Entscheidungsstichwort (Thema)

Eingruppierung als Lagerarbeiter

 

Orientierungssatz

1. Eingruppierung einer Kommissioniererin als Lagerarbeiter nach Lohngruppe II Lohnstaffel a des Lohntarifvertrages für den Einzelhandels in Nordrhein-Westfalen.

2. Bedeutung von Tätigkeitsbeispielen als "Richtbeispiele".

 

Normenkette

TVG § 1

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Entscheidung vom 31.01.1984; Aktenzeichen 11 Sa 1666/83)

ArbG Oberhausen (Entscheidung vom 23.08.1983; Aktenzeichen 2 Ca 2105/82)

 

Tatbestand

Die Klägerin ist bei der Beklagten, einem Lebensmittel-Filialbetrieb, in dem Zentrallager M als gewerbliche Arbeitnehmerin beschäftigt. Beide Parteien gehören den tarifschließenden Verbänden für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen an. Die Klägerin erhält Lohn nach Lohngruppe II Lohnstaffel a) des Lohntarifvertrags für den Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen (LTV) zuzüglich einer übertariflichen Zulage.

Der Klägerin obliegt es, die von den Filialen bestellten Zigaretten zu kommissionieren. Der Lagerbereich für die Zigaretten ist vom übrigen Lagerbereich, in dem ausschließlich männliche Arbeitskräfte die Kommissionsarbeiten erledigen, abgegrenzt. Die Klägerin packt auf eine Palette leere Kartons, die sie entsprechend der Bestellung mit Zigarettenstangen füllt. Bei Bestellungen von mehr als 20 Bestelleinheiten packt sie auch volle Kartons auf die Palette. Die beladene Palette transportiert sie mit einem Handwagen, der sogenannten Handschildkröte, zum Warenplatz und stellt ihn dort ab. Die für ihren Kommissionsbereich angelieferten Zigarettenkartons lagert die Klägerin ein. Für einzulagernde Paletten benutzt sie hierzu einen Gabelhubstapler. Einzelne Kartons lagert sie von Hand ein.

Die Klägerin meint, ihr stehe Lohn nach Lohngruppe II Lohnstaffel b) LTV zu, da sie als Lagerarbeiterin tätig sei. Ihre männlichen Kollegen, die im übrigen Lagerbereich kommissionierten, erhielten Lohn nach dieser Lohnstaffel. Da sie die gleiche Tätigkeit wie ihre männlichen Kollegen ausübe, sei eine unterschiedliche Entlohnung nicht gerechtfertigt.

Mit der Klage begehrt die Klägerin für die Zeit von April 1982 bis September 1982 die Lohndifferenz zwischen dem tatsächlich von der Beklagten gezahlten Lohn und dem begehrten Tariflohn in der rechnerisch unstreitigen Höhe von DM 882,-- brutto. Ferner begehrt sie die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten, an die Klägerin Lohn nach Lohngruppe II Lohnstaffel b) LTV zu zahlen.

Die Klägerin hat demgemäß beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klä-

gerin DM 882,-- brutto nebst 4 % Zinsen

seit Rechtshängigkeit (23. November 1982)

zu zahlen,

2. festzustellen, daß die Beklagte verpflich-

tet ist, die Klägerin ab 1. Oktober 1982

in der Lohngruppe II Lohnstaffel b) des

gültigen Gehalts- und Lohntarifvertrags

für den Einzelhandel, Geltungsbereich NW,

zu vergüten.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen, als Kommissioniererin könne die Klägerin nur dann nach Lohngruppe II Lohnstaffel b) LTV eingruppiert werden, wenn ihre Tätigkeit in der Regel körperlich schweres Arbeiten erfordere. Diese Voraussetzung des Tätigkeitsmerkmals der Lohngruppe II Lohnstaffel b) LTV werde von der Klägerin nicht erfüllt, während ihre männlichen Kollegen solche schwere Arbeiten verrichten müßten. Als Kommissioniererin sei die Klägerin kein Lagerarbeiter im tariflichen Sinne.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben.

Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Klägerin beantragt Zurückweisung der Revision unter Beschränkung des Zinsanspruchs auf den Nettobetrag.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage mit Recht stattgegeben. Die Beklagte ist verpflichtet, an die Klägerin für die Zeit von April bis September 1982 DM 882,-- brutto nebst Zinsen zu zahlen und die Klägerin ab Oktober 1982 nach Lohngruppe II Lohnstaffel b) des Lohntarifvertrags für den Einzelhandel NW zu vergüten. Denn die Klägerin erfüllt die Tätigkeitsmerkmale dieser Lohngruppe.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit der Manteltarifvertrag für den Einzelhandel Nordrhein-Westfalen vom 13. Dezember 1980 (MTV) sowie die jeweils geltenden Lohntarifverträge für den Einzelhandel Nordrhein-Westfalen (LTV) mit unmittelbarer und zwingender Wirkung Anwendung (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG). Für die Eingruppierung ist § 8 Abs. 1 MTV maßgebend, der lautet:

"Die Festsetzung der Gehälter und Löhne er-

folgt in einer besonderen tariflichen Rege-

lung. Der Arbeitnehmer wird in die seiner

überwiegend ausgeübten Tätigkeit entspre-

chende Gehalts- oder Lohngruppe eingeord-

net."

Die Klägerin ist bei der Beklagten ausschließlich als Kommissioniererin, d. h. mit dem Heraussuchen von Waren aus einem Lagerbestand nach Auftrag, beschäftigt, wobei das Einräumen der angelieferten Zigaretten und das Wegfahren der kommissionierten Zigaretten zum Warenplatz als Zusammenhangstätigkeiten zur Kommissionstätigkeit der Klägerin gehören. Die Kommissionstätigkeit ist damit die für die Eingruppierung der Klägerin maßgebende Tätigkeit.

Danach sind für die Eingruppierung der Klägerin im Klagezeitraum die Vorschriften des LTV vom 14. April 1982, die ab 1. April 1982 in Kraft waren, heranzuziehen. Für die Eingruppierung der Klägerin sind dabei folgende Bestimmungen des LTV maßgebend:

"§ 2

Lohnregelung

------------

(1) Die gewerblichen Arbeitnehmer sind nach

der von ihnen tatsächlich verrichteten

Tätigkeit in eine der nachstehenden Lohn-

gruppen einzugliedern. Die in den Lohn-

gruppen aufgeführten Beispiele gelten

als Richtbeispiele.

...

(5) Lohngruppe I

------------

...

Lohngruppe II

-------------

Arbeitskräfte für Tätigkeiten, die ohne

handwerkliche Vor- oder Ausbildung ausge-

führt werden, die aber

Lohnstaffel a)

--------------

gewisse Fertigkeiten erfordern

Beispiele:

----------

Abfüller

Abpacker

Abwieger

Etikettierer

Gehilfinnen in Imbißecken, Milchbars usw.

Fahrstuhlführer

Kaffeebeleser

Küchenhilfen

Näher und Näherinnen für einfache Arbeiten

Repassiererinnen

Spülhilfen

Lohnstaffel b)

--------------

in der Regel körperlich schweres Arbeiten

erfordern

Beispiele:

----------

Beifahrer

Büfettkräfte

Fahrer für Elektrokarren

Fahrstuhlführer, die be- und entladen

Heizer, Lagerarbeiter, Packer

Pförtner sowie sonstige Arbeitskräfte,

soweit sie die Voraussetzungen der Lohn-

gruppe III nicht erfüllen."

Der Aufbau der Lohngruppen des LTV entspricht dem Aufbau von Vergütungsgruppen in vielen anderen Tarifverträgen, insbesondere des Einzelhandels und Großhandels (vgl. BAG 45, 121, 125 = AP Nr. 134 zu § 1 TVG Auslegung; BAG Urteil vom 7. November 1984 - 4 AZR 286/83 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen; BAG Urteil vom 20. Juni 1984 - 4 AZR 208/82 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen). Danach sind den einzelnen Lohngruppen allgemeine Tätigkeitsmerkmale zugeordnet, die durch Beispiele erläutert werden. Hierzu hat der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß bei Vergütungsgruppen, in denen allgemein gefaßten Tätigkeitsmerkmalen konkrete Beispiele beigefügt sind, die Erfordernisse der Vergütungsmerkmale regelmäßig dann erfüllt sind, wenn der Arbeitnehmer eine den Beispielen entsprechende Tätigkeit auszuüben hat (BAG 45, 121, 125 f. = AP Nr. 134 zu § 1 TVG Auslegung mit weiteren Nachweisen). Auf die allgemeinen Tätigkeitsbeispiele muß nur zurückgegriffen werden, wenn das Tätigkeitsbeispiel unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, die nicht aus sich heraus ausgelegt werden können, wenn dasselbe Tätigkeitsbeispiel in mehreren Beschäftigungs- oder Vergütungsgruppen auftaucht und damit als Kriterium für eine bestimmte Beschäftigungsgruppe ausscheidet, oder wenn es um eine Tätigkeit geht, die in den tariflichen Tätigkeitsbeispielen nicht aufgeführt ist (BAG 45, 121, 126 = AP Nr. 134 zu § 1 TVG Auslegung; BAG Urteil vom 7. November 1984 - 4 AZR 286/83 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen).

An dieser Rechtsprechung ist aus Gründen der Rechtsklarheit und Praktikabilität festzuhalten. Sie kann auch auf den vorliegenden LTV angewendet werden, weil auch hier bei den einzelnen Lohngruppen allgemein gefaßten Tätigkeitsmerkmalen konkrete Beispiele zugeordnet sind. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann aus dem Begriff der "Richtbeispiele" in § 2 Abs. 1 LTV nicht entnommen werden, daß für die Eingruppierung nicht die Beispiele, sondern allein die Oberbegriffe maßgebend sein sollen. Das Gegenteil ist richtig. Mit dem Begriff der "Richtbeispiele" haben die Tarifvertragsparteien deutlich zum Ausdruck gebracht, daß diese Beispiele typisch für die betreffende Lohngruppe sind und damit eine den Beispielen entsprechende Tätigkeit die Vergütungsmerkmale der betreffenden Lohngruppe erfüllt. Darüber hinaus bringen die Tarifvertragsparteien mit dem Begriff der "Richtbeispiele" zum Ausdruck, daß bei Tätigkeiten, die in den tariflichen Tätigkeitsbeispielen nicht aufgeführt sind und die deshalb nach den allgemeinen Tätigkeitsmerkmalen zu bewerten sind, die Tätigkeitsbeispiele als Richtlinie für die Bewertung mitzuberücksichtigen sind. Richtbeispiele sind danach Richtlinien für die Auslegung der Oberbegriffe ihrer Lohngruppe. Auch das stimmt mit der Senatsrechtsprechung überein, wobei der Senat die Tätigkeitsbeispiele als Richtlinie für die Bewertung nach den allgemeinen Tätigkeitsmerkmalen sogar auch dann mit berücksichtigt hat, wenn die Tätigkeitsbeispiele nicht ausdrücklich als "Richtbeispiele" bezeichnet worden sind. Denn die Eigenschaft der Tätigkeitsbeispiele als Richtlinie für die Bewertung nach den allgemeinen Tätigkeitsmerkmalen ergibt sich in aller Regel aus dem Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelung (vgl. BAG 45, 121, 126 = AP Nr. 134 zu § 1 TVG Auslegung).

Nach diesen Grundsätzen wird die Tätigkeit der Klägerin von dem Tätigkeitsbeispiel "Lagerarbeiter" in der Lohnstaffel b) der Lohngruppe II LTV erfaßt. Der Begriff des Lagerarbeiters ist aus sich heraus auslegbar, enthält keinen unbestimmten Rechtsbegriff und kehrt auch in keiner anderen Lohnstaffel als Tätigkeitsbeispiel wieder. Damit ist grundsätzlich derjenige, der als Lagerarbeiter anzusehen ist, in Lohngruppe II Lohnstaffel b) LTV eingruppiert.

Unter einem Lagerarbeiter ist ein gewerblicher Arbeitnehmer (Arbeiter) zu verstehen, der in einem Warenlager arbeitet. Dies entspricht der Bedeutung des Wortes in der Kaufmannssprache, d. h. in der spezifischen Sparte des Handels - sei es Einzelhandels oder Großhandels -, in der die Klägerin tätig ist (vgl. Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Bd. 4, 1982, S. 380, 381). Diese Voraussetzungen werden von der Klägerin erfüllt. Die Klägerin übt eine vorwiegend körperlich-mechanische Arbeit aus und ist damit nach der Verkehrsanschauung gewerbliche Arbeitnehmerin und Arbeiterin, wovon auch die Parteien übereinstimmend ausgehen. Sie ist ferner in einem Warenlager beschäftigt und folglich auch Lagerarbeiterin. Wenn die Revision demgegenüber darauf hinweist, daß die Klägerin Kommissioniererin sei, schließt das eine Tätigkeit als Lagerarbeiter nicht aus. Kommissionierer sind üblicherweise Lagerarbeiter, da sie aus einem Warenlager bestellte Waren für Kunden heraussuchen und zusammenstellen müssen. Demgemäß hat auch der Senat in seinem Urteil vom 20. Juni 1984 (- 4 AZR 208/82 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen) ausgeführt, daß die Klägerin jenes Rechtsstreits "als Arbeiterin mit Kommissionierungsaufgaben tätig" sei.

Der Beklagten ist einzuräumen, daß in den Lohnstaffeln a) und c) der Lohngruppe II, aber auch in der Lohnstaffel zur Lohngruppe I und der Lohnstaffel c) der Lohngruppe III LTV Tätigkeiten aufgeführt sind, die ebenfalls üblicherweise oder gelegentlich von gewerblichen Arbeitnehmern in einem Warenlager ausgeübt werden, so daß auch diese Arbeitnehmer insoweit als "Lagerarbeiter" zu qualifizieren sind, z. B. Abfüller, Abpacker, Abwieger und Etikettierer (Lohnstaffel a) der Lohngruppe II LTV), Handelsfachpacker, Hubstaplerfahrer und Möbel-Fachpacker (Lohnstaffel c) der Lohngruppe II LTV), Raumpflegerinnen (Lohngruppe I LTV) sowie Handwerker (Lohnstaffel c) der Lohngruppe III LTV). Daraus folgt jedoch nicht, daß die gleiche Tätigkeit eines Lagerarbeiters in mehreren Lohnstaffeln aufgeführt ist und deshalb für die Eingruppierung auf die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale zurückgegriffen werden müßte. Vielmehr handelt es sich bei den angeführten Tätigkeiten um spezielle Tätigkeiten, die auch in einem Lager ausgeübt werden können. Nach dem Grundsatz der Spezialität, der auch bei der Tarifauslegung gilt (vgl. Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl. 1977, § 4 Rz 165), gehen die speziellen Tätigkeitsbeispiele dem allgemeineren Tätigkeitsbeispiel "Lagerarbeiter" vor. Arbeitnehmer, die ein spezielles Tätigkeitsbeispiel einer Lohnstaffel erfüllen, sind nach dieser Lohnstaffel eingruppiert und können daher nicht ihre Eingruppierung als "Lagerarbeiter" verlangen. Enthielte z. B. eine Lohnstaffel des LTV das spezielle Tätigkeitsbeispiel Kommissionierer, wie es in anderen Tarifverträgen vorgesehen ist (vgl. BAG Urteil vom 20. Juni 1984 - 4 AZR 208/82 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen), wäre die Klägerin nach der entsprechenden Lohnstaffel einzugruppieren. Der LTV enthält jedoch nicht das spezielle Tätigkeitsbeispiel "Kommissionierer". Das bedeutet, daß alle Lagerarbeiter, die nicht mit speziellen Tätigkeiten in einer Lohnstaffel des LTV aufgeführt sind, in die Lohnstaffel b) der Lohngruppe II LTV eingruppiert sind. Der Begriff "Lagerarbeiter" in der Lohnstaffel b) der Lohngruppe II LTV bedeutet damit praktisch "Lagerarbeiter, soweit nicht anders eingruppiert".

Ist danach die Klägerin - weil sie kein spezielles Tätigkeitsbeispiel der anderen Lohnstaffeln erfüllt - als Lagerarbeiterin im Sinne der Lohnstaffel b) der Lohngruppe II LTV anzusehen, kommt es nicht mehr darauf an, ob ihre Tätigkeit in der Regel körperlich schweres Arbeiten im Sinne des allgemeinen Tätigkeitsmerkmals der Lohnstaffel b) der Lohngruppe II LTV erfordert. Alle diesbezüglichen Ausführungen der Parteien und auch des Arbeitsgerichts sind damit für die Entscheidung nicht mehr erheblich.

Die Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Revision zu tragen.

Dr. Neumann Dr. Feller Dr. Etzel

Gröbing Dr. Koffka

 

Fundstellen

Dokument-Index HI439198

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