Entscheidungsstichwort (Thema)

Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: 80% oder 100%

 

Tenor

1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des

Landesarbeitsgerichts Köln vom 20. Mai 1998 - 8 (9) Sa 80/98 -

wird zurückgewiesen.

2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Der Kläger war seit 1986 bei der W GmbH & Co. als EDV-Sachbearbeiter beschäftigt. Im schriftlichen Arbeitsvertrag wurde u.a. vereinbart:

Für die Arbeitsbedingungen gelten, soweit sich nach der Natur des

Arbeitsverhältnisses und den Bestimmungen dieses Vertrages nichts

anderes ergibt, die jeweiligen Tarifverträge der Papierindustrie

sowie evtl. Betriebsvereinbarungen und Arbeitsordnungen der

Arbeitsstätte, in welcher der Arbeitnehmer eingesetzt wird. Sie

sind für beide Teile bindend und können zusammen mit den

einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen beim Arbeitgeber im

Personalbüro/am Schwarzen Brett eingesehen werden.

Die W GmbH & Co. gehörte dem Arbeitgeberverband der Papierindustrie an. Der Manteltarifvertrag für die Arbeitnehmer der Papierindustrie in der Bundesrepublik Deutschland in der Fassung vom 6. Januar 1995 regelt in § 21 Nr. 1:

Bei Erkrankung, die mit Arbeitsunfähigkeit verbunden ist, gelten

die gesetzlichen Bestimmungen.

Im September 1996 ging der Betriebsteil "Autoteile", in dem der Kläger beschäftigt war, im Wege eines Teilbetriebsübergangs auf die Beklagte über. Der Kläger wurde als Arbeitnehmer übernommen. Die Beklagte gehört keinem Arbeitgeberverband an.

Der Kläger war im März und im Juni 1997 arbeitsunfähig krank. Die Beklagte leistete ihm Entgeltfortzahlung auf der Basis von 80 %. Mit der Klage verlangt der Kläger die Differenz von 20 % in Höhe von 389,00 DM brutto und 972,00 DM brutto. Er hat die Auffassung vertreten, ihm stehe Entgeltfortzahlung in voller Höhe zu. Dies ergebe sich sowohl aus dem Manteltarifvertrag der Papierindustrie vom 7. Februar 1997 als auch aus dem ab dem 1. Januar 1997 geltenden Manteltarifvertrag der chemischen Industrie, der wegen der Branchenzugehörigkeit der Beklagten anzuwenden sei.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn einen Betrag in Höhe von

389,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden

Nettobetrag seit 27. Juni 1997 zu zahlen und einen weiteren Betrag

in Höhe von 972,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich

ergebenden Nettobetrag seit 11. Juli 1997 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, die Tarifverträge der Papierindustrie seien lediglich in der zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs geltenden Fassung anzuwenden. Danach sei eine 100 %ige Entgeltfortzahlung tariflich nicht vorgesehen gewesen. Die arbeitsvertragliche Bezugnahmeklausel habe lediglich die Gleichbehandlung nicht tarifgebundener und tarifgebundener Arbeitnehmer bezweckt. Dieser Zweck sei nicht mehr erreichbar, weil in ihrem Betrieb kraft Tarifbindung kein Tarifvertrag Anwendung finde. Sie gehöre weder zur Branche der Papierindustrie noch zur Branche der chemischen Industrie.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung der Beklagten die Klage abgewiesen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen. Dem Kläger steht für März und Juni 1997 kein über 80 % hinausgehender Entgeltfortzahlungsanspruch zu. Den gesetzlichen Entgeltfortzahlungsanspruch hat die Beklagte erfüllt. Ein weitergehender arbeitsvertraglicher oder tarifvertraglicher Entgeltfortzahlungsanspruch im Krankheitsfall ist nicht gegeben.

I. Mangels Tarifbindung der Beklagten findet kein Tarifvertrag kraft normativer Bindung der Parteien Anwendung.

II. Kraft § 613 a Abs. 1 Satz 2 BGB finden weder die Tarifregelungen der Papierindustrie in der Fassung vom 7. Februar 1997 noch die der chemischen Industrie in der ab dem 1. Januar 1997 geltenden Fassung Anwendung. Die arbeitsvertragliche Bindung des Betriebsübernehmers an die Normen der beim alten Betriebsinhaber anwendbaren Tarifverträge für die Dauer eines Jahres nach Betriebsübergang umfaßt allein die zur Zeit des Betriebsübergangs geltenden Tarifnormen (BAG Urteil vom 13. November 1985 - 4 AZR 309/84 - BAGE 50, 158 = AP BGB § 613 a Nr. 46; ErfK/Preis BGB § 613 a Rn. 71). Der im September 1996 geltende Manteltarifvertrag der Papierindustrie in der Fassung vom 6. Januar 1995 sah keine Entgeltfortzahlungsregelung in Höhe von 100 % vor, sondern verwies auf die gesetzliche Regelung. Die heutige tarifliche Regelung wurde erst mit Wirkung ab dem 1. Februar 1997 eingeführt.

III. Die seit dem 1. Februar 1997 geltende Tarifregelung der Papierindustrie ist nicht kraft der in Ziff. 5 des Arbeitsvertrages getroffenen Regelung schuldrechtlich anzuwenden.

1. Das Landesarbeitsgericht hat die im Arbeitsvertrag getroffene Abrede dahingehend ausgelegt, daß die in Bezug genommenen "jeweiligen Tarifverträge ... der Papierindustrie " nicht unabhängig von der Tarifbindung der Arbeitgeberin zum Vertragsinhalt geworden sind, sondern die Parteien des Arbeitsvertrages eine sogenannte Gleichstellungsabrede getroffen haben. Danach soll die vertragliche Bezugnahme eine Gleichstellung der nicht organisierten mit den tarifgebundenen Arbeitnehmern bewirken. Ohne die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft überprüfen zu müssen, soll der Arbeitgeber jeweils den Tarifvertrag anwenden können, an den er im Sinne des Tarifvertragsrechts gebunden ist.

2. Diese Vertragsauslegung des Landesarbeitsgerichts hält der revisionsrechtlichen Prüfung stand.

a) Das Landesarbeitsgericht hat die von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts entwickelte Regel über die Auslegung einzelvertraglicher Bezugnahmeklauseln zutreffend wiedergegeben (vgl. dazu nur BAG Urteil vom 4. September 1996 - 4 AZR 135/95 - BAGE 84, 97 = AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 5, m.w.N. zur früheren Rechtsprechung). Diese Auslegungsregel hat im Schrifttum nahezu ungeteilte Zustimmung gefunden (vgl. ErfK/Preis BGB § 613 a Rn. 81; Säcker/Oetker ZfA 1993, 1, 14 f.; Hanau/Kania, Festschrift Schaub (1998), S. 239, 245 ff.; Gaul NZA 1998, 9, 17; Wellenhofer-Klein ZfA 1999, 239, 251). Die Bezugnahme soll widerspiegeln, was tarifrechtlich gilt. Sie ersetzt lediglich die fehlende Mitgliedschaft des Arbeitnehmers in der tarifschließenden Gewerkschaft und stellt ihn so, als wäre er tarifgebunden (Löwisch/Rieble, Festschrift Schaub (1998), S. 457, 467). Hiervon abzuweichen besteht keine Veranlassung. Insbesondere gebietet es die Unklarheitenregelung (vgl. § 5 AGBG) nicht, Bezugnahmeklauseln im Zweifel anders auszulegen. Zur Zeit des Vertragsschlusses ist es vollkommen offen, welche Auslegung dem Verwender des vorformulierten Arbeitsvertragstextes günstiger oder ungünstiger ist, denn wegen der zukünftig offenen Tarifentwicklung kann dies nicht vorhergesagt werden. Demgegenüber vermeidet die von der Rechtsprechung entwickelte Auslegungsregel von vornherein die Entstehung von Unklarheiten und gibt der Vertragsauslegung die notwendige Verläßlichkeit.

b) Das Landesarbeitsgericht hat die vorgetragenen tatsächlichen Umstände, die bei der Auslegung der Vertragsklausel bestimmend sein können, in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise berücksichtigt. Es hat zutreffend gewürdigt, daß die Rechtsvorgängerin der Beklagten kraft Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband tarifgebunden war und in ihrem Unternehmen einheitlich die Tarifverträge der Papierindustrie anwendete. Es hat auch dem Wortlaut des Vertrages keine Anhaltspunkte entnehmen können, die auf einen über die Gleichstellung aller Arbeitnehmer hinausgehenden Regelungswillen der Vertragsparteien hindeuteten. Auch in der Revision hat der Kläger keine Umstände aufzeigen können, die belegten, die vertragliche Bezugnahme habe schuldrechtlich eine weitergehende Tarifgeltung bewirken sollen als in der Beziehung zwischen den nach § 3 TVG tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien.

3. Ist somit arbeitsvertraglich vereinbart, daß jeweils die kraft Tarifbindung des Arbeitgebers anwendbaren Tarifverträge Inhalt des Arbeitsvertrages sein sollen, findet weder der ab 1. Februar 1997 geltende Tarifvertrag für die Papierindustrie noch der ab 1. Januar 1997 geltende Tarifvertrag für die chemische Industrie im Verhältnis der Parteien dieses Rechtsstreits Anwendung. Die Beklagte ist an keinen dieser beiden Tarifverträge gebunden, so daß die arbeitsvertraglich vereinbarte Gleichstellung des Klägers mit tarifgebundenen Arbeitnehmern inhaltlich nicht ausgefüllt werden kann. Solange die Beklagte nicht tarifgebunden ist, bleibt die Bezugnahmeklausel ohne materiell-rechtliche Bedeutung. Der Zweck der vertraglichen Gleichstellung der nicht organisierten mit den organisierten Arbeitnehmern kann nicht mehr erreicht werden. Zwischen den Parteien gelten ausschließlich die gesetzlichen Entgeltfortzahlungsregelungen.

Griebeling Müller-Glöge Kreft

Heel Reinders

 

Fundstellen

Dokument-Index HI610978

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