutlich gemacht, daß es trotz der Verwendung des Begriffs Beschäftigung in § 8 Abs. 1 GPH-TV nicht auf den Vollzug des Arbeitsverhältnisses, sondern auf dessen rechtlichen Bestand ankommen soll. Ein Arbeitsverhältnis ist deshalb im Sinne von § 9 Abs. 2 GPH-TV ebenso wie nach § 1 Abs. 1 KSchG nur dann als unterbrochen anzusehen, wenn es zumindest kurzfristig rechtlich aufgelöst war (vgl. zum KSchG: BAGE 28, 176, 181 = AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Wartezeit; BAGE 28, 252, 255 = AP Nr. 2 zu § 1 KSchG 1969 Wartezeit; KR-Becker, 3. Aufl., § 1 KSchG Rz 40 f., 55; Hueck/von Hoyningen-Huene, KSchG, 11. Aufl., § 1 Rz 80 f.).

2. Nach diesem Maßstab hatte die Klägerin bei ihrem betriebsbedingten Ausscheiden aus dem Betrieb der Beklagten am 30. Juni 1991 sieben anrechnungsfähige Beschäftigungsjahre zurückgelegt.

a) Zwischen der Klägerin und dem VEB Gaststätten (HO) ist durch den Überleitungsvertrag vom 31. August 1984 unter Beteiligung des vorherigen Arbeitgebers der Klägerin, des VEB N…, formwirksam zum 1. September 1984 nach §§ 51, 53 AGB-DDR 1977 ein Arbeitsverhältnis begründet worden.

Durchgreifende Bedenken gegen die Wirksamkeit dieses Überleitungsvertrages ergeben sich nicht daraus, daß die im Arbeitsvertrag niederzulegende Arbeitsaufgabe mit “BGL-Vorsitzender” angegeben wird. Es ist zwar auch für die frühere DDR davon auszugehen, daß eine solche Tätigkeit vor einer Wahl durch die Gewerkschaftsmitglieder des Betriebes rechtlich nicht möglich war. In der Niederlegung dieser Arbeitsaufgabe lag deshalb möglicherweise ein Mangel des Arbeitsvertrages. Darauf kommt es aber nicht entscheidend an. Durch einen solchen Mangel wurde ein Arbeitsvertrag nach dem Recht der DDR nicht unwirksam. § 45 AGB-DDR 1977 schrieb vor, daß Arbeitsvertragsmängel zu beseitigen seien. Nur wenn dies nicht möglich war, sollte der Arbeitsvertrag aufgelöst werden, wofür vorliegend nichts ersichtlich ist. Die Rechtsfolge der Unwirksamkeit des Arbeitsvertrages kannte das AGB der DDR in einem solchen Fall nicht.

b) Das wirksam zwischen der Klägerin und dem VEB Gaststätten (HO) abgeschlossene Arbeitsverhältnis ist in der Folgezeit nicht rechtlich unterbrochen worden. Es hat lediglich während der Zeit, in der die Klägerin hauptamtliche BGL-Vorsitzende war, teilweise geruht. Dies hat das Landesarbeitsgericht auch festgestellt. Es hat daraus aber nicht die sich aus § 9 Abs. 2 GPH-TV ergebende Konsequenz einer siebenjährigen Beschäftigungszeit im Sinne von § 8 Abs. 1 GPH-TV gezogen.

aa) Das Landesarbeitsgericht hat allerdings zunächst ausgeführt, die Klägerin gehe zu Unrecht vom Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses auch nach ihrer Wahl zur hauptamtlichen BGL-Vorsitzenden aus. Mit ihrer Wahl nach § 38 Abs. 2 AGB-DDR 1977 sei nach § 66 AGB-DDR 1977 ein Wahlarbeitsverhältnis mit dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) entstanden. Dementsprechend habe der FDGB das Gehalt der Klägerin festgesetzt und die Klägerin sei während ihrer Zeit als BGL-Vorsitzende bei der zusätzlichen Funktionärsunterstützung für hauptamtliche Mitarbeiter der Gewerkschaft FDGB (FZA) versichert gewesen.

Die Revision hat zu Recht Zweifel geäußert, ob die vom Landesarbeitsgericht ermittelten Tatsachen für dessen Feststellung ausreichen, es sei ein Wahlarbeitsverhältnis zustande gekommen. Eine Rechtsnorm der DDR, wonach ein hauptamtlicher BGL-Vorsitzender, der sich aufgrund einer größeren Zahl von Gewerkschaftsmitgliedern im Betrieb ausschließlich mit betrieblichen Gewerkschaftsangelegenheiten zu befassen hat, durch seine Wahl stets Arbeitnehmer des FDGB wird, nennt das Landesarbeitsgericht nicht. Es ist auch fraglich, ob mit einer hauptamtlichen Tätigkeit als BGL-Vorsitzender die besonders verantwortliche staatliche oder gesellschaftliche Funktion verbunden war, für die § 66 AGB-DDR 1977 die Rechtsfigur des Wahlarbeitnehmers vorsah. Die arbeitsrechtliche Literatur der DDR nennt jedenfalls als Beispiele für Wahlarbeitnehmer Vorsitzende oder Mitglieder der Räte der örtlichen Staatsorgane, Bürgermeister, Richter und Staatsanwälte sowie Direktoren und Fachdirektoren von volkseigenen Betrieben, nicht aber hauptamtliche BGL-Vorsitzende (Kunz/Thiel, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 3. Aufl., S. 146 f.; Kirschner/Michas, Abschluß, Änderung und Auflösung des Arbeitsvertrages, 2. Aufl., S. 91). Gegen die Annahme eines Wahlarbeitsverhältnisses zwischen der Klägerin und dem FDGB spricht auch, daß der VEB Gaststätten (HO) und nicht der FDGB die Löhne an die Klägerin ausgezahlt und auch während der Versicherung der Klägerin bei der FZA den Sozialversicherungsausweis als Arbeitgeberin ausgefüllt hat. Der VEB Gaststätten (HO) hat schließlich auch die sich aus Betriebskollektivverträgen und sonstigen betrieblichen Regelungen ergebenden Leistungen, wie Prämien, für die Klägerin aus eigenen Mitteln aufgebracht.

bb) Die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, daß ein Wahlarbeitsverhältnis begründet worden sei, bedarf keiner abschließenden Würdigung. Das Landesarbeitsgericht ist nämlich im weiteren zu Recht davon ausgegangen, daß das ursprüngliche Arbeitsverhältnis der Klägerin auch während deren Zeit als hauptamtliche BGL-Vorsitzende nur geruht habe. Es sei der Klägerin und dem VEB Gaststätten (HO) darum gegangen, das Arbeitsverhältnis nach einer etwaigen Beendigung des Ruhens, wenn die Klägerin nicht wiedergewählt worden wäre, mit einer normalen arbeitsvertraglichen Funktion fortzusetzen. Damit hat das Landesarbeitsgericht den ununterbrochenen Fortbestand des durch den Überleitungsvertrag vom 31. August 1984 begründeten rechtlichen Bandes zwischen dem VEB Gaststätten (HO) und der Klägerin zugrunde gelegt. Während ihrer Zeit als BGL-Vorsitzende hatte die Klägerin lediglich keine Pflichten, sich an den betriebsüblichen Tätigkeiten zu beteiligen; die Beklagte mußte in dieser Zeit den laufenden Lohn nicht aus eigenen Mitteln aufbringen. Unter diesen Umständen bestand zwischen dem 1. September 1984 und dem 30. Juni 1991 ein ununterbrochenes Arbeitsverhältnis im Sinne von § 8 Abs. 1, § 9 Abs. 2 GPH-TV.

Es kommt dabei nicht darauf an, ob es im Recht der DDR ein Rechtsinstitut wie das ruhende Arbeitsverhältnis gab. Entscheidend ist, ob im konkreten Einzelfall unter der Geltung des Rechts der DDR eine Rechtslage geschaffen wurde, in der unbeschadet anderweitiger arbeitsrechtlicher Verpflichtungen das ursprünglich begründete Arbeitsverhältnis seinem rechtlichen Bande nach fortbestanden hat. Dies war angesichts der festgestellten arbeitsvertraglichen Regelungen und deren Durchführung im Verhältnis zwischen der Klägerin und dem VEB Gaststätten (HO) durchgängig der Fall. Hierfür spricht neben der Durchführung der Abrechnung und Dokumentierung des Arbeitsverhältnisses der Klägerin besonders die Vertragsgestaltung seit dem Jahre 1984. Hiernach sollte die Klägerin jedenfalls auf der Grundlage eines vom FDGB refinanzierten Arbeitsverhältnisses mit dem VEB Gaststätten (HO) als freigestellte hauptamtliche BGL-Vorsitzende tätig werden und wurde auch so tätig. Kurz vor der beabsichtigten Wahl der Klägerin zur BGL-Vorsitzenden wurde ein Überleitungsvertrag ohne unmittelbare Beteiligung des FDGB abgeschlossen und die beabsichtigte Arbeitsaufgabe in dieser Funktion auch wahrheitsgetreu schriftlich niedergelegt. Eine solche Vertragsgestaltung wäre sinnlos gewesen, wäre es darum gegangen, die Klägerin ausschließlich als Wahlarbeitnehmerin des FDGB ohne Arbeitsverhältnis mit dem VEB Gaststätten (HO) einzusetzen. Die unverschleierte Angabe der Arbeitsaufgabe als BGL-Vorsitzende spricht im übrigen auch dagegen, daß der Vertrag vom 31. August 1984 ein Scheinvertrag war, der demokratisches Verhalten vortäuschen sollte, wie das Landesarbeitsgericht es anscheinend für möglich hält.

Die fortbestehende Grundlage eines Arbeitsvertrages mit dem VEB Gaststätten (HO) auch während der Zeit, in der die Klägerin hauptamtliche BGL-Vorsitzende war, wird im Vertrag vom 3. Juli 1985 weiter deutlich. Ein solcher Vertrag, mit dem eine normale arbeitsvertragliche Tätigkeit nach dem Ende der Gewerkschaftsaufgabe festgelegt wurde, ist nur sinnvoll, wenn der VEB Gaststätten (HO) und die Klägerin bei Abschluß dieses Vertrages von einem fortbestehenden, aktualisierbaren Arbeitsverhältnis ausgegangen sind. Für ein durchgängig zugrundeliegendes Arbeitsverhältnis spricht schließlich der Umstand, daß die Beklagte nicht einmal behauptet, daß mit der Klägerin für deren Tätigkeit in der Gaststätte “S…” ab dem 1. Januar 1990 ein neuer Arbeitsvertrag oder zumindest ein Überleitungsvertrag abgeschlossen worden ist. Ein solcher Arbeitsvertrag wäre aber nach dem Recht der DDR erforderlich gewesen, wäre das Arbeitsverhältnis zwischen der Klägerin und dem VEB Gaststätten (HO) zwischenzeitlich unterbrochen gewesen.

Die Hinweise zum GPH-TV, die von den mit den Verhältnissen vertrauten Tarifvertragsparteien am 5. August 1991 verfaßt wurden, zeigen, daß auch einer Tätigkeit als hauptamtliche BGL-Vorsitzende ein Arbeitsverhältnis mit dem betreffenden Betrieb zugrunde liegen kann. Diese Hinweise haben zwar keine unmittelbar rechtlichen Wirkungen im Verhältnis zwischen den Prozeßparteien, weil sie erst erhebliche Zeit nach dem Betriebsübergang gegeben wurden. Sie zeigen aber durch ihre Unterscheidung in hauptamtliche BGL-Mitglieder, die in einem Arbeitsverhältnis zum Betrieb standen, und solchen, bei denen dies nicht der Fall war, daß es in der früheren DDR entsprechende Rechtsgestaltungen gab.

3. Das Arbeitsverhältnis der Klägerin bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängern bestand zwischen dem 1. September 1984 und dem 30. Juni 1991 insgesamt sechs Jahre und zehn Monate im Sinne von § 9 Abs. 2 Satz 1 GPH-TV ununterbrochen. Nach § 9 Abs. 3 GPH-TV sind deshalb bei der Abfindungsberechnung sieben anrechnungsfähige Beschäftigungsjahre zugrunde zu legen. Daraus ergibt sich eine Gesamtabfindung von 3.272,50 DM. Da die Beklagte hierauf vorprozessual 935,00 DM gezahlt hat, stehen der Klägerin jedenfalls die mit der Klage geltend gemachten 2.237,50 DM als Restabfindung zu.

C. Da die Beklagte im Rechtsstreit unterlegen ist, hat sie dessen Kosten nach § 91 ZPO zu tragen.

 

Unterschriften

Schaub, Schneider, Bepler, Dr. Reinfeld, Bruse

 

Fundstellen

Haufe-Index 845954

BB 1993, 2308

BB 1994, 1359

NZA 1994, 896

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