Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachträgliche Regelungslücke in Tarifvertrag

 

Orientierungssatz

Parallelentscheidung zum BAG Urteil vom 10.12.1986, 5 AZR 517/85 - hier: MTL 2 § 42 Abs 5, 6 und 11.

 

Verfahrensgang

LAG Hamburg (Entscheidung vom 22.08.1985; Aktenzeichen 7 Sa 35/85)

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 22.02.1985; Aktenzeichen 10 Ca 310/84)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe des der Klägerin zustehenden Krankengeldzuschusses.

Die am 29. November 1930 geborene Klägerin ist seit 1964 als Raumpflegerin bei der Beklagten beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis gilt der Manteltarifvertrag für Arbeiter der Länder vom 27. Februar 1964 (MTL II). Nach § 42 Abs. 5 und Abs. 6 MTL II erhält der Arbeiter, soweit er nicht Anspruch auf Lohnfortzahlung (Krankenlohn) hat, bei einer Beschäftigungszeit von mehr als einem Jahr längstens bis zum Ende der 13. Woche und bei einer Beschäftigungszeit von mehr als drei Jahren längstens bis zum Ende der 26. Woche seit dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit einen Krankengeldzuschuß. Gemäß § 42 Abs. 11 Unterabs. 1 MTL II beträgt der Krankengeldzuschuß 100 % des Nettoarbeitsentgelts vermindert um die Barleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung. Nettoarbeitsentgelt ist der Urlaubslohn vermindert um die gesetzlichen Lohnabzüge (Unterabs. 3).

Das Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, Abs. 4 RVO) unterliegt seit dem 1. Januar 1984 der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Beiträge sind je zur Hälfte von den Krankengeldbeziehern und den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung aufzubringen und von der Krankenversicherung an den Rentenversicherungsträger sowie an die Bundesanstalt für Arbeit abzuführen (§ 1385 b Abs. 1 RVO, § 186 Abs. 1 AFG, eingefügt durch Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30, Art. 39 Abs. 1 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl. I S. 1532). Der Streit der Parteien betrifft vorliegend die Frage, ob bei der Berechnung des Krankengeldzuschusses das um den Beitragsanteil des Arbeitnehmers gekürzte oder aber das ungekürzte Krankengeld zugrundezulegen ist.

Die Klägerin war vom 2. November 1983 ab arbeitsunfähig krank. Für die Zeit vom 1. Januar bis zum 6. März 1984 erhielt sie von der Beklagten einen Krankengeldzuschuß in Höhe von 2,58 DM. Während die Krankenkasse nur noch das um die Arbeitnehmeranteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung verminderte Krankengeld ("Nettokrankengeld") gewährte, berechnete die Beklagte den Zuschuß zum Krankengeld wie bisher auf der Grundlage des ungekürzten Krankengeldes ("Bruttokrankengeld"). Dadurch erhielt die Klägerin in den Monaten Januar bis März 1984 insgesamt 287,68 DM weniger, als ihr Nettoarbeitsentgelt nach § 42 Abs. 11 Unterabs. 3 MTL II betragen hätte. Dieses Ergebnis hält die Klägerin für ungerechtfertigt und verlangt von der Beklagten die Zahlung des Unterschiedsbetrages.

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, Barleistung aus der gesetzlichen Krankenversicherung im Sinne des § 42 Abs. 11 MTL II sei lediglich das dem Arbeiter nach Abzug der Pflichtanteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung zufließende Nettokrankengeld. Sinn und Zweck der Tarifvorschrift sei es zu verhindern, daß der Arbeiter im Krankheitsfalle einen Verlust an seinem Nettoeinkommen erleide. Das Haushaltsbegleitgesetz 1984 habe zu einer Kürzung der Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung geführt. Diese Verschlechterung dürfe nicht zu Lasten der dem Tarifvertrag unterfallenden Arbeitnehmer gehen. Vielmehr sei der Arbeitgeber verpflichtet, einen Ausgleich über die Erhöhung des Krankengeldzuschusses zu schaffen. Unter Anrechnung des von der Beklagten gezahlten Betrages von 2,58 DM stehe ihr daher ein weiterer Betrag von 285,10 DM zu.

Die Klägerin hat demgemäß beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 285,10 DM

nebst 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: Der Begriff der "Barleistung" im Sinne von § 42 Abs. 11 MTL II sei im Unterschied zu den Sachleistungen der Krankenkasse zu sehen. Daraus, daß das Krankengeld jetzt nicht mehr in voller Höhe an den Versicherten ausbezahlt werde, sondern die Krankenversicherung dessen Beitragsanteil davon einbehalte und abführe, könne nicht hergeleitet werden, daß sich die Barleistung der Krankenkasse entsprechend verringere. Daher bestehe auch keine Pflicht des Arbeitgebers, den Zuschuß zum Krankengeld zu erhöhen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision, mit der die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erstrebt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Die Vorschrift des § 42 MTL II, die allein dafür in Betracht kommt, bietet zur Zeit keine Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren. Sie ist seit dem 1. Januar 1984 lückenhaft geworden. Eine ergänzende Lückenausfüllung ist dem Gericht nicht möglich (vgl. die zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidung des Senats vom 10. Dezember 1986 - 5 AZR 517/85 -).

I. Die von den Tarifvertragsparteien in § 42 MTL II verwendeten Begriffe "Krankengeldzuschuß" und "Barleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung" richten sich nach dem Krankenversicherungsrecht.

1. Der Krankengeldzuschuß stellt eine tarifvertragliche Leistung des Arbeitgebers dar, die das Krankengeld als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 RVO) ergänzen soll. Die tarifvertraglichen Begriffe "Krankengeld" und "Barleistungen" sind dem Krankenversicherungsrecht entnommen. Sie müssen daher auch im sozialversicherungsrechtlichen Sinne verstanden und ausgelegt werden (vgl. dazu BAGE 46, 61, 66 = AP Nr. 3 zu § 9 TVG 1969, mit weiteren Nachweisen). Daraus ergibt sich: Mit "Barleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung" ist nicht der Betrag gemeint, der dem Arbeitnehmer tatsächlich zufließt. Vielmehr soll damit unterschieden werden zwischen Geldleistungen einerseits sowie Sach- und Dienstleistungen andererseits als den Leistungsformen im Krankenversicherungsrecht.

2.a) Den Begriff "Barleistung" verwendet der Gesetzgeber in § 210 RVO. Nach dieser Vorschrift werden die Barleistungen (ausgenommen das Sterbegeld) mit Ablauf jeder Woche ausgezahlt. Barleistungen bedeutet das gleiche wie "bare Leistungen" im Sinne von § 180 Abs. 1 Satz 2 RVO, wonach die baren Leistungen der Kasse mit Ausnahme des Krankengeldes nach einem Grundlohn bemessen werden. Barleistung ist gleichbedeutend mit Geldleistung im Sinne von § 11 Satz 1 SGB I (vgl. Burdenski in GK-SGB I, 2. Aufl., § 11 Rz 17). Barleistung ist der ältere, Geldleistung der neuere Ausdruck für eine Sozialleistung, die nicht Dienst- oder Sachleistung ist. Gegenwärtig werden im Sozialrecht beide Begriffe noch nebeneinander gebraucht. Der Begriff Geldleistung umfaßt die heute üblich gewordene bargeldlose Überweisung von Sozialleistungen. § 42 Abs. 11 Unterabs. 1 MTL II geht auf den Änderungstarifvertrag Nr. 15 zum MTL II vom 8. Oktober 1969 zurück (vgl. Scheuring/Steingen/Banse/Scheuring, Manteltarifvertrag für Arbeiter der Länder, 8. Aufl., § 42 Rz 1) und ist mithin lange vor Inkrafttreten des SGB I vom 11. Dezember 1975 (BGBl. I S. 3015) in das Tarifwerk eingefügt worden. Die Tarifvertragsparteien konnten daher den späteren Sprachgebrauch des SGB I nicht berücksichtigen.

b) Zudem sah die RVO zur wirtschaftlichen Sicherung des arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers früher zwei Arten von Geldleistungen vor: Krankengeld und Hausgeld (§§ 182, 186 RVO in der Fassung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle vom 12. Juli 1961, BGBl. I S. 913). Das Hausgeld bestand in einem Prozentsatz des Krankengeldes und wurde dem Arbeitnehmer bei Krankenhauspflege gewährt. Erst das Zweite Krankenversicherungsänderungsgesetz vom 21. Dezember 1970 (BGBl. I S. 1770) ließ das Hausgeld entfallen und änderte § 186 RVO dahin, daß vom Beginn der Krankenhauspflege an Krankengeld zu zahlen war. Auch der eben erwähnte Umstand (Aufgliederung der Geldleistung in Krankengeld und Hausgeld) erklärt, warum die Tarifvertragsparteien den Krankengeldzuschuß nicht lediglich als Unterschiedsbetrag zwischen Nettoarbeitsentgelt und Krankengeld, sondern zwischen Nettoarbeitsentgelt und "Barleistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung" definiert haben.

c) Seit dem 1. Januar 1984 unterliegt das Krankengeld der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Nach § 1385 b Abs. 1 Satz 2 RVO, § 112 b Abs. 1 Satz 2 AVG und § 186 Abs. 1 Satz 2 AFG tragen der Krankengeldbezieher und der Leistungsträger die Beiträge je zur Hälfte (Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Beitragsabzugs vgl. BSG Urteil vom 19. Juni 1986 - 12 RK 54/85 -, zur Veröffentlichung vorgesehen). Bei dieser Neuregelung hat der Gesetzgeber die Vorschriften über das Krankengeld selbst (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 RVO) unverändert gelassen. Hieraus folgt, daß der Begriff des Krankengeldes seit dem 1. Januar 1984 in einem zweifachen Sinn zu verstehen ist, als "Bruttokrankengeld" und als "Nettokrankengeld". Das Gesetz trifft diese Unterscheidung jedoch nicht ausdrücklich und regelt auch nicht die Folgerungen, die sich für die Verwendung des Begriffs des Krankengeldes aus der Neuregelung ergeben.

II. In § 42 Abs. 11 MTL II ist seit dem 1. Januar 1984 eine nachträgliche Regelungslücke entstanden.

Es kann davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien bei der im Jahre 1969 getroffenen Vereinbarung des § 42 Abs. 11 Unterabs. 1 MTL II mit geringfügigen Veränderungen in der Höhe des Krankengeldes gerechnet haben. Derartige Veränderungen entsprechen der Erfahrung des Arbeitslebens. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung bedeutet jedoch eine grundlegende Änderung des Krankenversicherungsrechts. Sie war für die Tarifvertragsparteien im Jahre 1969 nicht vorhersehbar, so daß für sie damals kein Anlaß bestand, die Frage zu regeln, ob bei der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Zuschusses von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei. In § 42 Abs. 11 MTL II ist folglich seit dem 1. Januar 1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden. Anders als bei bewußten Tariflücken kommt in derartigen Fällen eine Lückenausfüllung durch Urteil grundsätzlich in Betracht (vgl. statt vieler BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vorliegend sind die Gerichte jedoch nicht befugt, die Regelungslücke im Wege einer ergänzenden Auslegung zu schließen, weil den Tarifvertragsparteien hierfür verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und sie sich aufgrund ihrer Tarifhoheit für eine hiervon selbst entscheiden müssen. Ein Tätigwerden der Gerichte bedeutete, daß sie verfassungswidrig in die Tarifautonomie eingriffen (vgl. BAGE 36, 218, 225, 226 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten).

III. Folgende Möglichkeiten einer Ergänzung des Manteltarifvertrages bestehen, denen die Gerichte nicht vorgreifen dürfen:

1. Sieht man als entscheidenden Gesichtspunkt an, daß der Arbeitnehmer nach Sinn und Zweck des § 42 Abs. 11 MTL II auch nach Wegfall der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle seinen Nettolohn durch Krankengeld und einen entsprechenden Zuschuß des Arbeitgebers behalten soll, dann müßte die Neuregelung vorsehen, daß der Zuschuß zum Nettokrankengeld zu zahlen ist. Auf der anderen Seite ließe sich an den Grundsatz anknüpfen, daß gesetzliche Lasten, die dem Arbeitnehmer auferlegt sind, auch von diesem getragen werden müssen. Ein Anhalt dafür findet sich schon in der bisherigen tariflichen Regelung insofern, als die auf den Zuschuß entfallende Lohnsteuer (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 LStDVO) vom Arbeitnehmer allein zu tragen ist. Legte man dieses Prinzip zugrunde, wäre der Zuschuß nach dem Bruttokrankengeld zu bemessen. Schließlich wäre daran zu denken, die vom Gesetz neu geschaffene Belastung des Arbeitnehmers zwischen den Arbeitsvertragsparteien aufzuteilen, wobei sich wiederum verschiedene Möglichkeiten der Verteilung der Beitragslast ergeben, auch in der Weise, daß die Anspruchsdauer oder der anspruchsberechtigte Personenkreis verändert würden. Jede dieser Möglichkeiten erfordert eine ergänzende rechtspolitische Entscheidung, die von den Tarifvertragsparteien zu treffen ist (vgl. dazu auch BAGE 41, 161 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand).

2. Es muß daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, durch entsprechende Vereinbarung diejenige Lösung auszuhandeln, die nach ihren Vorstellungen im Hinblick auf den Zweck der Regelung am besten geeignet ist, die entstandene Lücke zu schließen. Da die Tarifvertragsparteien in der Lage sind, den Tarifvertrag rückwirkend auf den Zeitpunkt zu ergänzen, zu dem die Neuregelung des Krankenversicherungsrechts in Kraft getreten ist, war die Klage noch nicht endgültig, sondern nur als zur Zeit unbegründet abzuweisen.

Dr. Gehring Dr. Olderog Ascheid

Liebsch Pallas

 

Fundstellen

Dokument-Index HI440436

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