Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachträgliche Regelungslücke in Tarifvertrag

 

Orientierungssatz

1. Parallelentscheidung zum BAG-Urteil vom 10.12.1986 - 5 AZR 517/85.

2. Nach § 13 Nr 5 Satz 1 wird Arbeitnehmern, die länger als 6 Wochen arbeitsunfähig krank sind, von der 7. Woche an nach mehr als zweijähriger Betriebszugehörigkeit für die Dauer von einem Monat vom Arbeitgeber der Unterschiedsbetrag zwischen Krankengeld und Nettolohn gezahlt. Bei Ange stellten, welche kein Krankengeld beziehen, ist für die Berechnung des Unterschiedsbetrags der Krankengeldsatz der zuständigen Ortskrankenkasse maßgebend (§ 13 Nr 5 Satz 2 Manteltarifvertrag).

3. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmerbeiträgen zur Renten- und Arbeitslosenversicherung gemäß § 1385b Abs 1 RVO, § 112b Abs 1 AVG und § 186 Abs 1 AFG, eingeführt mit Wirkung vom 1. Januar 1984 durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I S 1532), hat zu einer nachträglichen Regelungslücke in § 13 Nr 5 MTV geführt.

4. Die Gerichte können diese Lücke nicht schließen, weil hierfür verschiedene Möglichkeiten in Betracht kommen und es daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben muß, für welche dieser Lösungsmöglichkeiten sie sich entscheiden.

 

Verfahrensgang

Hessisches LAG (Entscheidung vom 21.03.1986; Aktenzeichen 6/9 Sa 1427/85)

ArbG Wiesbaden (Entscheidung vom 13.09.1985; Aktenzeichen 7 Ca 2795/85)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe des dem Kläger zustehenden Krankengeldzuschusses.

Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem 9. Juli 1981 als Kraftfahrer mit einer monatlichen Vergütung von 2.850,-- DM brutto beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis gilt der Manteltarifvertrag für den Hessischen Einzelhandel vom 23.Januar 1981 (im folgenden kurz: MTV). Nach § 13 Nr. 5 Satz 1 dieses Manteltarifvertrages wird den Arbeitnehmern, die länger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank sind, von der siebten Woche an nach mehr als zweijähriger Betriebszugehörigkeit für die Dauer von einem Monat vom Arbeitgeber der Unterschiedsbetrag zwischen Krankengeld und Nettogehalt bzw. Nettolohn gezahlt. § 13 Nr. 5 Satz 2 MTV lautet: "Bei Angestellten, welche kein Krankengeld beziehen, ist für die Berechnung des Unterschiedsbetrages der Krankengeldsatz der zuständigen Ortskrankenkasse maßgebend."

Das Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, Abs. 4 RVO) unterliegt seit dem 1. Januar 1984 der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Beiträge sind je zur Hälfte von den Krankengeldbeziehern und den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung aufzubringen und von der Krankenversicherung an den Rentenversicherungsträger sowie an die Bundesanstalt für Arbeit abzuführen (§ 1385 b Abs. 1 RVO, § 112 b Abs. 1 AVG, § 186 Abs. 1 AFG, eingefügt durch Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30, Art. 39 Abs. 1 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl. I S. 1532). Der Streit der Parteien betrifft vorliegend die Frage, ob bei der Berechnung des Unterschiedsbetrages (Krankengeldzuschusses des Arbeitgebers) das um den Beitragsanteil des Arbeitnehmers gekürzte oder aber das ungekürzte Krankengeld zugrunde zu legen ist.

Der Kläger war vom 9. November 1983 bis zum 31. Januar 1984 arbeitsunfähig krank. Bis zum 20. Dezember 1983 zahlte die Beklagte ihm das vereinbarte Entgelt weiter. Ab 21. Dezember 1983 erhielt der Kläger Krankengeld in Höhe von 68,28 DM kalendertäglich. Ab 1. Januar 1984 gewährte ihm die Krankenkasse nur das um die Arbeitnehmeranteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung (6,32 DM bzw. 1,57 DM) verminderte Krankengeld ("Nettokrankengeld"). Die Beklagte berechnete ihre Leistung (Unterschiedsbetrag zwischen Krankengeld und letztem Nettoentgelt) dagegen wie bisher auf der Grundlage des ungekürzten Krankengeldes ("Bruttokrankengeld"). Dadurch erhielt der Kläger im Januar 1984 insgesamt 157,80 DM weniger, als er bei Weiterzahlung des ungekürzten Krankengeldes erhalten hätte. Dieses Ergebnis hält der Kläger für ungerechtfertigt und verlangt von der Beklagten die Zahlung des Unterschiedsbetrages.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, Sinn der tariflichen Regelung sei die Erhaltung des Lebensstandards des Arbeitnehmers. Deshalb müsse die Beklagte den Unterschiedsbetrag zwischen dem Krankengeld, das er von der Krankenkasse erhalten habe, und seinen letzten Nettobezügen zahlen. Für die Berechnung des Unterschiedsbetrages sei von dem Krankengeld auszugehen, das er nach Abzug der Versicherungsbeiträge von der Krankenkasse erhalten habe.

Der Kläger hat daher beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 157,80 DM

brutto zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht: Es könne nicht auf den Arbeitgeber abgewälzt werden, wenn der Gesetzgeber das Krankengeld der Arbeitnehmer nunmehr mit Abzügen belaste. Diese Abzüge müsse vielmehr der Arbeitnehmer selbst tragen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision, mit der die Beklagte ihr Ziel der Klageabweisung weiterverfolgt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Die Vorschrift des § 13 Nr. 5 MTV, die allein dafür in Betracht kommt, bietet zur Zeit keine Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren. Sie ist seit dem 1. Januar 1984 lückenhaft geworden. Eine ergänzende Lückenausfüllung ist dem Gericht nicht möglich (vgl. die zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidung des Senats vom 10. Dezember 1986 - 5 AZR 517/85 -).

I. 1. Der Unterschiedsbetrag zwischen Krankengeld und Nettoentgelt des Arbeitnehmers nach § 13 Nr. 5 MTV stellt eine tarifvertragliche Zuschußleistung des Arbeitgebers dar, die das Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 RVO) ergänzen soll. Das Krankengeld als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (andere Tarifverträge sprechen in diesem Zusammenhang von "gezahltem Krankengeld", von "Barleistungen" oder von "tatsächlichen Barleistungen") ist eine Geldleistung im Unterschied zu Sach- und Dienstleistungen als den anderen Leistungsformen im Krankenversicherungsrecht. Dies wird durch § 13 Nr. 5 Satz 2 MTV bestätigt, wonach bei Angestellten, die kein Krankengeld beziehen, für die Berechnung des Unterschiedsbetrages der Krankengeldsatz der zuständigen Ortskrankenkasse maßgebend sein soll.

2. Seit dem 1. Januar 1984 unterliegt das Krankengeld der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Nach § 1385 b Abs. 1 Satz 2 RVO, § 112 b Abs. 1 Satz 2 AVG und § 186 Abs. 1 Satz 2 AFG tragen der Krankengeldbezieher und der Leistungsträger die Beiträge je zur Hälfte. (Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Beitragsabzugs vgl. BSG Urteil vom 19. Juni 1986 - 12 RK 54/85 -, zur Veröffentlichung vorgesehen.) Bei dieser Neuregelung hat der Gesetzgeber die Vorschriften über das Krankengeld selbst (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 RVO) unverändert gelassen. Hieraus folgt, daß der Begriff des Krankengeldes seit dem 1. Januar 1984 in einem zweifachen Sinn zu verstehen ist, als "Bruttokrankengeld" und als "Nettokrankengeld". Das Gesetz trifft diese Unterscheidung jedoch nicht ausdrücklich und regelt auch nicht die Folgerungen, die sich für die Verwendung des Begriffs des Krankengeldes aus der Neuregelung ergeben.

3. Es kann davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien bei der Vereinbarung des § 13 Nr. 5 MTV am 23. Januar 1981 mit geringfügigen Veränderungen in der Höhe des Krankengeldes gerechnet haben. Derartige Veränderungen entsprechen der Erfahrung des Arbeitslebens. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung bedeutet jedoch eine grundlegende Änderung des Krankenversicherungsrechts. Sie war für die Tarifvertragsparteien nicht vorhersehbar, so daß für sie damals kein Anlaß bestand, die Frage zu regeln, ob bei der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Unterschiedsbetrages zwischen Krankengeld und letztem Nettoentgelt von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei. In § 13 Nr. 5 MTV ist folglich seit dem 1. Januar 1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden. Die Bestimmung gibt keine Antwort auf die Frage, wie ein später durch Änderung des Gesetzesrechts entstandener Sachverhalt zu behandeln ist.

Anders als bei bewußten Tariflücken kommt in derartigen Fällen eine Lückenausfüllung durch Urteil grundsätzlich in Betracht (vgl. statt vieler BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vorliegend sind die Gerichte jedoch nicht befugt, die Regelungslücke im Wege einer ergänzenden Auslegung zu schließen, weil den Tarifvertragsparteien hierfür verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und sie sich aufgrund ihrer Tarifhoheit für eine hiervon selbst entscheiden müssen. Ein Tätigwerden der Gerichte bedeutete, daß sie verfassungswidrig in die Tarifautonomie eingriffen (vgl. BAGE 36, 218, 225, 226 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten).

II. Folgende Möglichkeiten einer Ergänzung des Manteltarifvertrages bestehen, denen die Gerichte nicht vorgreifen dürfen:

1. Sieht man als entscheidenden Gesichtspunkt an, daß der Arbeitnehmer nach Sinn und Zweck des § 13 Nr. 5 MTV auch nach Wegfall der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle sein Nettoentgelt durch Krankengeld und einen entsprechenden Unterschiedsbetrag des Arbeitgebers behalten soll, dann müßte die Neuregelung vorsehen, daß der Unterschiedsbetrag zwischen dem letzten Nettoentgelt und dem Nettokrankengeld zu zahlen ist. Auf der anderen Seite ließe sich an den Grundsatz anknüpfen, daß gesetzliche Lasten, die dem Arbeitnehmer auferlegt sind, auch von diesem getragen werden müssen. Ein Anhalt dafür findet sich schon in der bisherigen tariflichen Regelung insofern, als die auf den Unterschiedsbetrag (Zuschuß) entfallende Lohnsteuer (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 LStDVO) vom Arbeitnehmer allein zu tragen ist. Legte man dieses Prinzip zugrunde, wäre der Unterschiedsbetrag auf der Grundlage des Bruttokrankengeldes zu bemessen. Schließlich wäre daran zu denken, die vom Gesetz neu geschaffene Belastung des Arbeitnehmers zwischen den Arbeitsvertragsparteien aufzuteilen, wobei sich wiederum verschiedene Möglichkeiten der Verteilung der Beitragslast ergeben, auch in der Weise, daß die Anspruchsdauer oder der anspruchsberechtigte Personenkreis verändert würden. Jede dieser Möglichkeiten erfordert eine ergänzende rechtspolitische Entscheidung, die von den Tarifvertragsparteien zu treffen ist (vgl. dazu auch BAGE 41, 161 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand).

2. Es muß daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, durch entsprechende Vereinbarung diejenige Lösung auszuhandeln, die nach ihren Vorstellungen im Hinblick auf den Zweck der Regelung des § 13 Nr. 5 MTV am besten geeignet ist, die entstandene Lücke zu schließen. Da die Tarifvertragsparteien in der Lage sind, den Tarifvertrag rückwirkend auf den Zeitpunkt zu ergänzen, zu dem die Neuregelung des Krankenversicherungsrechts in Kraft getreten ist, war die Klage noch nicht endgültig, sondern nur als zur Zeit unbegründet abzuweisen.

Dr. Gehring Dr. Olderog Ascheid

Liebsch Pallas

 

Fundstellen

Dokument-Index HI440043

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