Entscheidungsstichwort (Thema)

Nachträgliche Regelungslücke in Tarifvertrag

 

Orientierungssatz

1. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmerbeiträgen zur Renten- und Arbeitslosenversicherung gemäß §§ 1385b Abs 1 RVO, 112b Abs 1 AVG und § 186 Abs 1 AFG eingeführt mit Wirkung vom 1. Januar 1984 durch das Haushaltsbegleitgesetz 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I S 1532) hat zu einer nachträglichen Regelungslücke in § 13 Abs 4 des Manteltarifvertrages für den genossenschaftlichen Groß- und Außenhandel in Hessen vom 30. Mai 1983 geführt.

2. Die Gerichte können diese Lücke nicht schließen, weil hierfür verschiedene Möglichkeiten in Betracht kommen und es daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben muß, für welche dieser Lösungsmöglichkeiten sie sich entscheiden (vergleiche die zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidung des Senats vom 10. Dezember 1986 - 5 AZR 517/85 = AP Nr 1 zu § 42 MTB II).

 

Normenkette

RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1b; AFG § 186 Abs. 1; HBegleitG 1984 Art. 39; SGB V § 11 Abs. 1; AVG § 112b Abs. 1; RVO § 1385 b Abs. 1; HBegleitG 1984 Art. 2 Nr. 30, Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30

 

Verfahrensgang

Hessisches LAG (Entscheidung vom 10.03.1986; Aktenzeichen 1 Sa 1286/85)

ArbG Gießen (Entscheidung vom 30.08.1985; Aktenzeichen 2 Ca 418/84)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe des dem Kläger zustehenden Krankengeldzuschusses.

Der Kläger ist bei der Beklagten seit September 1977 als Angestellter mit einer monatlichen Vergütung von 2.510,-- DM brutto beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis gilt der Manteltarifvertrag für den genossenschaftlichen Groß- und Außenhandel in Hessen vom 30. Mai 1983 (im folgenden kurz: MTV). Nach § 13 Abs. 4 Satz 1 dieses Manteltarifvertrages wird den Arbeitnehmern, die länger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank sind, von der siebten Woche an nach mehr als fünfjähriger Betriebszugehörigkeit für die Dauer von drei Monaten, bei mehr als zehnjähriger Betriebszugehörigkeit für die Dauer von vier Monaten und bei mehr als fünfzehnjähriger Betriebszugehörigkeit für die Dauer von fünf Monaten vom Arbeitgeber der Unterschiedsbetrag zwischen Krankengeld und letztem Nettogehalt bzw. Nettolohn gezahlt. § 13 Abs. 4 Satz 2 MTV lautet: "Bei Angestellten, welche kein Krankengeld beziehen, ist für die Berechnung des Unterschiedsbetrages der Krankengeldsatz der zuständigen Ortskrankenkasse maßgebend."

Das Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, Abs. 4 RVO) unterliegt seit dem 1. Januar 1984 der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Die Beiträge sind je zur Hälfte von den Krankengeldbeziehern und den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung aufzubringen und von der Krankenversicherung an den Rentenversicherungsträger sowie an die Bundesanstalt für Arbeit abzuführen (§ 1385 b Abs. 1 RVO, § 112 b Abs. 1 AVG, § 186 Abs. 1 AFG, eingefügt durch Art. 1 Nr. 53, Art. 17 Nr. 30, Art. 39 Abs. 1 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 vom 22. Dezember 1983, BGBl. I S. 1532). Der Streit der Parteien betrifft vorliegend die Frage, ob bei der Berechnung des Unterschiedsbetrages (Krankengeldzuschusses des Arbeitgebers) das um den Beitragsanteil des Arbeitnehmers gekürzte oder aber das ungekürzte Krankengeld zugrunde zu legen ist.

Der Kläger war von Mitte Februar 1984 bis zum 15. April 1984 arbeitsunfähig krank. Bis zum 27. März 1984 zahlte die Beklagte ihm das Gehalt weiter. Ab 28. März 1984 erhielt der Kläger Krankengeld. Dabei gewährte ihm die Krankenkasse nur das um die Arbeitnehmeranteile zur Renten- und Arbeitslosenversicherung verminderte Krankengeld ("Nettokrankengeld"). Die Beklagte berechnete ihre Leistung (Unterschiedsbetrag zwischen Krankengeld und letztem Nettoentgelt) wie bisher auf der Grundlage des ungekürzten Krankengeldes ("Bruttokrankengeld"). Dadurch erhielt der Kläger in den Monaten Februar bis April 1984 insgesamt 81,51 DM weniger, als sein Nettogehalt betragen hätte. Dieses Ergebnis hält der Kläger für ungerechtfertigt und verlangt von der Beklagten die Zahlung des Unterschiedsbetrages.

Der Kläger hat die Ansicht vertreten, Sinn der tariflichen Regelung sei die Erhaltung des Lebensstandards des Arbeitnehmers. Deshalb müsse die Beklagte den Unterschiedsbetrag zwischen dem Krankengeld, das er von der Krankenkasse erhalten habe, und seinen letzten Nettobezügen zahlen. Der Umstand, daß er nach dem Haushaltsbegleitgesetz vom 22. Dezember 1983 von seinem Krankengeld Beiträge zur Sozialversicherung und zur Arbeitslosenversicherung zu leisten habe, könne nicht zu seinen Lasten gehen. Für die Berechnung des Unterschiedsbetrages sei von dem Krankengeld auszugehen, daß er nach Abzug der Versicherungsbeiträge von der Krankenkasse erhalten habe.

Der Kläger hat daher beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 81,51 DM

netto nebst 4 % Zinsen seit Klagezustellung

zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht: Es könne nicht auf den Arbeitgeber abgewälzt werden, wenn der Gesetzgeber das Krankengeld der Arbeitnehmer nunmehr mit Abzügen belaste. Auszugehen sei von dem Gesamtbetrag des Krankengeldes, das durch die vom Kläger zu zahlenden Versicherungsbeiträge nicht gemindert werde.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben. Dagegen richtet sich die Revision, mit der die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erstrebt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Die Vorschrift des § 13 Abs. 4 MTV, die allein dafür in Betracht kommt, bietet zur Zeit keine Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren. Sie ist seit dem 1. Januar 1984 lückenhaft geworden. Eine ergänzende Lückenausfüllung ist dem Gericht nicht möglich (vgl. die zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidung des Senats vom 10. Dezember 1986 - 5 AZR 517/85 -).

I. 1. Der Unterschiedsbetrag zwischen Krankengeld und Nettoentgelt des Arbeitnehmers nach § 13 Abs. 4 MTV stellt eine tarifvertragliche Zuschußleistung des Arbeitgebers dar, die das Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 RVO) ergänzen soll. Das Krankengeld als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung (andere Tarifverträge sprechen in diesem Zusammenhang von "gezahltem Krankengeld", von "Barleistungen" oder von "tatsächlichen Barleistungen") ist eine Geldleistung im Unterschied zu Sach- und Dienstleistungen als den anderen Leistungsformen im Krankenversicherungsrecht. Dies wird durch § 13 Abs. 4 Satz 2 MTV bestätigt, wonach bei Angestellten, die kein Krankengeld beziehen, für die Berechnung des Unterschiedsbetrages der Krankengeldsatz der zuständigen Ortskrankenkasse maßgebend sein soll.

2. Seit dem 1. Januar 1984 unterliegt das Krankengeld der Beitragspflicht zur Renten- und Arbeitslosenversicherung. Nach § 1385 b Abs. 1 Satz 2 RVO, § 112 b Abs. 1 Satz 2 AVG und § 186 Abs. 1 Satz 2 AFG tragen der Krankengeldbezieher und der Leistungsträger die Beiträge je zur Hälfte. (Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Beitragsabzugs vgl. BSG Urteil vom 19. Juni 1986 - 12 RK 54/85 -, zur Veröffentlichung vorgesehen). Bei dieser Neuregelung hat der Gesetzgeber die Vorschriften über das Krankengeld selbst (§ 182 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 RVO) unverändert gelassen. Hieraus folgt, daß der Begriff des Krankengeldes seit dem 1. Januar 1984 in einem zweifachen Sinn zu verstehen ist, als "Bruttokrankengeld" und als "Nettokrankengeld". Das Gesetz trifft diese Unterscheidung jedoch nicht ausdrücklich und regelt auch nicht die Folgerungen, die sich für die Verwendung des Begriffs des Krankengeldes aus der Neuregelung ergeben.

3. Es kann davon ausgegangen werden, daß die Tarifvertragsparteien bei der Vereinbarung des § 13 Abs. 4 MTV am 30. Mai 1983 mit geringfügigen Veränderungen in der Höhe des Krankengeldes gerechnet haben. Derartige Veränderungen entsprechen der Erfahrung des Arbeitslebens. Die Belastung des Krankengeldes mit Arbeitnehmeranteilen für Renten- und Arbeitslosenversicherung bedeutet jedoch eine grundlegende Änderung des Krankenversicherungsrechts. Sie war für die Tarifvertragsparteien nicht vorhersehbar, so daß für sie damals kein Anlaß bestand, die Frage zu regeln, ob bei der Berechnung des vom Arbeitgeber zu gewährenden Unterschiedsbetrages zwischen Krankengeld und letztem Nettoentgelt von dem "Bruttokrankengeld" oder von dem "Nettokrankengeld" auszugehen sei. In § 13 Abs. 4 MTV ist folglich seit dem 1. Januar 1984 insoweit eine nachträgliche Regelungslücke entstanden. Die Bestimmung gibt keine Antwort auf die Frage, wie ein später durch Änderung des Gesetzesrechts entstandener Sachverhalt zu behandeln ist.

Anders als bei bewußten Tariflücken kommt in derartigen Fällen eine Lückenausfüllung durch Urteil grundsätzlich in Betracht (vgl. statt vieler BAGE 47, 61, 67 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975). Vorliegend sind die Gerichte jedoch nicht befugt, die Regelungslücke im Wege einer ergänzenden Auslegung zu schließen, weil den Tarifvertragsparteien hierfür verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und sie sich aufgrund ihrer Tarifhoheit für eine hiervon selbst entscheiden müssen. Ein Tätigwerden der Gerichte bedeutete, daß sie verfassungswidrig in die Tarifautonomie eingriffen (vgl. BAGE 36, 218, 225, 226 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten).

II. Folgende Möglichkeiten einer Ergänzung des Manteltarifvertrages bestehen, denen die Gerichte nicht vorgreifen dürfen:

1. Sieht man als entscheidenden Gesichtspunkt an, daß der Arbeitnehmer nach Sinn und Zweck des § 13 Abs. 4 MTV auch nach Wegfall der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle sein Nettoentgelt durch Krankengeld und einen entsprechenden Unterschiedsbetrag des Arbeitgebers behalten soll, dann müßte die Neuregelung vorsehen, daß der Unterschiedsbetrag zwischen dem letzten Nettoentgelt und dem Nettokrankengeld zu zahlen ist. Auf der anderen Seite ließe sich an den Grundsatz anknüpfen, daß gesetzliche Lasten, die dem Arbeitnehmer auferlegt sind, auch von diesem getragen werden müssen. Ein Anhalt dafür findet sich schon in der bisherigen tariflichen Regelung insofern, als die auf den Unterschiedsbetrag (Zuschuß) entfallende Lohnsteuer (§ 2 Abs. 3 Nr. 3 LStDVO) vom Arbeitnehmer allein zu tragen ist. Legte man dieses Prinzip zugrunde, wäre der Unterschiedsbetrag auf der Grundlage des Bruttokrankengeldes zu bemessen. Schließlich wäre daran zu denken, die vom Gesetz neu geschaffene Belastung des Arbeitnehmers zwischen den Arbeitsvertragsparteien aufzuteilen, wobei sich wiederum verschiedene Möglichkeiten der Verteilung der Beitragslast ergeben, auch in der Weise, daß die Anspruchsdauer oder der anspruchsberechtigte Personenkreis verändert würden. Jede dieser Möglichkeiten erfordert eine ergänzende rechtspolitische Entscheidung, die von den Tarifvertragsparteien zu treffen ist (vgl. dazu auch BAGE 41, 161 = AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand).

2. Es muß daher den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, durch entsprechende Vereinbarung diejenige Lösung auszuhandeln, die nach ihren Vorstellungen im Hinblick auf den Zweck der Regelung des § 13 Abs. 4 MTV am besten geeignet ist, die entstandene Lücke zu schließen. Da die Tarifvertragsparteien in der Lage sind, den Tarifvertrag rückwirkend auf den Zeitpunkt zu ergänzen, zu dem die Neuregelung des Krankenversicherungsrechts in Kraft getreten ist, war die Klage noch nicht endgültig, sondern nur als zur Zeit unbegründet abzuweisen.

Dr. Gehring Dr. Olderog Ascheid

Liebsch Pallas

 

Fundstellen

Dokument-Index HI439837

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