Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausschlußfristen

 

Leitsatz (redaktionell)

Rückzahlungsansprüche des Arbeitgebers, die auf Gehaltsüberzahlungen nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses beruhen, werden von der Verwirkungsklausel des § 20 Nr 2 Manteltarifvertrages für den Hamburger Einzelhandel vom 26. April 1985 nicht erfaßt.

 

Verfahrensgang

LAG Hamburg (Entscheidung vom 25.10.1990; Aktenzeichen 7 Sa 25/90)

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 31.01.1990; Aktenzeichen 21 Ca 423/89)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, Gehalt zurückzuzahlen, das die Klägerin ihr versehentlich für die Zeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses gewährt hat.

Zwischen den Parteien bestand bis zum 31. Dezember 1988 ein Arbeitsverhältnis, auf das kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für den Hamburger Einzelhandel vom 26. April 1985 (im folgenden meist nur: MTV) anzuwenden ist. Die Beklagte verdiente monatlich 700,70 DM netto.

Der genannte Manteltarifvertrag lautet auszugsweise wie folgt:

§ 20 Verwirkung von Ansprüchen

1. Ansprüche aus bestehenden Arbeitsverhält-

nissen müssen innerhalb folgender Aus-

schlußfristen geltend gemacht werden:

a) Ansprüche auf Bezahlung von Mehrarbeits-,

Nachtarbeits-, Sonntags- und Feiertagsstun-

den spätestens innerhalb von 2 Monaten nach

Fälligkeit,

...

c) Ansprüche aus Eingruppierung oder Einstu-

fung in andere Gehalts- und Lohngruppen so-

wie alle sonstigen Ansprüche aus dem Ar-

beitsverhältnis spätestens innerhalb von 6

Monaten nach Fälligkeit.

2. Bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses kön-

nen alle aus dem Arbeitsverhältnis entstan-

denen Ansprüche nur innerhalb von 2 Monaten

nach der Auflösung und rückwirkend nur für

die in Absatz 1 genannten Ausschlußfristen

geltend gemacht werden.

3. Die Ansprüche aus den Ziffern 1 a, 1 b und

2 sind schriftlich anzumelden.

.....

5. Die Ausschlußfristen gelten nicht für An-

sprüche aus strafbarer Handlung.

Die Klägerin zahlte der Beklagten versehentlich auch noch in den Monaten Januar und Februar 1989 jeweils 700,70 DM, insgesamt also 1.401,40 DM. Mit ihrer der Beklagten am 12. Dezember 1989 zugestellten Klage verlangt die Klägerin Rückzahlung dieses Betrages. Sie hat vorgetragen: Sie habe die Beklagte mit Schreiben vom 22. Mai 1989 unter Fristsetzung bis zum 3. Juni 1989 zur Rückzahlung aufgefordert. § 20 Nr. 2 MTV sei nicht anwendbar, da der Rückforderungsanspruch zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht entstanden gewesen sei. Eine Lücke im Tarifvertrag liege nicht vor. Im übrigen sei die Berufung der Beklagten auf die Ausschlußfrist treuwidrig, da diese ihrer Verpflichtung, ihrem früheren Arbeitgeber die Überzahlung mitzuteilen, nicht nachgekommen sei.

Die Klägerin hat, soweit noch von Interesse, beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.401,40 DM

nebst Zinsen zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, § 20 Nr. 2 MTV sei auch auf die Klageforderung anwendbar. Aus der Tarifvertragssystematik ergebe sich, daß die Tarifpartner alle Ansprüche der Arbeitsvertragsparteien hätten erfassen wollen. Allenfalls handele es sich um eine Lücke im Tarifvertrag. Diese müsse dann durch ergänzende Auslegung dahin geschlossen werden, daß die Zwei-Monats-Frist des § 20 Nr. 2 MTV im Streitfall ab Entstehung des Rückzahlungsanspruchs zu laufen beginne.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihr Ziel der Klageabweisung weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Der Anspruch der Klägerin auf Rückzahlung der Summe von 1.401,40 DM ergibt sich aus § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB, da die Zahlung der beiden Teilbeträge von je 700,70 DM netto rechtsgrundlos erfolgte. Dieser Anspruch ist nicht nach § 20 des Manteltarifvertrages für den Hamburger Einzelhandel verfallen.

I. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Da das Arbeitsverhältnis bereits am 31. Dezember 1988 geendet habe, handele es sich nicht um einen "Anspruch aus bestehendem Arbeitsverhältnis" im Sinne von § 20 Nr. 1 MTV. Da die zurückverlangten Überzahlungen erst nach diesem Zeitpunkt geleistet worden seien, liege auch kein "aus dem Arbeitsverhältnis entstandener Anspruch" im Sinne von § 20 Nr. 2 MTV vor. Der Rückzahlungsanspruch der Klägerin habe seinen Ursprung nicht in dem beendeten Arbeitsverhältnis, sondern in Leistungen danach außerhalb des Arbeitsverhältnisses. § 20 Nr. 2 MTV könne nicht dahin ausgelegt werden, daß davon alle bereits entstandenen und noch entstehenden, bekannten und unbekannten Ansprüche erfaßt sein sollten. Selbst wenn dies der Wille der Tarifvertragsparteien gewesen sei, habe dieser im Wortlaut der Bestimmung keinen Niederschlag gefunden. Auch eine ergänzende Tarifauslegung komme nicht in Betracht. Es seien nämlich keine Anhaltspunkte dafür gegeben, daß die Tarifvertragsparteien die Absicht gehabt hätten, für erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehende Ansprüche eine Ausschlußfrist vorzusehen. Im Hinblick auf den Grundsatz, daß Ausschlußfristen eng auszulegen sind, sei es geboten, dem im Wortlaut der Bestimmung zum Ausdruck kommenden Willen der Tarifvertragsparteien Rechnung zu tragen, daß nur die Ansprüche unter die Ausschlußfristen fallen sollten, die aus dem Arbeitsverhältnis entstanden seien.

II. Dem ist im Ergebnis und im wesentlichen auch in der Begründung zu folgen. § 20 MTV unterscheidet - wie zahlreiche andere Tarifverträge - zwischen Ansprüchen aus bestehendem und solchen aus nicht mehr bestehendem Arbeitsverhältnis. Für erstere gibt es nach § 20 Nr. 1 lit. a) bis c) MTV drei verschieden lange Ausschlußfristen, die mit der Fälligkeit bzw. mit dem Ablauf des Kalenderjahres beginnen. Für die Ansprüche aus beendetem Arbeitsverhältnis gilt nach § 20 Nr. 2 MTV eine zweimonatige Ausschlußfrist, die "nach der Auflösung" des Arbeitsverhältnisses beginnt.

1. Wie die Vorinstanzen zutreffend erkannt haben, ist § 20 Nr. 1 MTV auf den Streitfall schon deshalb nicht anwendbar, weil das Arbeitsverhältnis der Parteien zur Zeit der Geltendmachung (Anmeldung) der Forderung nicht mehr bestand. Die Formulierung in § 20 Nr. 1 lit. c) MTV ("alle sonstigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis") ändert daran nichts.

Allerdings gelten nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Ausschlußfristen, die "Ansprüche aus Arbeitsverträgen" oder "Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis" erfassen, auch für Ansprüche des Arbeitgebers auf Rückzahlung überzahlten Arbeitsentgelts (Urteile des Senats vom 26. April 1978 - 5 AZR 62/77 - AP Nr. 64 zu § 4 TVG Ausschlußfristen; vom 28. Februar 1979 - 5 AZR 728/77 - AP Nr. 6 zu § 70 BAT), und zwar unabhängig davon, ob die Rückzahlungsansprüche aus Überzahlungen während oder aus solchen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses herrühren (BAG Urteil vom 11. Juni 1980 - 4 AZR 443/78 - AP Nr. 7 zu § 70 BAT). Diese Rechtsprechung ist aber im vorliegenden Fall nicht heranzuziehen, da es bei § 20 Nr. 1 MTV nach der Tarifsystematik in erster Linie auf die Auslegung des Oberbegriffes "Ansprüche aus bestehenden Arbeitsverhältnissen" ankommt und erst in diesem Rahmen auf die Auslegung des von § 20 Nr. 1 lit. c) MTV verwandten Begriffes "alle sonstigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis". Der Begriff "Ansprüche aus bestehenden Arbeitsverhältnissen" wird durch lit. c) nicht erweitert.

2. Auch § 20 Nr. 2 MTV erfaßt Rückforderungen wegen Überzahlung nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht.

a) Die Tarifvertragsparteien haben bei der Formulierung dieser Ausschlußklausel an Ansprüche dieser Art offenbar nicht gedacht. Dies ergibt sich bereits daraus, daß die Ausschlußfrist mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses beginnt. Eine solche Ausschlußfrist kann - worauf bereits das Arbeitsgericht zutreffend hingewiesen hat - auf Ansprüche, die erst nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses und möglicherweise erst nach Ablauf der Zwei-Monats-Frist entstehen oder bezifferbar werden, sinnvollerweise so nicht angewandt werden (vgl. nur BAG Urteil vom 17. Oktober 1974 - 3 AZR 4/74 - AP Nr. 55 zu § 4 TVG Ausschlußfristen, zu 2 und 3 der Gründe). Die Tarifvertragsparteien hatten erkennbar nur die Ansprüche vor Augen, die bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses bereits entstanden waren.

b) § 20 Nr. 2 MTV enthält folglich eine Lücke. Diese Tariflücke kann aber nicht durch eine ergänzende Vertragsauslegung geschlossen werden.

Eine richterliche Ausfüllung von Tariflücken durch ergänzende Tarifvertragsauslegung kommt - anders als bei Gesetzesrecht - nur bei verdeckten (unbewußten) Lücken in Betracht, nicht aber bei offenen (bewußten) Lücken (BAG Urteil vom 13. Juni 1973 - 4 AZR 445/72 - AP Nr. 123 zu § 1 TVG Auslegung; Urteile des erkennenden Senats vom 13. Oktober 1982, BAGE 40, 228, 236 (insoweit in AP Nr. 3 zu § 76 ArbGG 1979 nicht abgedruckt) und BAGE 54, 30 = AP Nr. 1 zu § 42 MTB II). Voraussetzung dafür ist jedoch, daß aus den tariflichen Bestimmungen der Wille der Tarifvertragsparteien erkennbar wird, für den angegebenen räumlichen, persönlichen, fachlichen oder betrieblichen Geltungsbereich eine abschließende Regelung zu schaffen (BAG Urteile vom 13. Juni 1973 und vom 13. Oktober 1982, aaO). Ist dies nicht der Fall oder bestehen keine sicheren Anhaltspunkte dafür, welche Regelung die Tarifvertragsparteien getroffen hätten, so kommt eine richterliche Ausfüllung der Tariflücke nicht in Betracht. Denn die Gerichte für Arbeitssachen sind nicht befugt, in die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien korrigierend und ergänzend einzugreifen und eine Aufgabe zu übernehmen, die das Grundgesetz (Art. 9 Abs. 3 GG) allein den Tarifvertragsparteien zugewiesen hat (BAG Urteil vom 13. Juni 1973, aaO, sowie Urteile vom 24. Mai 1978 - 4 AZR 769/76 - AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; vom 23. September 1981, BAGE 36, 218, 225 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer, Dozenten; BAGE 54, 30 = AP, aaO).

Eine ergänzende Tarifvertragsauslegung ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts grundsätzlich auch bei Ausschlußfristen möglich (Urteil vom 17. Oktober 1974 - 3 AZR 4/74 - AP Nr. 55 zu § 4 TVG Ausschlußfristen; vgl. auch Urteil vom 18. Januar 1969 - 3 AZR 451/67 - AP Nr. 41 zu § 4 TVG Ausschluß fristen). Dabei ist jedoch der allgemein anerkannte Grundsatz zu berücksichtigen, daß Ausschlußfristen wegen der Schwere der mit ihrer Versäumung verbundenen Folgen (Anspruchsverlust) eng auszulegen sind (BAG Urteil vom 17. Mai 1958 - 2 AZR 312/57 - AP Nr. 10 zu § 611 BGB Lohnanspruch; Urteile vom 27. März 1958 - 2 AZR 367/57 - und - 2 AZR 221/56 - AP Nr. 4, 5 zu § 670 BGB; vgl. auch RAG 17, 229, 232 = ARS 28, 56, 59). Das bedeutet: Eine den Anwendungsbereich der Ausschlußfristen erweiternde ergänzende Tarifvertragsauslegung kommt nur dann in Betracht, wenn der Wille der Tarifvertragsparteien zur Schaffung einer abschließenden Regelung für die Tarifunterworfenen klar erkennbar ist.

Das war bei den vom Bundesarbeitsgericht bislang entschiedenen Fällen (Urteile vom 17. Oktober 1974 und vom 18. Januar 1969, aaO) zu bejahen. Die dort zu beurteilenden Ausschlußklauseln lauteten jeweils, daß im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses "alle Ansprüche beider (Arbeits)Vertragsparteien" binnen einer bestimmten Frist nach tatsächlicher Beendigung geltend zu machen waren. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Tarifverträge ergänzend dahin ausgelegt, daß der Lauf der Ausschlußfrist für solche Ansprüche, die erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses entstehen oder beziffert werden können, erst beginnt, wenn diese fällig und bezifferbar geworden sind.

Diese Rechtsprechung kann auf § 20 Nr. 2 des Manteltarifvertrages für den Hamburger Einzelhandel vom 26. April 1985 nicht übertragen werden. Für den Willen der Tarifvertragsparteien, eine abschließende Regelung zu schaffen, gibt es zwar Anhaltspunkte. Wie sich aus der in § 20 Nr. 1 lit. c) MTV gewählten Formulierung ("alle sonstigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis") ergibt, wollten die Tarifvertragsparteien die "Ansprüche aus bestehenden Arbeitsverhältnissen" vollständig erfassen. Es liegt daher nahe, daß sie dies auch für die Ansprüche "bei Auflösung des Arbeitsverhältnisses" tun wollten, wofür auch die in § 20 Nr. 2 MTV enthaltene - unklare - Formulierung ("rückwirkend nur für die in Abs. 1 genannten Ausschlußfristen") sprechen mag. Es bleiben aber erhebliche Zweifel. Diese ergeben sich insbesondere aus der vergangenheitsbezogenen Formulierung "aus dem Arbeitsverhältnis e n t s t a n d e n e Ansprüche".

Das für die ergänzende Auslegung von tarifvertraglichen Ausschlußfristen erforderliche Maß an Klarheit über den Willen der Tarifvertragsparteien zur Schaffung einer vollständigen Regelung ist damit nicht erreicht. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß Rückzahlungsansprüche, die auf Gehaltsüberzahlungen nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses beruhen, von § 20 Nr. 2 MTV nicht erfaßt werden.

Dr. Gehring Dr. Reineke Dr. Müller-Glöge

Dr. Florack Blank-Abel

 

Fundstellen

Haufe-Index 440373

DB 1992, 1095-1096 (LT1)

AiB 1992, 110-111 (LT1)

NZA 1992, 231

NZA 1992, 231-232 (LT1)

RdA 1992, 62

ZTR 1992, 110 (LT1)

AP § 4 TVG Ausschlußfristen (LT1), Nr 113

EzA § 4 TVG Ausschlußfristen, Nr 92 (LT1)

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